Schweitzer Fachinformationen
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Glenn Marchand klopft sich im Spiegel ans Gesicht und sieht zu, wie sich die Schnittwunde mit Blut füllt. Er hat sich heute schon einmal rasiert, für den Kirchgang, und trägt noch seine guten Schuhe und seine beste dunkle Hose. Sein gutes weißes Hemd und die kastanienbraune Paisley-Krawatte, die Annie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, hängen, sicher vor dem Barbasol und dem spritzenden heißen Wasser, am Griff der Badezimmertür. Auch das Hai Karate war ein Geschenk von ihr, zum Geburtstag, er weiß nicht mehr, zu welchem, aber er kann unbesorgt sein, es gefällt ihr. In der Schnittwunde brennt es wie Feuer. Ich mache mich viel zu fein, denkt Glenn. Er reißt eine Ecke Toilettenpapier ab, um die Blutung zu stillen.
«Du willst doch nicht zu spät kommen», ruft sein Vater von der Schlafzimmertür. Glenn entdeckt ihn im Spiegel und winkt über die Schulter.
Frank Marchand lehnt am Türpfosten und beobachtet, wie sein Sohn sich mit offenem Mund über das Waschbecken beugt und versucht, das winzige Dreieck mit den Fingern an die richtige Stelle zu kleben. Glenn ist jetzt seit drei Monaten zu Hause, ohne zu arbeiten. Er ist bei der Feuerwehr, aber ansonsten hat Frank keine Ahnung, was er mit seiner Zeit anfängt. Fährt durch die Gegend. Trinkt mit seinem Kumpel Rafe. Schläft. Sein Schlafzimmer ist ein einziges Durcheinander, wie das eines Kindes; der Hartholzfußboden ist mit Hemden, Schuhen und achtspurigen Bändern übersät, dazu Stücke von Bombers Kaustangen und seine Knochen aus ungegerbtem Leder, alle mit Büscheln von Hundehaar bedeckt. Das Zimmer riecht nach Bomber, der im Augenblick draußen in seiner neuen Hütte ist, ausgesperrt seit heute Morgen, als er Olive in wilder Dankbarkeit gegen den Küchentisch stieß und den ganzen Saft verschüttete. Frank geht zum Fenster. Bomber scheint es sich ganz bequem gemacht zu haben, mit übereinandergeschlagenen Pfoten, das Huskygesicht von einem ständigen Grinsen gespalten. Ein kalter Oktoberregen tropft von den Bäumen, und das Licht färbt die Laken des ungemachten Bettes grau. Eine Bibel liegt aufgeschlagen auf dem Nachttisch, stellenweise rot unterstrichen. Auf einem Stuhl in einem dunklen Winkel sitzt ein Plüschhase, den Glenn für Tara gekauft hat, mit einem roten Band um den Hals und die Arme ausgebreitet, als warte er nur darauf, jemanden damit zu umschlingen. Er ist fast so groß wie Tara selbst, und Frank will gar nicht daran denken, wie viel er gekostet hat.
Jeden zweiten Sonntag ist es dasselbe. Frank ist nicht Glenns leiblicher Vater, aber das ändert nichts daran, dass ihm das weh tut. Tara ist ihr einziges Enkelkind, das in Pennsylvania wohnt, und Glenn ist ihr Jüngster. Olive nennt ihn immer noch «unseren Kleinen», und es stimmt, Glenn hat sich nie auf die Welt eingelassen wie Richard und Patty. Er hat sowohl das Talent, Jobs zu finden, als auch, in letzter Zeit, sie wieder zu verlieren. Das liegt teilweise an seinem Charme, dem unverbesserlichen Optimismus, den er ausstrahlt. Er hat die Gabe, sich einzuschmeicheln - genau wie sein leiblicher Vater, denkt Frank, ein freundlicher, wirklich harmloser Mann, der, als sie das letzte Mal von ihm gehört haben, fünf bis fünfzehn Jahre in Minnesota absaß, weil er im Ruhestand lebende Paare um ihre Rente geprellt hatte. Frank hat versucht zu helfen, indem er Glenn an Leute aus seinem Bekanntenkreis vermittelte. Sie alle mögen Glenn zunächst, und dann fängt er an, zu spät zu kommen, sich krankzumelden oder, wenn er kommt, schlampig zu arbeiten - das alles kennt Frank mittlerweile. Es ist ihm ein Rätsel; er weiß, dass Glenn gut arbeiten kann. Der Junge ist verzweifelt, sagen ihm seine Freunde bei den Elks, gib ihm Zeit. Olive meint, die Rolle des Verkäufers wäre ihm auf den Leib geschrieben; er sehe im Anzug gut aus, er sei intelligent, und er habe gern mit Leuten zu tun. Er habe gern mit Leuten zu tun, stimmt Frank zu, aber er sei ihm immer eher gutmütig als intelligent vorgekommen, und was sein Aussehen betreffe, so kann Frank das, was Männer angeht, nicht beurteilen. Was ihm an Glenn als Junge gefiel, findet er jetzt langweilig - seine Ausgeglichenheit, sein unerschütterliches Vertrauen darauf, dass am Ende alles gut wird. Das stimmt jetzt alles nicht mehr, hat sich als verkehrt erwiesen. Es ist nicht nur die Trennung; seit kurzem lässt Frank ihn auch den Schlauch halten, statt ihn wie gewöhnlich im Rettungsdienst einzusetzen. Im entscheidenden Moment ist Glenn unentschlossen, und das kann für die Leute den Tod bedeuten. Frank versteht nicht, was los ist, warum dieser Sohn von ihm schon der ersten Pechsträhne nicht gewachsen ist. Er ist gern bereit, einen Teil der Schuld auf sich zu nehmen, aber nicht die ganze; die neue Kirche, die Glenn besucht, seit er versucht hat, sich umzubringen - die Lakeview New Life Assembly -, ist mitschuldig. Sie befindet sich in einem Fertigbau mit einem drei Meter hohen hölzernen Kirchturm, der obendrauf mit Draht festgezurrt ist, und man sollte einen großen Bogen darum machen. Frank versteht das nicht - er und Olive haben sie alle zu guten Presbyterianern erzogen. Olive sagt, es sei schon in Ordnung, es sei der einzige Halt, den er noch habe im Leben, das Einzige, was ihn bei der Stange halte. Sie macht Annie für alles verantwortlich. Frank widersteht dieser Versuchung; er hat sie immer gemocht. Sie war das einzig Gute in Glenns Leben.
Glenn hat den Föhn an. Von unten ruft Olive: «Viertel nach eins!»
«Es ist Viertel nach eins», brüllt Frank.
Glenn föhnt sich noch einen Augenblick lang die Haare, als hätte er nichts gehört, hört dann auf und zwängt sich in sein Hemd.
Frank bahnt sich einen Weg durch die Unordnung und lehnt sich an die Badezimmertür. «Wie sieht's mit Geld aus?»
«Alles klar», sagt Glenn, knöpft das Hemd aber nicht weiter zu.
Frank holt seine Brieftasche heraus, feuchtet einen Finger an und blättert seine Scheine durch. «Warum lädst du sie nicht auf Kosten ihres Großvaters irgendwohin ein?» Er gibt Glenn einen Zwanziger, wohl wissend, dass er das Wechselgeld einstecken wird.
«Danke», sagt Glenn. Er schaut auf seine Armbanduhr und dreht sich zum Spiegel, um die Krawatte umzubinden. Frank macht ihn auf einen Klecks Rasiercreme an seinen Koteletten aufmerksam, und Glenn wischt ihn weg.
«Wo gehst du heute mit ihr hin?»
«An den See. Vielleicht zum Einkaufszentrum raus. Die Fotoleute sind dieses Wochenende da.»
«Also, dann viel Spaß.»
«Haben wir immer», sagt Glenn mit einem solchen Schwung, dass Frank ihn am liebsten zum Hinsetzen nötigen und ihm sagen will, es sei schon in Ordnung, niemand gebe ihm die Schuld an dem, was passiert sei.
Glenn bekommt die Krawatte nicht in der richtigen Länge hin und wünscht sich, sein Vater würde aufhören, um ihn herumzuschleichen. Er versteht, dass er sich Sorgen macht; gestern hat Glenn sich mit Gary Sullivan drüben auf dem Hof des Abschleppdienstes unterhalten, und der war nahe dran, ihm einen Job zu versprechen. Als Glenn nach Hause kam, lagen ihm seine Eltern anfangs immer damit in den Ohren, warum er nicht arbeite; jetzt haben sie aufgehört, danach zu fragen. Wochentags beachten sie ihn kaum, aber sonntags behandeln sie ihn, als stünde irgendeine Auszeichnung für ihn an. Beim Abendessen fragen sie ihn aus und sehen sich dann aus Enttäuschung den Rest des Abends schweigend «Columbo» an. Er wird diesen Job bekommen und behalten, das spürt er. Es geht ihm besser. Er ist bereit.
Endlich kriegt er den Knoten richtig hin und knöpft die Ecken seines Kragens fest. Er nimmt das Stück Papier vom Kinn. Es ist noch nicht gut, aber gut genug; er ist schon spät dran. Sein Vater folgt ihm wie ein Leibwächter nach unten.
Sein Jackett hängt an der Rückseite der Küchentür. Kurz vor halb zwei, Annie wird sauer sein; ihre Mutter wollte, dass sie ein paar Einkäufe erledigt.
Glenns Mutter kommt vom Footballspiel herüber, um ihn zu verabschieden. Sie streicht die Ärmel seines Jacketts glatt, zupft Fusseln ab. «Bestell schöne Grüße von uns.»
«Mach ich», sagt Glenn und klimpert mit seinen Schlüsseln.
«Und erinnere Tara daran, dass sie nächstes Mal bei Oma und Opa vorbeikommen soll.»
«Mach ich», sagt er zu heftig, und es tut ihm leid. Sein Vater hält ihm einen Regenschirm hin, einen alten Totes, den Glenn ihnen vor Jahren mal geschenkt hat, und Glenn nimmt ihn schuldbewusst entgegen. Seine Mutter will einen Kuss haben, also bückt er sich und dreht seine Wange ihrem gepuderten Mund zu. «Ich muss los», sagt er.
«Dann geh», sagt sein Vater und öffnet mitten in einer feuchten Windbö die Hintertür. «Lass dich nicht von uns alten Leutchen aufhalten.»
Sie stehen auf der Veranda hinter dem Fliegendraht und sehen zu, wie er den Hof zu Bombers Hütte überquert. Glenn hat ein neues, blaues Halstuch für ihn, und Bomber zerrt an der Kette. Der Regen hat etwas nachgelassen. Der Hof ist mit nassen Blättern übersät. Olive weiß, dass Glenn todunglücklich nach Hause kommen wird, aber obwohl er selbst daran schuld ist, weil er nicht sieht, was seine Frau für eine ist, kommt sie nicht umhin, sich zu wünschen, es wäre anders. Sie denkt an das Bild, das Richard von seinem neuen Haus in Tucson geschickt hat, Debbie und Becky neben ihm in der Einfahrt, lächelnd und braun gebrannt. Hinten haben sie einen Swimmingpool. Richard hat ihnen zwei Tickets geschickt, damit sie ihn an Weihnachten besuchen kommen, und obwohl sie hinfahren werden, hat Olive das Gefühl, dass es nicht richtig ist, Glenn allein zu Hause zu lassen.
«Ich weiß nicht, was ich für ihn tun soll», sagt sie, die Arme verschränkt, um sich warm zu halten.
«Nichts», sagt Frank....
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