Schweitzer Fachinformationen
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Das ganze Schuljahr hindurch nahm Arlene zweimal pro Woche Klavierunterricht am YWCA in Shadyside. An den anderen fünf Tagen übte sie, vom stetigen Ticken des Metronoms begleitet, auf dem Klavier im hinteren Wohnzimmer und arbeitete sich Seite um Seite durch ein weiteres rotes Thompson-Buch. «Spinnliedchen». «Hasche-Mann». «Träumerei». Den Höhepunkt des Jahres bildete ein Osterkonzert, zu dem sie sich kleideten wie zum Kirchgang und an dessen Ende Henry auf den Fingerzeig ihrer Mutter hin die Bühne betrat und Arlene, auch wenn ihr ein halbes Dutzend Fehler unterlaufen waren, einen Strauß rote Rosen überreichte. Als seine Mutter ihm kurz vor dem Schulanfang eines Abends beim Essen fragte, ob er Lust habe, wie seine Schwester Klavierunterricht zu nehmen, war die Frage rhetorisch gemeint. Sie hatte ihn bereits angemeldet.
Der flehende Blick zu seinem Vater zeigte ihm, dass Widerspruch zwecklos war. Wie in allen Fragen waren seine Eltern sich einig. Henrys Erziehung fiel wie die von Arlene in den Zuständigkeitsbereich seiner Mutter, und jede weitere Beschwerde würde sie ihm übelnehmen. Henry saß entrüstet vor seinem Hackbraten und gab sich geschlagen. Wie lange hatten sie das geplant?
Er gab sich alle Mühe, es geheim zu halten, denn ihm war klar, dass seine Freunde erbarmungslos sein würden, wenn sie es herausfanden. Das YWCA war, wie der Name schon sagte, eine Einrichtung für Frauen, das hieß, es war eine doppelte Schmach. Als er in das Gewand eines Messdieners geschlüpft war, hatten sie ihn schon bezichtigt, ein Kleid zu tragen. Die Beleidigung hatte einen Ringkampf ausgelöst, der damit endete, dass Chet Hubbard versehentlich Henrys Kragen zerriss. Beim Geräusch des zerreißenden Stoffs waren die sie anstachelnden Clubmitglieder totenstill geworden, als läge ein Verstoß gegen eine heilige Regel vor. Während Chet sich zu entschuldigen versuchte, inspizierte Henry den Riss - unübersehbar, irreparabel -, wohl wissend, was ihn zu Hause erwartete. Das Einzige, wovor er sich noch mehr fürchtete, als Muttersöhnchen genannt zu werden, war seine Mutter.
Jetzt betrat er eine Welt, die komplett weiblich und fremdartig war. Die Lehrerinnen am YWCA waren Studentinnen vom Frick Conservatory, überspannte junge Frauen, die aus der ganzen Welt herbeiströmten, um bei Madame LeClair zu lernen, die bei Liszt gelernt hatte, der wiederum bei Czerny gelernt hatte, der bei Beethoven persönlich gelernt hatte, eine Herkunftslinie, mit der sich seine Mutter gleichermaßen vor Verwandten und Essensgästen brüstete, als könnte Henry oder Arlene ein unentdecktes Genie sein. Um das Geld für Kost und Logis zu verdienen, halfen Madame LeClairs Studentinnen den Töchtern aus Pittsburghs aufsteigender Mittelschicht bei ihrem Spiel vom Blatt und ihrer Fingerfertigkeit und brachten sie Note um Note, Takt um Takt weiter. Bei dem Konzert erhoben sie sich, um ihre Schülerinnen vorzustellen, und setzten sich dann wieder in die erste Reihe, um die unvermeidlichen Schnitzer mit heiterer Gelassenheit zu ertragen. Sie blieben zwei, manchmal drei Jahre, bevor sie zu einem Leben auf Konzertbühnen aufbrachen und man nie wieder von ihnen hörte.
Arlenes Lehrerin Miss Herrera war zurückgekehrt, doch die von Henry war neu. Miss Friedhoffer war eine gertenschlanke Deutsche mit rotblondem Haar und einem leichten Überbiss, deren unberingte Finger anderthalb Oktaven umspannten. Sie war größer als seine Mutter, aber schlank wie ein Mädchen, was ihre Hände noch sonderbarer erscheinen ließ. Der Übungsraum war eine kleine Kammer - bloß das Klavier und an der gegenüberliegenden Wand eine mit Notenlinien versehene Tafel, kein Fenster. Miss Friedhoffer schloss die Tür und nahm neben Henry auf der Bank Platz. Zu seiner Verwirrung war sie geschminkt, ihre Wangen rosig vom Rouge. Durch ihre Körperhaltung hatte sie etwas Wachsames, wie ein strammstehender Soldat.
«Setz dich gerade hin», sagte sie und zog behutsam seine Schultern zurück. «Lockere deine Ellbogen. So, hier.»
Mit zehn war für Henry die Gesellschaft junger Frauen, ob fremdartig oder nicht, ungewohnt. Die Lehrerinnen in der Schule waren im Alter seiner Mutter oder noch älter, die Mädchen in seiner Klasse boshaft und hochnäsig. Mit ihrem Akzent und dem Lippenstift wirkte Miss Friedhoffer wie jemand aus einem Spionagefilm. Als sie über die Tasten hinweggriff, um seine Handgelenke festzuhalten, duftete sie warm und hefig, wie frisches Brot. Am Hals hatte sie ein karamellfarbenes Muttermal von der Größe einer Zehn-Cent-Münze, das wie eine riesige Sommersprosse aussah. Unter ihrer blassen Haut zuckte eine bläuliche Ader.
«Wir fangen mit dem C an», sagte sie, deutete mit dem manikürten Fingernagel darauf, und Henry gehorchte. «Gut. So. Wenn du weißt, dass hier das C ist, kann dir nichts mehr passieren. Dann weißt du immer, wo du bist.»
Sie drückte die Taste und sang: «C, C, C, C. Jetzt du. Sing mit. Gut. Jetzt gehen wir einen Ganztonschritt zum D hinauf, hier.»
Anfangs zuckte er zusammen, wenn sie seinen Rücken tätschelte, damit er sich gerade hinsetzte. Doch schon bald ahnte er es voraus und freute sich darauf, dass sie seine Fingerhaltung korrigierte. Er stellte sich vor, wie sich die Leute über ihre Hände lustig gemacht hatten, als sie in seinem Alter war. Wie ein Ritter hätte er sie am liebsten vor ihnen beschützt. Während er durch die Dur-Tonleiter stolperte, merkte er, dass sie neben ihm mitsummte und ihre Beine sich fast berührten, und als der Unterricht vorbei war und sie die nächste Schülerin hereinließ, blieb er an der Tür stehen, das steife neue Übungsheft unter den Arm geklemmt, als hätte er etwas vergessen.
«Auf Wiedersehen, Henry», sagte sie und belohnte ihn mit einem Lächeln. «Üb schön.»
«Danke», sagte er. «Mach ich.»
In der Straßenbahn dachte er, dass ihm sein Name zum allerersten Mal gefallen hatte.
«Wie war dein Unterricht?», fragte seine Mutter.
«Ganz gut.»
Später, beim Abendessen, stellte ihm sein Vater die gleiche Frage.
«War okay.»
«Seine Lehrerin ist hübsch», spottete Arlene.
«Stimmt das?» Sein Vater war amüsiert.
Henry wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Er dachte, nur er könnte Miss Friedhoffers wahre Schönheit sehen.
«Magst du sie?», fragte sein Vater.
Jede Antwort, die Henry geben konnte, würde falsch klingen. Er zuckte mit den Schultern. «Ich glaub schon.»
«Anscheinend ist sie eine Deutsche», sagte seine Mutter. Sie würde den Deutschen nie verzeihen, dass sie seinen Onkel umgebracht hatten.
«Ich bin mir sicher, dass sie in Ordnung ist», sagte sein Vater.
«Ganz bestimmt.»
Dass seine heimliche Liebe verboten war, gab seinem Verlangen eine opernhafte Schuld. Um ihr Herz zu erobern, beschloss er, ein perfekter Schüler zu sein, nur war das Üben ohne ihre inspirierende Anwesenheit eine Plackerei, und trotz allerbester Absichten hinkte er schon bald hinterher. Statt sich auf die Wonne von Miss Friedhoffers Gesellschaft zu freuen, fürchtete er, sie zu enttäuschen, und dachte sich eine Reihe von Krankheiten aus, die ihn zu einem verdächtigen Zeitpunkt befielen. Nach einem Treffen mit Miss Friedhoffer beauftragte seine Mutter Arlene, ihn zu beaufsichtigen. Jetzt kommandierte sie ihn fünf Tage in der Woche vom Sofa aus herum, während er im Wohnzimmer die eine Stunde lang übte, sah von ihrem Buch auf, wenn er zu lange verstummte, und Tag für Tag, Seite um Seite, begann er sich wie durch ein Wunder zu verbessern.
«Das ist sehr gut, Henry», sagte Miss Friedhoffer und sah ihn an. «Du siehst, was passiert, wenn du übst.»
Als sie ihm in die Augen blickte, verspürte er eine lähmende Hilflosigkeit, als könnte sie seine Gedanken lesen. Er malte sich aus, wie sie ihn in die Arme schloss und ihr warmer Duft ihn umhüllte, seine Wange an ihrer glatten Seidenbluse lag. Stattdessen befeuchtete sie die Fingerspitze und blätterte zur nächsten Seite, zu einer Übung, die seine linke Hand kräftigen sollte.
Die Wahrheit ließ sich nicht lange verbergen. Als er und Arlene an einem grauen Donnerstag im November die Straßenbahn verließen, warteten Marcus Greer und sein kleiner Bruder Shep darauf einzusteigen. Henry befand sich noch in dem entrückten Traumzustand, der ihn nach dem Unterricht ergriff, und besaß nicht die Geistesgegenwart, sein Buch zu verstecken. Der rote Umschlag war ein verräterischer Hinweis. Marcus nickte anzüglich grinsend, um ihm zu zeigen, dass er es gesehen hatte, und am nächsten Tag machte sich Henry nach einer langen, ruhelosen Nacht auf das Schlimmste gefasst. Er kam früh in der Schule an, die Klingel hatte noch nicht geläutet. Seine Freunde warteten an der üblichen Stelle auf der Treppe, neben dem Fahnenmast. Aus einem Gefühl für ausgleichende Gerechtigkeit hoffte er, Marcus würde etwas zu ihm sagen, doch noch bevor Henry bei ihnen angekommen war, rief Charlie Magnuson, der bei der Mutprobe, mit dem Fahrrad die Stufen hinunterzufahren, seine Schneidezähne eingebüßt hatte: «Hey, Mozart!»
Als seine Mutter ihn im Büro des Direktors fragte, warum er sich mit einem Freund geprügelt habe, sagte Henry die Wahrheit. «Weil ich Klavierunterricht nehmen muss.»
«Das ist keine Antwort», sagte seine Mutter.
«Ich weiß, dass du nicht gern zum Unterricht gehst», sagte sein Vater später, als sie nach dem Essen zu zweit in seinem Arbeitszimmer waren. Er saß in Hemdsärmeln an seinem Rollschreibtisch. Auf der Schreibunterlage verstreut lagen aufgerollte Baupläne für das Gebäude, an dem seine Firma in der Innenstadt arbeitete. Es gab keinen Stuhl...
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