Schweitzer Fachinformationen
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Ich wurde am 3. August 1927 in Leutersdorf, einem Ort im Grenzgebiet zur Tschechoslowakei, geboren und auf den Namen Ursula getauft. Wie in der Oberlausitz üblich, lebten früher auch in unserem Dorf die einfachen Leute vom Weben. Daran erinnern noch heute die alten Umgebindehäuser - schöne kleine Fachwerkbauten, deren Fenster in vertieften Holzbögen lagen - und die kunstvoll bemalten Türen sowie die kleinen Vorgärten, in denen es grünte und blühte.
Als im 17. Jahrhundert in den Dörfern der Oberlausitz der Webstuhl seinen Einzug hielt, machten sich die Leute Gedanken, wie man mehr Wohnraum schaffen konnte, denn bislang waren die Häuser einstöckig. Weil aber der Fachwerkbau allein wenig geeignet war, ein zusätzliches Stockwerk zu tragen, wurde die Last auf Ständer verteilt, die um die Außenwände der ebenerdigen Stube, wo der Webstuhl stand, verteilt und durch Rahmen und Querstreben verbunden waren.
Eine Besonderheit unseres Dorfes war, dass über zweihundert Jahre lang eine Staatsgrenze durch den Ort ging, die es in einen sächsischen und einen böhmischen Teil trennte. Der katholische Ortsteil war ursprünglich eine böhmische Enklave gewesen, die 1848 im Zuge einer Grenzbereinigung in der Region an Sachsen fiel. Die Einwohnerzahl unseres Dorfes lag 1927, dem Jahr meiner Geburt, bei etwa viertausend.
Im Sommer, wenn wir auf die Heinrichshöhe oder den Großen Stein wanderten, bot sich uns ein herrlicher Ausblick auf das Zittauer Gebirge. Der Große Stein, der eigentlich zu Spitzkunnersdorf gehörte, wurde von uns Neudörflern gerne als »unser« Berg betrachtet, und es gab darüber mit den Spitzkunnersdorfern, sobald man auf Volksfesten zusammentraf, immer Diskussionen. Andere Erhebungen hießen Lindeberg, Wacheberg oder Spitzberg - es war also eine hügelige Landschaft, in die ich hineingeboren wurde, mit weiten Wiesen und Feldern und tiefen Mischwäldern.
Auch ein Bach schlängelte sich durch das Dorf, von uns Leutersdorfern die Schnauder genannt, der vor langer Zeit an einigen Stellen gestaut worden war, sodass Teiche entstanden, an denen bald drei Mühlen klapperten. Da wir im Winter stets viel Schnee hatten, trat der Bach im Frühjahr regelmäßig über die Ufer.
Ich hatte eine glückliche und sorglose Kindheit, obwohl ich nicht gerade in ein »goldenes Nest« hineingeboren wurde.
Meine Eltern hatten sich 1925 kennengelernt und sich heimlich in Dresden verlobt. Bald darauf kündigte ich mich an, doch das Verlöbnis wurde seitens meines Vaters, eines gut aussehenden jungen Mannes aus Zittau, der eine Offizierslaufbahn bei der Reichswehr anstrebte, nicht eingehalten, und es kam nie zu einer Heirat. Er verließ seine Heimat, als ich noch ein kleines Kind war, ging erst nach München, dann nach Wien und machte später in Hitlers Wehrmacht Karriere.
Trotzdem wurde sein bester Freund Heiner mein Taufpate. Als es schon lange aus war zwischen meiner Mutter und meinem Vater, luden er und seine Verlobte mich einmal nach Dresden in das noble Hotel »Zum Weißen Hirschen« ein - für ein einfaches Dorfkind wie mich ein unvergessliches Erlebnis. An meinem fünften Geburtstag sah ich meinen Vater zum letzten Mal. Zehn Jahre später bildete ich mir ein, ihn unbedingt einmal in Wien zu besuchen. Deshalb schrieb ich ihm und legte dem Brief ein Bild von mir bei, damit er sah, was für eine hübsche Tochter er hatte. Doch seine Antwort war niederschmetternd; er schrieb zurück, dass ein Besuch nicht möglich sei, da seine Frau das nicht wünsche.
Weil mein Vater sich seiner Verantwortung entzogen hatte, wurde ich also als uneheliches Kind geboren und wuchs mit der Mutter, die noch bei den Eltern lebte, den Großeltern und Onkel Kurt, dem jüngeren Bruder meiner Mutter, heran. Aber da ich von allen geliebt wurde, vermisste ich meinen Vater nicht.
Wir lebten in einer Mietwohnung, die für damalige Verhältnisse gar nicht so schlecht war, denn es gab für jeden eine Schlafstube, eine große Wohnküche mit angrenzender Speisekammer und eine sogenannte »Gute Stube«, die nur an den hohen Feiertagen beheizt und benutzt wurde und deren dunkles Mobiliar immer ein wenig feucht glänzte.
Als ich auf die Welt kam, lebten von den zehn Kindern, die meine Großmutter geboren hatte, nur noch meine Mutter Elsa, ihre ältere Schwester Elli, die bereits verheiratet war und im Nachbarort wohnte, und eben Onkel Kurt. Sieben Kinder, die Litti, das Dorle, Heinrich, Willy, Ella, Anna und Heinz, waren an Diphtherie oder Lungenentzündung gestorben.
Besonders nah ist meiner Großmutter der Tod des Dorle gegangen, das im zarten Alter von vier Jahren an Lungenentzündung starb. Über all die anderen toten Kinder ist sie hinweggekommen, nur über das eine nicht.
So erzählte sie immer wieder, dass das Dorle ein paar Tage nach ihrem Tod zu ihr gekommen sei: »Da ging die Tür auf, und ein voller Eimer mit Wasser wurde von unsichtbarer Hand in die Stube geschüttet«, behauptete Großmutter steif und fest. »Aber es bildete sich keine Pfütze, denn es waren meine Tränen. Ich ging hinaus, um nachzusehen, was es damit auf sich hatte. Da saß das Dorle im Flur auf der untersten Treppe. >Weine nicht so sehr um mich, Mutti<, bat sie, >mir geht es so gut im Himmel. Du hast keinen Grund, traurig zu sein.< Ich sah sie ganz deutlich mit ihrem hellblonden, feinen Lockenkopf und ihren himmelblauen Augen auf den Stufen sitzen«, sagte die Großmutter. »Ich habe es nicht geträumt. Es ist wirklich so geschehen.«
Diese Geschichte erzählte sie nicht nur ihrer Familie, sondern auch allen Nachbarn, Bekannten und Verwandten - allen eben, die es hören wollten.
Ich wuchs in keinem dieser reizvollen Umgebindehäuser heran, sondern in einer Siedlung im Neudorf, die erst nach dem Weltkrieg erbaut worden war. Die Häuser waren also ziemlich neu und darüber hinaus keineswegs trist und grau, sondern umgeben von blühenden Gärten und Gemüsebeeten. Mein kindlicher Horizont beschränkte sich im Wesentlichen auf sechs Häuser, in denen jeweils zwei Familien lebten - eine im Parterre, die andere im Obergeschoss. Die Siedlung gehörte der Gemeinde, und jeweils sechs Blöcke zusammen benutzten eine Wasserpumpe, die sich in der Mitte zwischen den Häuserreihen befand. Es gab also kein fließendes Wasser in den Wohnungen und auch keine Toilettenspülungen, wie es in größeren Städten längst üblich war. Wir mussten alles Wasser an der Pumpe holen, zu der kleine Wege führten, auf denen ich als Kind unzählige Male auf und ab gelaufen bin, denn so gelangte ich auch zu meinen Spielkameraden in den anderen Häusern.
An der Pumpe konnte man immer viel Tratsch und Klatsch hören, der für mich als keines Mädchen überaus verwirrend war, sodass ich mich manchmal fragte, ob alle Erwachsenen in Rätseln sprachen. Da wurde beispielsweise von einem Hitler gesprochen, der Unglück über uns bringen würde, wie die einen meinten. Nein, er sei ein Segen für uns, widersprachen andere, denn er werde endlich mit der Arbeitslosigkeit aufräumen. Dann wurde wieder über das Kommunistenpack und die vaterlandslosen Sozialisten gewettert oder über die »Sauerei des Versailler Vertrages«, der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg »erniedrigt« habe.
Wenn die Frauen jedoch unter sich waren, ging es selten um Politik; da wurde über den alltäglichen Kram getratscht - wer mit wem, wer heiratete oder sitzengelassen wurde, wer ein Kind bekam, wobei am interessantesten natürlich ledige Mütter waren. Man diskutierte, welcher Familienvater stets das Geld versoff und wer dagegen ordentlich und rechtschaffen war. Obwohl ich immer die Ohren spitzte, wenn ich mit Großmutter oder Großvater bei der Pumpe war, wurde ich aus ihren Gesprächen einfach nicht schlau.
Alle vier Wochen fand abwechselnd in einem der Häuser die große Wäsche statt. Dann wurde das Wasser der Pumpe durch eine Leitung in den Keller des jeweiligen Hauses gepumpt, und die anderen Häuser hatten dann eben kein Wasser - das war nicht zu ändern, doch aus diesem Grund war es wichtig, dass der Waschtag vorher angekündigt wurde.
Ebenfalls alle vier Wochen wurde bei uns gebadet. Zu diesem Zweck schleppten wir eine Holzwanne aus dem Keller in die Küche, und da man die anderen Familienmitglieder nicht nackt sehen durfte, wurde die Wanne mit Tüchern verhängt. Jedes Mal gab es Diskussionen, in welcher Reihenfolge wir in die Wanne stiegen, denn alle badeten im selben Wasser - heute, wo jeder ein Bad und fließendes warmes Wasser hat, ein undenkbarer Zustand!
Unter den Nachbarn aus den anderen Häusern unserer kleinen Siedlung ist mir besonders die Gustl in Erinnerung geblieben, weil sie einen unwahrscheinlich dicken Bauch hatte. »Was hast du denn für einen dicken Bauch?«, fragte ich sie als kleines Kind immer wieder und betrachtete ungeniert ihren unförmigen Leib. »Da ist ein Wolf drin«, pflegte sie zu antworten. Beim ersten Mal erschrak ich bei diesen Worten, doch als ich sie dann lachen sah, wusste ich, dass sie nur scherzte. Allerdings konnte sich niemand erklären, warum ihr Bauch so dick war, der übrige Körper dagegen nicht. Die Beine waren ziemlich dünn, die Arme ebenso, und ein Busen war unter der grau-weiß geblümten Kittelschürze, die sie immer trug, nicht zu erkennen. Falls es krankhaft war, dann konnte es keine ernsthafte oder bösartige Sache gewesen sein, denn die Gustl war nie krank und jammerte auch nicht über irgendwelche Beschwerden. Man hörte sie überhaupt niemals über etwas klagen, und nicht einmal die Tatsache, dass ihr Mann, ein Schuster, sich eine »zweite Frau« zugelegt hatte, vermochte sie wirklich zu erschüttern.
»Bestimmt ist ihr dicker Bauch daran schuld, dass der Gustl ihr Mann immer zur Frau...
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