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Regina fragte sich an diesem Winternachmittag, wie lange sie den Weg zum einsam gelegenen Forsthaus nicht mehr gegangen war. Sie sah sich um und freute sich an der herrlichen Natur, die diesen einsam gelegenen Winkel umgab. In der Stadt, in der sie jetzt lebte, zeigte sich der Winter meist von seiner hässlichen Seite. Schmutziger Matsch bestimmte momentan das Straßenbild. Sie fror ständig, während ihr jetzt, da sie so mühsam durch den Schnee stapfte, sehr warm war, obwohl das Thermometer heute Morgen zehn Grad unter null angezeigt hatte.
Die Fußspuren, denen sie zu folgen versuchte, sagten ihr, dass diesen Weg heute schon jemand gegangen war. Obwohl auch sie einen weit ausholenden Schritt besaß, konnte sie den Spuren, die vermutlich von einem Mann stammten, doch nicht ganz folgen, trat oft daneben und versank immer wieder im Schnee. Doch dieses mühsame Stapfen machte ihr Spaß, und sie musste immer wieder lächeln, ohne einen wirklichen Grund dazu zu haben. Sie fühlte sich einfach glücklich in dieser winterlichen Stimmung, die so viele, vergessen geglaubte, schöne Erinnerungen in ihr wachrief.
Die Sonne, die an diesem kalten Januartag nur schwach durch den hauchdünnen Nebel drang, tauchte die tief verschneiten Wiesen und Felder in ein rosa Licht. Die entlaubten Bäume, die von Zeit zu Zeit ihren Weg säumten und den Schnee nicht zu halten vermochten, hoben sich schwarz gegen die weiße Landschaft ab und streckten ihre kahlen Äste in den dunstigen Himmel. Hinter dem Forsthaus erhob sich der Bergwald, auf den die tief stehende Sonne einen goldenen Schein warf. Hinter dem Wald, der bald steil aufstieg, waren die schroffen Felsformationen der Loferer Steinberge durch den rosigen Schleier schemenhaft zu erkennen.
Nachdem Regina Stadler die Schönheit ihrer Heimat nach langer Abwesenheit wieder einmal mit allen Sinnen in sich aufgenommen hatte, verloren sich ihre Gedanken immer mehr in der Vergangenheit. Erinnerungen und Gefühle, ja sogar Gerüche, die jahrelang tief in ihr geschlummert hatten, erwachten immer intensiver.
Schon als ganz kleines Mädchen war sie diesen Weg entlanggegangen - oder gelaufen. Sie erinnerte sich, dass sie meistens gerannt war, als ob sie etwas versäumt hätte, wenn sie ruhig gegangen wäre. Dabei war sie ansonsten ein eher stilles Kind gewesen. Ganz anders als Vroni. Trotzdem hatten sie sich gut vertragen. Ihre beste Freundin Vroni, die in dem alten Forsthaus geboren und aufgewachsen war, war viel lebhafter als sie gewesen. Und sie hatte sich auch nicht verändert.
Regina hingegen war mit den Jahren noch besonnener geworden. Natürlich war auch sie kein Kind von Traurigkeit, doch sie nahm das Leben - im Gegensatz zu Vroni - ernst. An Vroni prallte alles ab - zumindest tat sie so -, während ihr selbst immer gleich alles zu Herzen ging.
Das Forsthaus tauchte auf, und der Weg wurde ihr immer vertrauter, je näher sie kam. Das große, stattliche und im oberen Teil mit Holz ummantelte Haus, das mit den Jahren ganz dunkel geworden war, schmückte unterhalb des Giebels ein großes Hirschgeweih. Seit hundert Jahren hing das Geweih nun dort und war somit so alt wie das Forsthaus.
»Regina!« Eine helle Frauenstimme riss die junge Frau aus ihren Erinnerungen und Träumen.
»Vroni! Ich hab dich gar nicht gesehen.«
Die Freundin lief auf sie zu. Sie war gerade aus dem Holzschuppen gekommen und hatte den großen Korb mit den Scheiten einfach auf den Boden fallen lassen, als sie Regina erblickte.
»Schön, dass du gekommen bist. Ich habe schon befürchtet, du traust dich wegen der Kälte und dem Schnee nicht zu uns heraus. Aber warum bist du denn über die Wiese gegangen?«
»War nur so eine Idee«, erwiderte Regina lachend. »Es war schön.«
»Da musst du ja bis zu den Knien im Schnee versunken sein?«
»Da waren schon Spuren. Allerdings muss dieser Mensch ein Riese gewesen sein«, antwortete Regina schmunzelnd.
»Vielleicht war es der Oberöder-Bartl. Der ist sehr groß und stapft gern querfeldein«, überlegte Vroni. Sie umarmte nun die Freundin. »Schön, dass du da bist.«
»Ich habe es doch versprochen.«
»Du bist ja ganz in Gedanken versunken gewesen«, schmunzelte Vroni und schüttelte dabei amüsiert den Kopf mit dem dunkelbraunen, halblangen Haar.
»Ist das ein Wunder? Ich überlege gerade, wie viele Jahre ich nicht mehr bei euch im Forsthaus gewesen bin.« Regina klopfte sich den Schnee von den Stiefeln.
Vroni waren einige Holzscheite aus dem Korb gefallen, als sie ihn einfach so auf den Boden hatte fallen lassen. Sie sammelte sie auf und legte sie wieder sorgfältig hinein. »Fünf Jahre bestimmt nicht mehr«, vermutete sie und stemmte den schweren Korb hoch. »Aber jetzt komm ins Haus! Es ist kalt hier draußen, und ich habe nur eine Strickjacke an.«
»Ich glaube, das ist länger her«, meinte Regina. Sie folgte ihrer Freundin ins Haus.
»Ich weiß es auch nicht mehr genau.« Vroni zuckte mit den Schultern. »Die Mutter freut sich zumindest, dich wieder einmal zu sehen. Auch der Markus!« Sie warf ihr einen verschmitzten Blick zu.
Die frische Röte auf Reginas Wangen, bedingt durch die kalte Winterluft, vertiefte sich um eine Nuance.
»Ist der Markus noch nicht verheiratet?«, fragte sie schnell, um ihre leichte Verlegenheit zu verbergen.
»Das hätte ich dir doch erzählt.« Vroni öffnete die Haustür und stellte den Korb im Flur ab. Der riesige Kachelofen in der Stube wurde vom Gang aus geheizt, sodass es auch dort mollig warm war. Vroni öffnete das Ofentürchen, griff nach dem schmiedeeisernen Schürhaken und fuhr durch die Glut, damit sie wieder aufloderte, dann legte sie ein paar Scheite nach.
Regina schlüpfte inzwischen aus ihrem Anorak und hängte ihn an die Flurgarderobe, die immer noch dieselbe war wie früher. Ein altmodisches schmiedeeisernes, verschnörkeltes Gestell.
»Bei euch hat sich wirklich nichts verändert«, meinte sie gerade, als Vronis Mutter aus der Küche kam.
»Mein Gott, Regina! Wie lange bis du denn nicht mehr bei uns gewesen?« rief Frau Reiter aus. Sie umarmte das junge Mädchen herzlich.
»Die Vroni und ich haben selbst gerade gerätselt, wie lange das her ist«, erwiderte Regina lachend.
»Ist ja auch egal. Hauptsache, du hast wieder einmal zu uns einsamen Leuten herausgefunden. Aber jetzt kommt in die Stube! Ich habe schon Kaffee gekocht.«
Als Regina die gemütliche Bauernstube betrat, stellte sie schnell fest, dass auch hier alles so wie früher war. Die dunklen, schweren Möbel standen noch behäbig in dem hellen Raum. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr hing noch immer an der Wand zwischen den beiden Südfenstern, und über der Eckbank befand sich noch das kunstvoll geschnitzte Kruzifix aus dem achtzehnten Jahrhundert, auf das schon der eine oder andere Kunsthändler oder Geistliche ein Auge geworfen hatte. Aber die Familie hatte es nie hergegeben.
Neben dem Kreuz hingen einige Schwarz-Weiß-Fotografien mit Trauerflor. Es waren Vronis Großeltern väterlicherseits, die hier verewigt waren, und ein Bruder des Großvaters, der in Russland gefallen war. Auch dem Forstrat Georg Reiter, Vronis Vater, wurde hier ein ehrendes Andenken bewahrt. Der große, stattliche Mann wurde vor drei Jahren durch einen Herzinfarkt mitten aus dem Leben gerissen. Man fand ihn erst viele Stunden später, oben in der Forsthütte, wo er sich seit seiner Pensionierung gerne aufgehalten hatte. Er lag tot auf dem Boden.
Regina kannte die Fotografien, bis auf letztere natürlich. Sie betrachtete das Porträt des Forstrates und versuchte sich dabei zu erinnern, wie er früher ausgesehen hatte. Das mochte ihr jedoch nicht ganz gelingen. Sie sagte sich, dass er kaum zu Hause gewesen war, wenn sie als Kind die Freundin besucht hatte.
»Ich warne dich vor Mamas Weihnachtsplätzchen«, bemerkte Vroni, während sie sich schon das erste Vanillekipferl in den Mund schob. »Gerade ihre Nugatkipferl sind wahre Kalorienbomben.«
»Aber gut«, schmunzelte Heidemarie und schenkte gleich den Kaffee ein.
»Und jetzt erzähl mal, Regina! Wie gefällt es dir denn in München?«
Noch bevor Regina antworten konnte, fügte sie mit einem vielsagenden Blick zu ihrer Tochter hinzu: »Vermutlich auch so gut wie der Vroni, sodass du nur alle heiligen Zeiten einmal wieder nach St. Valentin kommst.«
»Mama!«, rief Vroni mit gespielter Entrüstung. »Ich komm so oft, wie es geht.«
»Mir gefällt es ganz gut in München«, antwortete Regina, »aber für immer möchte ich nicht dort leben.«
»Besuchst du deine Eltern auch so selten?«, fragte Heidemarie die junge Frau mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf ihre Tochter.
Regina nippte an ihrem Kaffee, bevor sie antwortete. »Ich versuch sie einmal im Monat zu besuchen. Aber das klappt auch nicht immer.«
»Ja, ihr beide seid richtige Städterinnen geworden.« Heidemarie griff nun nach dem üppigen Stollen.
»Eigentlich möchte ich gerne wieder nach St. Valentin zurückkommen«, bemerkte Regina, »und mir hier beruflich etwas aufbauen.«
»Als Physiotherapeutin!« rief Vroni überrascht aus. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt.«
»So lange spiele ich ja auch noch nicht mit dem Gedanken. Aber mir schwebt eine eigene Praxis hier im Dorf vor«, erzählte Regina.
»Was mach ich denn dann in München ohne dich?«, rief Vroni enttäuscht aus.
»Also Vroni, bei deinem riesigen Bekanntenkreis!« Regina strich sich eine locker gewordene Strähne ihres honigblonden Haares aus der Stirn, das sie zu einem langen Pferdeschwanz zurückgekämmt trug, sodass ihre...