Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau auf der Brücke
CHUKWU, wenn man als Schutzgeist den Körper eines Menschen bewohnen soll, der in Umuahia auf die Welt kommt, einer Stadt im Land der großen Väter, ist man zuerst einmal beeindruckt von der endlosen Weite dieses Landes. Während man im wiedergeborenen Körper seines neuen Schützlings auf die Erde hinabsteigt, bietet sich einem ein erstaunlicher Anblick. Als lichte sich ein Urschleier, sieht man sich plötzlich einer unendlich weiten grünen Vegetation gegenüber. Je näher man Umuahia kommt, desto mehr verzaubert einen das Land der Väter: die Hügel, der riesige dichte Ogbuti-ukwu-Wald, ein Wald so alt wie der erste Mensch, der darin jagte. Den frühen Vätern hatte man erklärt, dort fänden sich Spuren der kosmischen Explosion, aus der die Erde hervorging, und dass der Ogbuti-Wald seit Anbeginn der Zeit, als die Erde in Himmel, Wasser, Wald und Land unterteilt wurde, ein eigenes Land war, größer als jedes Gedicht, das über ihn geschrieben wurde. Die Blätter seiner Bäume tragen die Geschichte des Universums in sich. Noch faszinierender sind nur die vielen Gewässer, allen voran das größte von ihnen, der Imo, samt seiner zahlreichen Nebenflüsse.
Der Imo schlängelt sich auf gewundenen Wegen durch den Wald, vergleichbar mit denen menschlicher Adern. In der Stadt strömt er an einer Stelle wie aus einer klaffenden Wunde hervor. Fährt man ein Stück weiter, taucht er wie aus dem Nichts hinter einem Hügel oder aus einer Schlucht auf. Dann fließt er zwischen den Schenkeln des Tals wieder friedlich dahin. Selbst wenn man ihn anfangs nicht sieht, begegnet einem schon kurz hinter Bende in Richtung Umuahia, wenn man durch die Ngwa-Dörfer kommt, das verführerische Antlitz eines ruhigen kleinen Seitenarms. Der Fluss hat seinen festen Platz in den Mythen der Menschen, da Wasser in ihrer Welt das wichtigste Element ist. Flüsse haben für sie etwas Mütterliches, sie können Dinge gebären. Dieser gebar die Stadt Imo. Durch die Nachbarstadt fließt der seinerseits von Legenden umwobene Niger. Vor langer Zeit trat der Niger über seine Grenzen und stieß auf einen anderen Fluss, den Benue, eine Begegnung, die die Geschichte der Menschen und Kulturen an beiden Flüssen für immer veränderte.
Egbunu, die Ereignisse, derentwegen ich heute Abend vor Eurem erleuchtenden Gericht aussage, nahmen vor etwa sieben Jahren am Imo ihren Anfang. Mein Schützling war an jenem Morgen wieder einmal nach Enugu gereist, um auf dem Markt seinen Geflügelbestand aufzustocken. Am Abend zuvor hatte es geregnet, das Wasser war überall - es rann von den Dächern, stand in Schlaglöchern auf der Straße, es tropfte von den Blättern der Bäume und den Spinnweben -, und auf den Gesichtern und Kleidern lag ein leichter Nieselregen. Beschwingt lief er von Stand zu Stand, die Hosenbeine über die Knöchel gekrempelt, damit sie sich nicht mit schmutzigem Wasser vollsogen. Es wimmelte von Menschen, so wie damals zur Zeit der großen Väter, als der Markt noch das Zentrum von allem war. Hier wurden Waren getauscht, Feste gefeiert und Verhandlungen zwischen den Dörfern geführt. Im ganzen Land stand der Schrein Alas, der großen Mutter, normalerweise in der Nähe des Marktes. In der Vorstellung der Väter war es außerdem der Ort, der die Irrgeister anlockte - Akaliogolis, Amosu, Trickster und diverse andere körperlose Wesen. Denn ein Geist ohne Schützling ist auf Erden nichts. Er muss einen Körper bewohnen, um etwas ausrichten zu können. Also sind diese Geister ständig auf der Suche nach einem Gefäß und unersättlich in ihrem Streben nach Leibhaftigkeit. Man sollte ihnen tunlichst aus dem Weg gehen. Einmal sah ich ein solches Wesen aus lauter Verzweiflung in den Körper eines toten Hundes fahren, um das Aas mithilfe alchemistischer Tricks zum Leben zu erwecken. Der Geist ließ das Tier ein paar Schritte vor sich hin trotten und dann tot im Gras liegen. Es war ein schrecklicher Anblick. Deswegen gilt es als unklug, wenn ein Chi den Körper seines Schützlings an einem solchen Ort verlässt oder sich zu weit von ihm entfernt, sobald er schläft oder nicht bei Bewusstsein ist. Einige dieser körperlosen Wesen, vor allem die bösen Geister, versuchen sogar hin und wieder, einen Chi zu überwältigen, sei es im Körper seines Schützlings oder wenn er in dessen Namen unterwegs ist. Genau deshalb warnt Ihr, Chukwu, uns vor solchen Reisen, vor allem nachts! Denn steckt ein fremder Geist erst einmal in einem Menschen, bekommt man ihn nur schwer wieder heraus! Aus diesem Grund gibt es Geisteskranke, Epileptiker, Menschen mit abscheulichen Vorlieben, Menschen, die ihre eigenen Eltern ermorden! Viele von ihnen sind von fremden Geistern besessen, und ihre Chis haben auf einmal kein Zuhause mehr, sie müssen ihrem Schützling hinterherlaufen und - oftmals vergeblich - den Eindringling zur Aufgabe drängen. Ich habe das selbst oft miterlebt.
Als mein Schützling zu seinem Lieferwagen zurückkehrte, trug er in sein großes Notizbuch den Kauf von acht ausgewachsenen Vögeln ein - zwei Hähne und sechs Hennen -, außerdem einen Beutel Hirse, einen halben Beutel Futter und einen Strumpf voll frittierter Termiten. Für einen wollweißen Hahn mit langem, spitz zulaufendem Kamm und plüschigem Federkleid hatte er den doppelten Preis gezahlt. Als der Verkäufer ihm das Tier übergab, schossen ihm Tränen in die Augen. Für einen Moment erschienen ihm der Mann und auch der Vogel in seinen Händen wie eine schillernde Illusion. Der Verkäufer sah ihn sichtlich erstaunt an, wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, warum der Anblick eines Hahnes meinen Schützling so sehr bewegte. Er wusste nicht, dass er es mit einem von Instinkt und Leidenschaft getriebenen Menschen zu tun hatte. Und dass er diesen einen Vogel zum Preis von zweien kaufen wollte, weil er einer jungen Gans ähnelte, die ihm vor vielen Jahren als Kind gehört und die er sehr geliebt hatte, ein Vogel, der sein Leben veränderte.
Ebubedike, nachdem er den kostbaren Hahn erworben hatte, machte sich mein Schützling gut gelaunt auf den Rückweg nach Umuahia. Selbst als er merkte, dass er länger als beabsichtigt in Enugu geblieben war und die Hühner zu Hause auf ihr Futter warteten, trübte das nicht seine Stimmung. Nicht einmal der Gedanke an ihr wütendes Gegacker und Gekrähe, über das sich selbst entfernte Nachbarn beschwerten, beunruhigte ihn. Anders als an anderen Tagen zahlte er bereitwillig seinen Wegzoll, wenn er an einem Polizeiposten vorbeikam. Normalerweise wandte er ein, er habe kein Geld, diesmal jedoch hielt er schon im Voraus ein Bündel Scheine aus dem Fenster, sobald er einen Kontrollpunkt sah, vor dem mit Nägeln bespickte Holzscheite lagen, um den Verkehr zu stoppen.
GAGANAOGWU, mein Schützling fuhr lange über die Dörfer, vorbei an den Hügelgräbern der alten Väter, an fruchtbarem Ackerland und dichtem Busch, während der Himmel sich langsam verdunkelte. Insekten flogen gegen die Windschutzscheibe und zerplatzten wie kleine Trauben, bis die ganze Scheibe verdreckt war. Zweimal musste er anhalten und die matschigen Reste mit dem Lappen wegwischen. Kaum war er wieder unterwegs, prasselten sie erneut auf das Glas. Als er die Stadtgrenze von Umuahia erreichte, war der Tag bereits zur Neige gegangen, und der Schriftzug auf dem verrosteten Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN ABIA, DEM LAND GOTTES war kaum noch zu lesen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, da er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ein Stück vor der Brücke über den Amatu - ein Nebenfluss des großen Imo - hielt er an und blieb hinter einem Laster stehen, dessen Pritsche mit einer Plane abgedeckt war.
Als er den Motor abstellte, hörte er Getrampel auf der Ladefläche. Er kletterte aus dem Wagen und stieg über den Abflussgraben, der die Stadt umgab. Ein paar Straßenverkäufer saßen auf Hockern unter Stoffdächern, Laternen und Kerzen beleuchteten ihre Tische. Er ging von Stand zu Stand und kehrte am Ende mit ein paar Bananen, einer Papaya und einer Tüte Mandarinen zum Wagen zurück.
Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Straße in Dunkelheit gehüllt. Er schaltete das Licht an und fuhr weiter. Im Laderaum gackerten die gerade erworbenen Hühner. Während er seine Bananen aß, kam er an die Brücke. Erst vor einer Woche hatte er gehört, dass der Fluss - mitten in der fruchtbaren Regenzeit - über die Ufer getreten war, dabei seien eine Frau und ihr Kind ertrunken. Normalerweise gab er nicht viel auf solche Geschichten, aber diese hier war ihm aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf gegangen, warum, verstand selbst ich, sein Chi, nicht recht. Während er noch an die Mutter und ihr Kind dachte, entdeckte er in der Mitte der Brücke einen Wagen, der neben dem Geländer parkte, eine der Türen war weit aufgerissen. Zuerst sah er nur das Auto, den dunklen Innenraum und ein Licht, das sich in der Scheibe der Fahrertür spiegelte. Doch als er sich umschaute, erblickte er zu seinem Entsetzen eine Frau, die kurz davor war, sich von der Brücke zu stürzen.
Agujiegbe, wie konnte es sein, dass mein Schützling seit Tagen an eine ertrunkene Frau denken musste, und jetzt begegnete er einer anderen, die über das Geländer gebeugt stand, als wollte sie jeden Moment springen? Zutiefst aufgewühlt brachte er seinen Wagen zum Stehen, sprang hinaus und lief ihr entgegen. »Nein, nein«, rief er. »Bitte nicht! Tu das nicht. Biko, eme na!«
Die Frau erschrak, sie wirbelte herum, geriet ins Schwanken und fiel rückwärts zu Boden. Er eilte auf sie zu und wollte ihr aufhelfen. »Nein, Mommy, bitte nicht!«, wiederholte er.
»Lass mich!«, rief die Frau. »Lass mich in Ruhe. Geh weg.«
Egbunu, er wich mit erhobenen Händen zurück, so wie die Kinder der alten Väter, wenn sie zeigen wollen, dass sie sich ergeben. »Ich hör ja schon auf«,...
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