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Jean de Malestroit, Schatzmeister, Generalsteuerpächter und Kanzler des Herzogs der Bretagne, dazu Bischof von Nantes, entstammte zwar einer Adelsfamilie, doch das änderte seine Einstellung nicht im geringsten. Er mochte sie nicht, diese kleinen und großen Feudalherren, die zu nichts nütze waren und deren endlose Streitereien sein fürstlicher Freund, Herzog Johann, zu schlichten hatte, wenn er diese Aufgabe auch meist seinem Kanzler übertrug. Sie waren Lehensmänner, diese Herren, und hätten im Konfliktfall Waffendienst leisten müssen, aber wenn man sie wirklich brauchte, hagelte es Ausreden. Von Abgaben jeglicher Art waren sie selbstredend befreit, und so saßen sie wie kleine Herrgötter auf ihren festen Burgen und lachten sich ins Fäustchen.
Er war mit den Jahren ein wenig dick und behäbig geworden, der Bischof von Nantes, auch sein schönes volles Haar hatte sich gelichtet - besser gesagt, es war so gut wie nicht mehr vorhanden, doch bei einem Würdenträger wie Malestroit fiel das kaum ins Gewicht, weil sein Rang es ihm erlaubte, das Haupt stets bedeckt zu halten. Sein fünfzigster Geburtstag lag schon eine Weile zurück, aber der Kanzler fühlte sich so jung und frisch wie ein Dreißigjähriger, und wenn er daran dachte, welche Aufgaben seiner harrten, so barst er vor Tatkraft.
Er hatte es sich zum Ziel gesetzt - und der Herzog gab ihm dazu freie Hand -, die Feudalherren in der Bretagne zu stutzen, ihren Besitz und ihre Macht zu schmälern, mit der Stimme des Volkes gesagt: sie kleinzukriegen. Beim Herzog mochten dabei staatspolitische Motive den Vorrang haben, beim Bischof aber war es ein ehrgeiziges Prinzip, wenn auch nicht ohne Selbstsucht, denn er achtete durchaus darauf, daß dabei für ihn etwas abfiel.
Nun arbeitete er daran, Seigneur Gilles de Rais, den Marschall von Frankreich, kleinzukriegen, und er ging dabei so geschickt zu Werke, daß der mit anderen Dingen befaßte Seigneur es nicht einmal merkte - noch nicht.
Jean de Malestroit nahm ein Blatt zur Hand und ließ - zum weiß Gott wievielten Mal - seine Augen über die Aufstellung des weithin verstreuten Besitzes von Seigneur de Rais gleiten. Schlösser, Burgen, Edelsitze, Güter, Dörfer, Märkte, Weinberge - das ganze Blatt war mit Namen beschrieben. Champtocé und Ingrandes an der Loire, durch Schiffszölle immens reiche Besitzungen, dann Machecoul, Pornic, Bourgneuf, Vue, Princé, Prigny, St. Etienne, Légé und La Bénate im Pays de Rais, der Gegend, die seinen Namen trug und die noch zur Bretagne gehörte. Seine Frau Catherine hatte dem Seigneur die reichen Herrschaften Tiffauges und Pouzauges eingebracht, doch die lagen in der Grafschaft Poitou, außerhalb des Gerichtsbereichs der Bretagne wie auch die Besitzungen in Maine und im Anjou.
Malestroit rieb sich die Hände. Einiges davon, nämlich Prigny, Vue und ein paar andere Ländereien hatte er schon an sich gebracht - für einen Pappenstiel! Der Seigneur war in ständiger Geldnot, sein vielköpfiger Hofstaat kostete ihn Unsummen, und er brauchte es immer schnell und sofort, dieses Geld, und so sandte der Bischof seine Agenten, die es bar auf den Tisch legten. Für Prigny etwa hatte er nur ein Fünftel des tatsächlichen Wertes bezahlt. Herzog Johann wußte davon und hieß es stillschweigend gut, denn sein Kanzler verpachtete die Güter an Nichtadelige, und die mußten reichlich Abgaben an die herzogliche Kasse zahlen. Außerdem hatte Seine Hoheit schon begehrliche Blicke auf Ingrandes und Champtocé geworfen und die Bemerkung fallenlassen, wenn es an der Zeit sei, wolle er vielleicht diese schönen Besitzungen für seinen Sohn erwerben.
Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen, Gilles de Rais, und mir wird erst wohl sein, wenn man dich als Bettler aus dem Land jagt. Doch dazu wird es vielleicht gar nicht kommen.
Malestroit holte ein anderes Blatt aus seinem großen vieltürigen Schreibschrank und ging damit zum Fenster. Sein Sekretär hatte vor kurzem die Klagen zusammengefaßt, die seit Monaten eintrafen aus Nantes, aus den Ortschaften der engeren und weiteren Umgebung. Und immer ging es darum, daß der Seigneur oder seine Vettern Sillé und Bricqueville, häufig auch seine Diener Henriet und Poitou, bei Eltern, Verwandten und Lehrherren Knaben angeworben hatten für den Kirchenchor, als Pagen oder Schloßdiener, und diese Leute waren stolz, daß die Kinder bei so einem großen Herrn lernen und arbeiten durften. So weit, so gut. Doch dann, als die wenigsten von ihnen zurückkehrten, keimten Argwohn und Mißtrauen auf. Anfragen in Machecoul, in Tiffauges oder Champtocé - in diesen drei Burgen hielt der Seigneur sich am häufigsten auf - wurden entweder gar nicht beantwortet oder nur mit Ausflüchten. War der Junge nach Machecoul gegangen, so hieß es, er befinde sich nun in Tiffauges; fragte man dort an, so verwies man auf Champtocé, und war er nicht da, so befand er sich auf der Reise von einem Ort zum anderen. Wer sich damit nicht abspeisen ließ, wie Perrine Loessart, die Mutter eines zehnjährigen Jungen, dem wurde trauervoll mitgeteilt, der kleine Page sei bei der Überquerung eines Flusses vom Pferd gestürzt, ertrunken und weggeschwemmt worden. Und das wiederholte sich, wieder und wieder: vom Pferd gestürzt, beim Apfelpflücken verunglückt, von einer Leiter gefallen, ertrunken, vom Pferd getreten, vom Jagdhund gebissen, von durchziehenden Gauklern geraubt - immer waren die Knaben tot oder verschwunden.
Malestroit schüttelte den Kopf. Er griff nach der Handglocke.
«Laß Maître Petit kommen!»
René Petit war ein junger, ehrgeiziger und talentvoller Jurist, Malestroits Privatsekretär und rechte Hand. Er stammte aus Tours, war der Sohn eines Notars, hatte in Paris die Rechte studiert und dort seine Magisterprüfung abgelegt. Als Malestroit einen tüchtigen Sekretär suchte, war ihm Petit von einem früheren Studienfreund, der jetzt in Paris Kirchenrecht lehrte, ausdrücklich empfohlen worden.
Der Magister trat ein, wie immer einfach, aber untadelig gekleidet, sein schmales gescheites Gesicht gesammelt und aufmerksam. Malestroit mochte diesen Menschen, weil er seine Arbeit ernst nahm, beherrscht, unbestechlich und loyal war.
«Monseigneur?»
«Setzt Euch zu mir, Petit, mir geht diese Sache da nicht aus dem Kopf.»
Er schob seinem Sekretär das Blatt über den Tisch. Der lächelte kurz.
«Das kenne ich, Monseigneur, ich habe es ja selber abgefaßt.»
«Ich kann's einfach nicht glauben! Vielleicht haben einige dieser Eltern ihre Kinder versteckt, um aus Seigneur de Rais Geld zu pressen. Wo sollen sie denn sein, Dutzende von Knaben zwischen sechs und sechzehn Jahren? Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben oder vom Seigneur zum Abendmahl verspeist worden sein? So etwas gibt es doch nicht! Was haltet Ihr davon, Magister?»
«Jedenfalls glaube ich nicht, daß so viele Eltern quasi zur gleichen Zeit auf den Gedanken kommen, Seigneur de Rais zu erpressen - ganz davon abgesehen, daß niemand es wagen würde. Ich halte aber etwas anderes für möglich: Der Marschall hat die Kinder verkauft.»
Malestroit riß die Augen auf und fuhr sich nervös über die Stirn.
«Verkauft? Wohin, an wen? Wer kauft schon Kinder?»
«So abwegig ist das nicht, Monseigneur. Frankreich ist durch den jahrzehntelangen Krieg mit England ausgeblutet, Pest und Hungersnöte haben ein übriges getan, um ganze Landstriche zu entvölkern. Nun geht es wieder aufwärts, aber wer etwas schaffen will, braucht dazu Menschen. Den Besitzern und Betreibern von Erzgruben, Salinen, Weinbergen und Obstgärten fehlen die Hände, um zu graben, zu schöpfen, zu schneiden und zu pflücken. Fällt Euch nicht auf, daß die meisten der Jungen im Alter zwischen zehn und vierzehn waren, gesund, kräftig? Keine schwachen und hungrigen Bettelkinder. Ich bin mir fast sicher, daß diese Burschen in einem anderen Teil von Frankreich als Arbeitssklaven und Leibeigene ein elendes Dasein führen. Wie ich Herrn de Rais einschätze, wird er alles tun, um sein aufwendiges Prasserleben so lange wie möglich weiterführen zu können. Er hat die Jungen verkauft, das halte ich für die wahrscheinlichste Möglichkeit.»
Malestroit nahm die Kappe ab und strich über seinen kahlen Schädel.
«So einleuchtend es auch klingt, Petit, mir will es nicht so recht in den Kopf. Aber ich gebe es gerne zu, daß mir auch nichts Besseres einfällt. Nur dürfen wir die Klagen dieser Eltern und Angehörigen nicht einfach in den Wind schlagen. Was Seigneur de Rais mit diesen Kindern auch immer getan hat - wir müssen es herausfinden. Und wenn es etwas Übles war, dann gnade ihm Gott!»
«Eines muß noch bedacht sein, Monseigneur. Die hier aufgeführten Klagen von Eltern, Verwandten und Lehrherren dürften nur ein Bruchteil dessen betreffen, was tatsächlich geschehen ist. Kein höriger Bauer aus Champtocé, Machecoul oder Tiffauges würde es wagen, seinen Feudalherrn zu verdächtigen oder ihn gar anzuklagen, ganz abgesehen von den zahlreichen Bettelkindern, die von Burg zu Burg, von Dorf zu Dorf ziehen. Selbst wenn die im Dutzend verschwinden, wird es keinen kümmern.»
Malestroit lächelte hintergründig.
«Jetzt habe ich Euch bei einem Denkfehler ertappt, Magister! Ihr selber habt vorhin gesagt, daß für einen Verkauf nur gesunde und kräftige Kinder in Frage kommen. Was also soll er mit schwachen, grindigen, nicht selten sogar verkrüppelten Bettlern?»
Petit sah den Bischof ruhig an.
«Ich bin ein wenig auf Spurensuche gegangen. Es sind sowohl Bauern- wie Bettelkinder verschwunden, dafür gibt es Zeugen und Beweise.»
Malestroit drohte mit dem Finger.
«Schau, schau, der Herr geht eigene...
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