Kapitel Eins
Clayton, Missouri. Gegenwart.
Weit nach Tagesanbruch, diesmal also zu einer zivilen Morgenstunde.
Posies, eine hochklassige Blumenhandlung im wohlhabenden Vorort Clayton, Missouri, Ecke Wydown Street, gehörte einer gewissen Elly Jordan, die das Geschäft auch führte. Wenn sie um sieben Uhr zur Stimme eines unausstehlichen Radiomoderators aufwachte und den Kopf träge aus dem Kissen hob, galt neuerdings ihr erster Gedanke der Arbeit.
So war das jetzt immer. Sie lebte und atmete für Posies. Manchmal schien es, als würde sich alles, was sie dachte oder tat, um ihren Laden drehen. Eigentlich ziemlich mitleiderregend. Nun gut, nach dem Weckruf legte sie sich normalerweise noch etwa eine Stunde zurück ins Bett. Aber irgendwann stieg sie schließlich aus ihrer sauberen kleinen Wohnung die Treppe ins Geschäft hinunter, den Schlaf noch in ihren hellblauen Augen und mit klatschenden Flipflops. Und wenn sie Licht machte, hatte sie meist noch einen getoasteten Frühstückskuchen zwischen den Zähnen.
Unweigerlich ging ihr jedes Mal das Herz auf, wenn sie sich im Geschäft umsah und sich klarmachte, dass all das ihr gehörte. Einen Moment lang genoss sie dann die warme Luft, die durch die Fenster hereinwehte, und versuchte, in einen friedlichen, Zen-ähnlichen Zustand zu kommen. Das klappte nie. Also zuckte Elly amüsiert mit den Schultern und begann trotzdem mit der morgendlichen Routine. Zuerst wurde kurz durchgeputzt. Die Fenster, der Arbeitstisch und die Eingangstür wurden abgewischt, und alles wurde an seinen Platz geräumt. Sie zog die Vorhänge etwas weiter zurück und zupfte sie forsch in Form. Dann hob sie übrig gebliebene Stängel oder fallen gelassene Blätter vom Teppichboden auf.
An diesem Morgen überzeugte sie sich außerdem davon, dass der Temperaturregler noch richtig eingestellt war, nachdem sie die Nacht tief und fest durchgeschlafen hatte. Dann schnappte sich Elly ein kleines Arrangement orangefarbener Ranunkeln und trottete zur Vordertür hinaus. Erst jetzt war sie bereit, der Welt außerhalb der Wärme und Sicherheit ihres Geschäfts gegenüberzutreten.
Sie ging ein Stück die Straße hoch und betrat Adas Café. Brita, die überzogene Barista, begrüßte sie mit mehr Sonnenschein, als Elly handhaben konnte.
»Guten Morgen, Elly!«, zwitscherte sie.
Statt einer Erwiderung nickte Elly müde und unterdrückte ein Augenrollen. Vor zehn Uhr morgens war sie einfach kein Mensch. Sie stellte die Blumen auf die Theke, wobei sie beinahe einen dampfenden Latte macchiato umwarf. Im Austausch nahm sie die Vase mit den verwelkenden Ehrenpreisblüten und Kornblumen und klemmte sie sich unter den Arm. Auf ihrer Bluse prangte ein Kaffeefleck.
Die Barista sah zu ihr herüber. »Ach, Elly! Du bist einfach zu komisch! Jeden Tag, wenn du hier reinkommst, wirfst du entweder was um oder hast einen Fleck auf der Bluse! Wie bei so einem kleinen Kind. Einfach hinreißend.«
Elly seufzte.
»Dir auch einen guten Morgen, Brita.«
Die Barista schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Heiße Schokolade heute?«
Elly nickte. »Ja, bitte. Genau wie gestern . Genau wie jeden Tag.«
Amnesie, dachte Elly.
Brita strahlte sie an. »Diese Blumen sind ja sooo bezaubernd. Ich guck die so gerne an. Du musst deinen Job wirklich lieben.«
Elly wand sich innerlich vor Unbehagen.
»Ja, das tue ich. Aber es sind ja schließlich nicht bloß Blumen, und .«
Das Glöckchen am Eingang bimmelte, und Brita warf sich in Positur, um den Neuankömmling zu begrüßen.
»Hi! Willkommen in Adas Café!«
Elly war noch mitten im Satz und stellte plötzlich fest, dass sie kein Gegenüber mehr hatte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sie so allein gelassen stehen blieb. Peinlich. Sie seufzte und sah sich in dem Café um. Dutzende Paare saßen da und genossen ihr Morgengetränk. Genau hier hatte Elly zwei Jahre zuvor ihre neue beste Freundin kennengelernt. Und genau hier hatte sie beschlossen zu bleiben. Sie atmete das üppige Aroma gerösteter Kaffeebohnen ein. Und sofort sah sie sich wieder zwei Jahre früher vor sich, an dem Tag, der ihr Leben verändert hatte. Dem Tag, an dem sie Kim kennengelernt hatte.
Genau zwei Tage nach ihrer übertrieben dramatischen Flucht aus Georgia war Elly in St. Louis angekommen - die Augen vom Weinen und Fahren geschwollen, die Haare eine Pferdeschwanzkatastrophe und innerlich völlig gebrochen. Irgendwie hatte sie den Weg in ein elegantes Café gefunden und eine heiße Schokolade mit extra Schlagsahne bestellt. Nervös hatte sie sich umgesehen. Sie wollte nur noch zurück in ihr Auto und so lange fahren, bis sie zusammenbrach. Eine hinreißende Blondine hinter der Theke starrte sie an. Verwirrung stand ihr ins hübsche Gesicht geschrieben.
»Extra Schlagsahne? Wirklich? Sie wissen schon, dass da sowieso schon Schlagsahne dabei ist, oder? Das sind gleich hundert Kalorien mehr.«
Gereizt stieß Elly den Atem aus und hörte hinter sich ein unterdrücktes Lachen. In ihrer verrückten Gemütslage würde sie jeden Streit gewinnen, und so wirbelte sie herum und fand sich einer der atemberaubendsten Frauen gegenüber, die sie je gesehen hatte.
Elly wich die Luft aus den Lungen. Langes karamellbraunes Haar mit goldenen Reflexen ergoss sich über gebräunte Schultern mit Sommersprossen. Augen so blaugrün wie Strandglas und mit dichten mahagonifarbenen Wimpern blickten aus einem makellosen Gesicht ohne Make-up. Sie war so groß und schlank wie Elly klein und, nun ja, gewissermaßen rund. Von derartiger Schönheit sofort eingeschüchtert wirbelte Elly wieder herum und spießte das Mädchen hinter der Theke mit Blicken auf.
»Haben Sie ein Problem damit? Haben Sie Probleme mit Leuten, die sich eine Extraportion Schlagsahne bestellen?«
Das Mädchen schien bestürzt.
»Nein, nein, Ma'am. Schon gut.«
Sie sah Elly mit genau dem Mitleid an, das den Rundlichen und den Schmutzfinken vorbehalten war. Elly wollte schon zum Angriff übergehen, als sie eine kühle Hand auf der Schulter spürte.
Die schöne Frau flüsterte ihr ins Ohr. »Machen Sie sich nichts draus. Das hat mit Ihnen überhaupt nichts zu tun. Ich bin jeden Tag hier, und Madame Einstein hinter der Theke kriegt immer wieder meine Bestellung durcheinander - und zwar jeden . einzelnen . Tag.«
Ellys Ärger schmolz dahin. Zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden lächelte sie.
Schließlich bekam sie ihre heiße Schokolade und tatsächlich auch einen Haufen gefährlich schwankende Extrasahne. Sie setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Verblüfft sah sie zu, wie sich die strahlend schöne Frau auf den Stuhl ihr gegenüber setzte, als wären sie alte Freundinnen.
»Hi, ich bin Kim«, erklärte die Fremde und streckte den Arm über den Tisch. Elly schüttelte ihr die Hand. »Ich kann diesen Laden nicht ausstehen, aber ich bin abhängig. Wenn ich nicht jeden Tag meinen Latte bekomme, leide ich wie ein Tier.«
Elly musterte ihr Gegenüber.
Schweigend rührte Kim in ihrem Getränk und war offenbar völlig unbeeindruckt davon, wie seltsam dieser Austausch war. Plötzlich lächelte sie. »Woher kommen Sie? Sie sehen aus, als hätten Sie einen ganz schön weiten Weg hinter sich.«
Als hätte man Elly daran erinnern müssen, wie sie aussah . oder wie sie sich fühlte. Hier saß sie nun also, ungewaschen, wahrscheinlich müffelnd und in grauer Jogginghose und einem knappen schwarzen Hemdchen mit einem aufgedruckten Kürbis. Die Wimperntusche hatte sich schon längst von ihren Augen verabschiedet, ihre Haare waren fettig. Ihre Flucht im Auto hatte Elly erwischt wie ein Ziegel mitten ins Gesicht.
»Ähm .« Sie brach ab und konnte nur mit Mühe die Tränen im Zaum halten. Dass dieser Moment kommen würde, war ihr klar gewesen. Lüge ich über meine Vergangenheit? Fange ich ganz von vorn an? So tun, als wäre nichts passiert? Sie machte den Mund auf, wollte schwindeln, aber stattdessen sprudelte die Wahrheit aus ihr heraus.
»Ich bin schon seit Tagen unterwegs. Ganz ehrlich, ich weiß nicht mal, welchen Wochentag wir heute haben. Mein Mann . er .« Die Tränen begannen zu fließen. Mist! »Er ist .« Sie wedelte mit der Hand, ganz aufgewühlt, brachte es nicht heraus. »Ich kann nicht drüber reden. Ich bin noch nicht so weit. Ich weiß nicht mal, was ich hier mache. Ich bin einfach weg aus Georgia. Weg von meinem Haus, meinem Job, meinen Freunden. Und jetzt bin ich hier. Keine Ahnung, was ich machen soll. Vielleicht fahre ich weiter bis nach Kalifornien oder nach Washington oder einfach über eine Klippe. Keine Ahnung.« Ein gepresstes Schluchzen brach aus ihr heraus. »Ich kann nicht mal an das denken, was ich hinter mir gelassen habe. Ich hab gedacht, wenn ich wegfahre, könnte ich vielleicht so tun, als wäre das alles gar nicht passiert. Aber mittlerweile glaube ich, das war die denkbar dümmste Entscheidung. Und dass ich nie mehr in Ordnung bringen kann, was er zerbrochen hat. Und das, was er zerbrochen hat . tja, das war ich.«
Elly bedeckte die Augen mit den Handflächen und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich muss Ihnen ziemlich geistesgestört vorkommen.«
Als Kim antwortete, hörte Elly ein Lächeln aus ihrer Stimme heraus. »Ein bisschen. Aber bitte, erzählen Sie weiter!«
Elly war viel zu nervös, um aufzuschauen. Sie hielt den Kopf gesenkt.
»Ich bin . Nein, ich war . Sekretärin bei einem großen Speditionsdienstleister. Ich war gut in meinem Job. Persönliche Assistentin des Vorstandsvorsitzenden. Ohne mich wäre er mit ziemlicher Sicherheit nicht klargekommen. Das Gehalt war gut, ich hatte sogar...