Schweitzer Fachinformationen
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Kleef Dijkstra ist ein Verrückter. Und ein Massenmörder. Vor achtundzwanzig Jahren sprengte er zwei Wochen vor den niederländischen Parlamentswahlen die Amsterdamer Parteibüros des neu gegründeten Nederlandse Volksbond in die Luft, dessen Prinzipien er angeblich unterstützte. Sein Ziel, Pro-Migranten-Aktivisten zu verleumden und der Partei zu einer Protestwahl zu verhelfen, erreichte er damit jedoch nicht. Sechs Menschen wurden getötet, dreißig verletzt. Als etwas später im gleichen Monat die Partij van de Arbeid mehr Parlamentssitze als je zuvor errang, lud er eine Beretta ARX190, schoss sich durch den Sicherheitskordon beim Van Buuren-Hotel in Den Haag und mähte siebenundvierzig feiernde Parteimitglieder nieder. Zählt man zu den Opfern dieser beiden Massaker auch noch die von ein paar kleineren, davon getrennten Vorfällen hinzu, hat Kleef Dijkstra den Tod von zweiundsechzig Menschen zu verantworten.
Nach seiner Festnahme kamen forensische psychiatrische Gerichtsgutachter zu dem Schluss, dass Kleef Dijkstra an paranoider Schizophrenie litt. Er habe soziopathische Tendenzen, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, Grandiositäts- und Wahnvorstellungen und psychotische Episoden. Er zeige keinerlei Reue für seine Verbrechen und habe denjenigen, die ihn untersuchten, sogar einmal mitgeteilt, dass er auch sie gern töten würde. Die Psychiater hielten daher eine Resozialisierung - selbst unter Einsatz raffiniertester moderner Techniken - für wenig aussichtsreich und empfahlen die langjährige Inhaftierung in einem Hochsicherheitstrakt.
Viele andere widersprachen. Trotz der ablehnenden Haltung der Europäer gegenüber der Todesstrafe argumentierten zahlreiche Kommentatoren in den Niederlanden und anderswo, dass Dijkstra gemäß seiner ganz persönlichen Wertvorstellungen zum Tode verurteilt werden sollte. Schließlich würde seine Inhaftierung teuer werden, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er hinter Gittern zum Helden avancieren und mittels aus dem Gefängnis geschmuggelter Sendschreiben Gleichgesinnte mobilisieren könnte. Dijkstra, der ein besorgniserregendes Charisma besaß, hatte bereits erklärt, dass »der Kampf gerade erst begonnen hat« und dass in hundert Jahren »in ganz Europa an allen Straßenecken Statuen von mir stehen werden«.
Schließlich ergab sich eine Lösung. Der Mond befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem frühen Entwicklungsstadium: Auf der Vorderseite hatte der Bergbau begonnen, und an der Doppelmayer-Basis war das erste Hotel eröffnet worden. Allerdings waren die langfristigen physischen und psychischen Auswirkungen, die das Leben auf dem Mond mit sich brachte, zum größten Teil noch unbekannt. Expeditionen auf der Oberfläche waren notwendigerweise von kurzer Dauer und zeigten oft beunruhigende Nebenwirkungen, angefangen bei Strahlenvergiftung und vorübergehender Blindheit bis hin zu Halluzinationen und psychischen Zusammenbrüchen. In einem berühmt gewordenen Fall verlor ein Bergarbeiter in einer kleinen Fertigbau-Basis im Oceanus Procellarum den Verstand und zerhackte fünf Kumpels.
Daher erhielten Langzeit-Gefangene zuerst in Russland und den Vereinigten Staaten und schließlich überall auf der Welt die Chance, ihre Strafe auf der Rückseite des Mondes abzusitzen. Zwischen ihnen und der Erde würden dabei nicht nur mindestens 356700 Kilometer liegen - der Abstand vom Mond zur Erde am erdnächsten Punkt seiner Umlaufbahn -, sondern sie würden außerdem noch durch 3500 Kilometer Mondgestein - den Durchmesser des Mondes - von ihr getrennt sein. Sie würden in isolierten Habitaten leben - in »Iglus« von der Größe einer durchschnittlichen Zwei-Zimmer-Wohnung - und durch hoch verdichteten Mondsand oder »Regolith« vor Strahlung geschützt sein. Man würde ihnen keine Raumanzüge und auch keine LRVs (Lunar Roving Vehicles) zur Verfügung stellen. Sämtliche Vorräte würden durch störungssichere Luken ausgeteilt werden. Die gesamte, über sublunare Glasfaserkabel laufende ein- und ausgehende Kommunikation würde genauestens aufgezeichnet werden. Sofern ein persönlicher Kontakt unbedingt notwendig werden sollte, würde der betreffende Besucher - oder die Besucher - von einem Trupp bewaffneter Wachen begleitet werden. Die Gefangenen würden vollkommen allein sein, aber sie würden auch ein Maß an Autonomie behalten, das in einer irdischen Einrichtung absolut unmöglich wäre. Es würde kein Gefängnisregime geben. Keine Beleidigungen seitens der Wachen und anderer Gefangener. Kein gemeinsames Duschen. Kurz gesagt: keine Gelegenheit, vergewaltigt, geschlagen oder getötet zu werden. Und als Gegenleistung für diese Freiheit mussten die Gefangenen lediglich ihre physiologischen Veränderungen aufzeichnen und berichten sowie sich zu regelmäßigen festgesetzten Zeiten mittels Dachluken einer höheren Dosis ungefilterten Sonnenlichts aussetzen und sich per Tele-Link psychologischen Tests unterziehen.
Nach zwei Jahren Bürokratie wurde Kleef Dijkstra ein Aufenthalt in einem dieser Mondiglus zugestanden. Als er die Nachricht erhielt, zeigte er kaum eine Gefühlsregung. Tatsächlich schien er zu denken, dass es bereits beschlossene Sache gewesen war, als hätten höhere Mächte darüber entschieden. Mit der Erklärung, dass er »viel Arbeit zu erledigen« habe, bewarb er sich unverzüglich um die Mitgliedschaft in den bedeutendsten Bibliotheken und Informations-Datenbanken der Welt.
Fünfundzwanzig Jahre später ist Kleef Dijkstra einer der Menschen, die am längsten auf der Rückseite des Mondes leben. Nur der georgische Terrorist Batir Dadayev ist noch länger auf dem Mond als er. Genau wie die elf anderen Überlebenden des mittlerweile eingestellten Projekts namens »Off-World-Incarceration-Programm« (OWIP) leben diese beiden Männer in einem Radius von siebzig Kilometern im Gagarin-Krater in der südlichen Hemisphäre der Rückseite.
Verglichen mit ihrer Zeit auf der Erde sind alle dreizehn körperlich nicht mehr wiederzuerkennen. Sie sind deutlich größer geworden, weil ihre Wirbelsäule sich in die Länge gezogen hat. Ihr Brustkorb ist aufgrund der Umverteilung der Körperflüssigkeiten fassförmig geworden. Ihre Gesichter sind aufgequollen, ihre Beine dürr. Ihre Knochen sind brüchig, die Herzen kleiner. Ihr ganzer Körper hat sich auf subtile Weise an das Leben unter verringerten Schwerkraftverhältnissen angepasst.
Die mentalen Veränderungen sind hingegen nicht bei allen gleich verlaufen. Einige Gefangene wie Batir Dadayev haben ihre alten Ideologien widerrufen. Ein paar haben Symptome früher Demenz entwickelt. Andere sind in einem gewissen Maße sanfter geworden und behaupten sogar, sie würden so etwas wie aufrichtige Reue empfinden. Einer ist tief religiös geworden. Und schließlich gibt es noch eine hartnäckige Handvoll Menschen wie Kleef Dijkstra, deren Weltanschauung sich überhaupt nicht geändert hat.
Dijkstra ist, wie er Ihnen nur zu gern erzählen würde, mit einer bestimmten Absicht auf den Mond gekommen: Er hatte vor, sein politisches Manifest zu schreiben, ein Kompendium aus historischen Analysen, ökonomischen Theorien und autobiographischen Details im Stil von Mein Kampf (ein Buch, das Dijkstra für nachhaltig prägend, wenn auch äußerst dilettantisch hält). Selbstverständlich hat er die Sicherheitsvorkehrungen, die dafür sorgen sollten, dass seine Weisheiten unter Verschluss blieben, keinesfalls unterschätzt, aber er war zuversichtlich, seine Ärzte mit seiner rhetorischen Brillanz überzeugen zu können; bereits ein einziger würde genügen, damit seine Worte irgendwie nach draußen sickern könnten. Vielleicht würden seine Schriften auch im Laufe der Jahre von ganz allein das »öffentliche Interesse« erregen. Wie auch immer, es schien ihm nur eine Frage der Zeit, bis sein Manifest die verdiente Anerkennung bekommen würde.
Das ganze Dokument - »Briefe von der Rückseite des Mondes« - ist ziemlich brisant. Und zusammenhanglos. Gespickt mit sachlichen Ungenauigkeiten und höchst fragwürdigen Lesarten der Geschichte. Zudem ist es 3600 Seiten lang.
Dijkstra überarbeitet es inzwischen seit vollen zwei Jahrzehnten. Seine ursprüngliche Hoffnung, es würde sich so bald wie möglich in alle Welt verbreiten, hat sich als trügerisch erwiesen - seine Ärzte waren doch engstirniger, als er erwartet hatte. Aber er lässt sich davon nicht entmutigen. Die Verzögerung hat ihm einfach nur zusätzliche Zeit verschafft, noch mehr an seinen Argumenten zu feilen, sie mit weiteren historischen Präzedenzfällen anzureichern und symbolkräftige Geschichten - »Parabeln« - einzuflechten, um seine Standpunkte zu verdeutlichen. Ohnehin wurde Dijkstra schon bald klar, dass die »Briefe von der Rückseite des Mondes« kein gewöhnliches Manifest darstellen. Sie sind die neue Bibel. Auf ewig wird aus ihnen zitiert werden. Ganze Leben werden sich um sie drehen. Das Manuskript ist unendlich viel wichtiger als sein eigener dahinschwindender Körper. Es ist eine Zeitkapsel aus transzendentalem Genie, in den Kosmos geworfen, um Orte und Zeiten zu erreichen, die er sich noch nicht einmal annähernd vorstellen kann.
Während Dijkstra über all das nachdenkt - er arbeitet gerade an Buch XXVI, »Rot in Wahrheit & Gesetz: Die brutale Realität erfolgreicher Ökonomien« -, ertönt ein unverwechselbares Piepsen, und er stellt den Desktop-Monitor auf Außenansicht um. Eine Kamera zeigt den Bereich direkt vor der Tür seines Iglus.
Ein Mann ist da draußen. Steht auf der aschgrauen staubigen Ebene von Gagarin im lunaren Vakuum. Hinter ihm lodert die Sonne.
Nur kann er natürlich kein Mann sein, denn er trägt...
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