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Es sei bloß einer ihrer Schwächeanfälle gewesen, beteuerte Arlene. Die bekomme sie immer bei zu niedrigem Blutdruck. Sie wirkte nicht überrascht. Die Schnittwunde an ihrer Stirn, deren bläuliche Ränder durch eine faltige Naht zusammengehalten wurden, schien ihr mehr auszumachen. Nach diesem Geständnis stellte sich Emily vor, wie Arlene in ihrer Wohnung oder, noch beängstigender, hinter dem Lenkrad in Ohnmacht fiel. Arlene verstand nicht, was der ganze Wirbel sollte. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätte etwas essen müssen.
Weil die Ärzte das anders sahen, behielten sie Arlene da, um weitere Untersuchungen vorzunehmen, und verlegten sie in ein durch Vorhänge unterteiltes Patientenzimmer mit Blick auf die Reihenhäuser von Bloomfield. Zumindest hatten sie hier einen Fensterplatz. Die Wolken trieben über die Brücke hinweg, die das Tal überspannte und in den Bigelow Boulevard mündete. Die fünf Stockwerke tiefer liegenden, regennassen Straßenzüge sahen grau aus, die Ampeln in der Liberty Avenue die einzigen Farbtupfer.
Als die Rettungssanitäter Arlene aus dem Eat 'n Park schoben, hatte Emily gefragt, ob sie mitkommen könne. Nein, das sei gegen die Vorschriften, aber sie könne hinter ihnen herfahren, darum hatte sie in Arlenes Handtasche nach den Schlüsseln gekramt und den rutschigen Straßen die Stirn geboten. Sie hatte keine Angst gehabt, vermutlich wegen des freigesetzten Adrenalins. Doch als die Krankenschwester vorschlug, sie solle ein paar Sachen aus Arlenes Wohnung holen, damit sie es behaglicher habe, hätte Emily am liebsten gesagt, das Ganze sei eine einmalige, nicht wiederholbare Angelegenheit gewesen. Sie könnten den Wagen abschleppen lassen, und Emily würde mit einem Taxi nach Hause fahren.
«Kümmerst du dich um meine Handtasche?», fragte Arlene.
«Natürlich», erwiderte Emily.
«Sie wollen bestimmt Ihren Morgenrock und Ihre Hausschuhe haben», warf die Schwester ein. «Die meisten Leute tragen lieber ihre eigenen Schlafanzüge als unsere.»
«Wenn du mir mein Buch mitbringen könntest. Es müsste auf dem Nachttisch liegen. Entweder da oder auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Und könntest du bitte die Fische füttern? Die brauchen nur drei Prisen Trockenfutter. Das steht neben dem Aquarium.»
Emily verließ das Zimmer mit einer Liste und einem klaren Auftrag. Sie würde den Taurus bei Arlene stehenlassen, ihre Sachen holen und mit einem Taxi zurückkommen. Ihr größtes Problem wäre, auf der Straße zu parken. Hoffentlich gab es am Bordstein eine große Parklücke, in die sie einfach vorwärts hineinfahren konnte. Die musste nicht direkt vor der Tür liegen. Sie hatte keine Bedenken, ein paar Häuser weiter zu parken. Sie selbst fand die Gegend nicht besonders sicher, ein Puffer zwischen Wilkinsburg und Swissvale, doch Arlene ließ den Wagen jede Nacht draußen stehen.
Sie fuhr die unkomplizierteste Strecke, durch Shadyside, um den Penn Circle zu meiden. Es nieselte und war dunstig. Vielleicht traute sich bei dem Regen kaum jemand vor die Tür, denn in der Fifth Avenue war nicht viel los. Als sie am Arts Center und dem Grün des Mellon Parks vorbeikam, schätzte sie sich schon glücklich. Sie passte sich der Geschwindigkeit des Verkehrs an, achtete auf vor ihr aufleuchtende Rücklichter und bremste, wenn nötig. Niemand klebte ihr an der Stoßstange, niemand hupte. Es war schon eine Ewigkeit her, seit sie zum letzten Mal Auto gefahren war, doch an diesem Morgen stellte sie fest, dass sie hinterm Lenkrad viel weniger Angst hatte, als wenn sie neben Arlene saß.
Sie hatte sich ohne Grund Sorgen gemacht. Zu dieser Tageszeit lag Arlenes Straße verlassen da. Sie lenkte den Taurus zu dem freien Platz vor Arlenes Wohnung und rollte so dicht an den Bordstein, wie sie sich traute. Na also, dachte sie und schaltete die Zündung aus, doch als sie den Schlüssel abziehen wollte, steckte er fest.
Sie drückte ihn hinein, denn sie wusste, dass man das bei manchen Autos tun musste, aber es nützte nichts. Sie hatte ihre Mitgliedschaft im Automobilclub gekündigt und sah schon vor sich, wie sie hier festsaß und eine Werkstatt verständigen musste.
Sie drehte den Schlüssel, als wollte sie den Wagen wieder anlassen. Nichts. Das ergab keinen Sinn, und sie kontrollierte den Schaltknüppel. Der kurze neonfarbene Pfeil zeigte auf D.
«Du meine Güte.» Das war die Strafe für ihre Selbstzufriedenheit.
Wegen Arlenes Sachen hatte sie keine Hand für den Regenschirm frei. Sie zurrte die Regenhaube fest und stapfte mit gesenktem Kopf die Treppe hinauf. Auf der Veranda musste sie alles auf einem Gartenstuhl ablegen, um den Schlüssel ins Schloss stecken zu können, dann alles wieder zusammenraffen und es eine weitere Treppe hinaufschleppen. Sie war außer Atem und dachte, Arlene könne von Glück sagen, dass sie nicht hier umgekippt war und sich das Genick gebrochen hatte.
Oben machte das Treppenhaus einen Bogen, und es gab eine weitere Tür, die unverschlossen war und in einen engen Flur führte, durch den man zur Wohnung gelangte. Die Wohnung hatte eine seltsame Aufteilung, da sie früher wohl zu einem geräumigen Haus gehört hatte. Schon die Idee eines Zweifamilienhauses ging Emily gegen den Strich. Sie konnte sich nicht vorstellen, über jemandem zu wohnen, der jeden ihrer Schritte hörte. Sie wusste ihre Nachbarn zu schätzen, konnte sogar behaupten, dass sie Louise und Doug, Ginny und Gene Alford, Isabel und Ev Conroy, Dotty und Fred Engelmann, die ganze alte Clique, gemocht hatte, doch sie hätte nicht gewollt, dass sie jedem Schritt lauschten, den sie und Henry machten. Das war nur eine weitere Seite Arlenes, die sie nie verstehen würde.
In der Wohnung war es dunkel und stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Die einzigen Lichtquellen waren die Fenster und das summende Aquarium, das in grellem Unterwassergrün neben dem sargähnlichen Baldwin-Klavier von Henrys Mutter leuchtete. An den Wänden, von der Düsternis gnädig verborgen, hingen die unbeholfenen, missratenen Stillleben, die Arlene für ihre Volkshochschulkurse gemalt hatte - gewissenhaft schattierte Äpfel, Birnen und Weinflaschen, die, statt dreidimensional zu wirken, so flach wie Höhlenmalereien blieben. Sie und Henry besaßen selbst eins mit mehreren pockennarbigen, perspektivisch gezeichneten Orangen, das in Henrys Arbeitszimmer verbannt worden war. Obwohl Emily mit niemandem so viel Zeit verbrachte wie mit Arlene, beschränkte sich ihre Geselligkeit auf das öffentliche Leben und bestand aus Verabredungen, festlichen Anlässen und Unterhaltung. Nur selten drangen sie in die Privatsphäre des anderen ein, und allein in Arlenes Allerheiligstem hermzuschleichen kam ihr wie eine Sünde vor. Sie fragte sich, ob Arlenes Nachbar wohl unten war und insgeheim jeden ihrer Schritte verfolgte.
Sie benutzte die Küche als Basis, legte die Sachen auf den Tisch und hängte ihre Regenhaube über den Wasserhahn, ging dann durch die Zimmer und knipste überall das Licht an. In der Wohnung war es so ordentlich wie in einer Hotelsuite, alles abgeräumt und sauber gewischt, dabei kam Betty erst am Freitag. Da sie selbst einen endlosen Feldzug gegen die Unordnung führte, war Emily neidisch, doch zugleich hegte sie den Verdacht, dass diese Sauberkeit übertrieben, ja vielleicht sogar neurotisch war, ein Nebenprodukt des Umstands, dass Arlene, genau wie sie, nicht genug zu tun hatte.
Das Schlafzimmer war ein Museum, alle Möbel Erbstücke. Als wären es Arlenes eigene Kinder, lehnten die vertrauten Schulfotos von Margaret und Kenneth mit ihren zotteligen Siebziger-Jahre-Frisuren in schweren Silberrahmen auf der Kirschbaumkommode. Davor standen, aufgereiht wie Schachfiguren, kleinere Bilder der Enkelkinder und, ungerahmt, die neuesten Weihnachtsfotos der beiden Familien, aber keine einzige Aufnahme von Emily.
Sie fand Arlenes Buch auf dem Nachttisch - einen britischen Krimi, den Emily ihr geliehen hatte. Er lag auf einer kompakten Kunstlederbibel mit Goldschnitt, ein geknicktes Seidenband an der zuletzt aufgeschlagenen Stelle. Einen Augenblick dachte Emily, es sei Henrys Bibel, die sie für die stürmischen Nächte, in denen sie nicht schlafen konnte, neben dem Bett liegen hatte, aber nein, Arlenes Name war auf den Einband geprägt. Arlene hatte Margaret und Kenneth ähnliche Bibeln zur Konfirmation geschenkt, später auch den Enkelkindern, womit sie den Brauch aufs neue Jahrhundert übertragen hatte, aber als Geschenke hatten sie nie den angemessenen Dank geerntet. Emily überlegte, ob sie die Bibel auch mitnehmen sollte, doch vielleicht fände Arlene das anmaßend, und hier war sie ohnehin besser aufgehoben. Emily hatte alle möglichen Horrorgeschichten über Sachen gehört, die in Krankenhäusern verschwanden.
Sie durchsuchte Arlenes Kommodenschubladen nach einem BH, Unterwäsche und einem Paar Socken. Ihr Morgenrock und ihre Hausschuhe waren im Wandschrank, zusammen mit Dutzenden von Hutschachteln aus vergangenen Jahrzehnten, und obschon Emily versucht war herumzuschnüffeln, wusste sie, wie aufgebracht sie selbst wäre, wenn Arlene in ihren Sachen kramen würde, und schloss die Tür. Im Bad sammelte sie die Toilettenartikel ein und packte sie in einen Dopp-Kulturbeutel mit Monogramm.
Die Fischfütterung war einfach. Sie hob den Deckel an, streute drei Prisen übelriechender Flocken hinein und beobachtete, wie sie sich auf dem Wasser ausbreiteten.
«Na los, fresst», sagte sie, weil die Fische anfangs kein Interesse zeigten. Erst als sie den Deckel wieder geschlossen hatte und einen Schritt zurückgetreten war, tauchten sie auf und küssten die Wasseroberfläche. Als die Flocken Feuchtigkeit aufnahmen und hinabsanken, schossen die Fische heran, um sie abzufangen und...
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