Schweitzer Fachinformationen
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Juni 1910
Der Santa Ana wehte seit den Morgenstunden, fegte von den kahlen San Fernando Mountains herab ins Tal. Der heiße Wind, der einem die Kehle austrocknete, kam aus der roten Mojave-Wüste. Er wirbelte Staub auf und trieb Steppenläufer aus totem Gesträuch vor sich her. Die Landschaft war karg, der Baumbestand spärlich. Hier und da behaupteten sich ein paar Sykomoren und Zypressen, und vereinzelt ragten Agaven und fast mannshohe Kakteen aus dem verdorrten Gras. Ansonsten wuchs hier nur Chaparral. Flecken dieser niedrigen Hartlaubgehölze überzogen die sonnengebackene graubraune Erde mit einem dornigen Flickenteppich.
Schweiß rann Frank Maynard von der Stirn in die Augen, und er blinzelte ins grelle Mittagslicht. Klatschnass klebte ihm das sonnengebleichte Haar am Kopf. Es war ähnlich stumpf, zottelig und von Staub bedeckt wie das Gras. Dasselbe galt für den dunkelblonden Vollbart, den er sich seit einigen Monaten stehen ließ, weil ihm egal war, wie er aussah. Er sehnte sich nach einem eiskalten Drink. Wobei er sich mittlerweile auch mit einem großen Schluck Wasser zufriedengegeben hätte. Aber seine verbeulte Feldflasche hatte er längst geleert, und das schon vor einer guten Stunde. Seitdem war er auf keine noch so kleine Ortschaft gestoßen, wo er hätte haltmachen und seinen Durst stillen können. Nichts als diese öde Landschaft, in der sich alle paar Meilen abseits der Straße die bescheidenen Wohn- und Wirtschaftsgebäude einer armseligen Farm oder Ranch unter dem hohen Himmel duckten.
Die Luft über der Straße flirrte glasig. Obwohl, von einer Straße konnte eigentlich keine Rede sein. Bestenfalls handelte es sich um eine sandige Piste, um Fahrspuren von Pferdegespannen und wohl auch einigen Automobilen, die so etwas wie eine Wegmarkierung in den gebackenen Dreck dieser gottverlassenen Landschaft gegraben hatten. Zahlreiche Schlaglöcher, Querrillen und steinige Abschnitte machten die Fahrt zu einer mühsamen Rüttelpartie, die nicht nur ihm auf dem harten Sitz zusetzte, sondern auch seinem schwarzen Maxwell-Lieferwagen, dem er in den vergangenen vier Jahren und sechs Wochen viele Tausend Meilen Strapazen zugemutet hatte. Und das ließ der Wagen ihn in letzter Zeit mit häufigen Pannen spüren.
Die Piste stieg an, führte hinauf zu einer kahlen, von Canyons zerfurchten Bergkette. Er passierte ein verwittertes Holzschild am rechten Pistenrand. Es trug den kaum noch lesbaren Hinweis Cahuenga Pass 7 Meilen. Und für den ganz Begriffsstutzigen wies ein verblasster Pfeil auf die Berge, zu denen hin die Piste anstieg. Als gäbe es an dieser Stelle eine Kreuzung mit noch anderen Pisten!
Frank schaltete herunter. Zumindest versuchte er es. Aber das Getriebe verweigerte ihm ähnlich störrisch den Dienst wie am Morgen. Es krachte und knirschte, als wolle es ihm losgebrochene Zahnräder um die Ohren schleudern. Das aufheulende Kreischen ging ihm durch Mark und Bein.
»Verdammt, nicht schon wieder!«, fluchte er. Mit Motorschaden hier im Nirgendwo liegen zu bleiben, und das auch noch an seinem dreißigsten Geburtstag, hatte ihm gerade noch gefehlt!
Er trat mehrmals die schwergängige Kupplung, ruckte am Schaltknüppel und hämmerte den Gang schließlich ins Getriebe. Aber der Motor klang alles andere als gesund, und plötzlich war eine trockene Kehle Franks geringste Sorge. Im ersten Gang kroch er hinauf in die Berge. Kein Gefährt kam ihm entgegen, keines zeigte sich hinter ihm, nirgendwo eine Menschenseele.
Na wunderbar! Mein erster Tag in Kalifornien, und die Karre droht unter mir zu verrecken!, dachte er grimmig. So hatte er sich seine Rückkehr nicht vorgestellt. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, wieder nach Westen zu ziehen?
Seit er San Francisco verlassen hatte, lebte Frank Maynard in seinem Lieferwagen. Er hatte sich eine herunterklappbare Pritsche in den Frachtraum bauen lassen, besaß einen Klappstuhl, eine Petroleumlampe, einen Spirituskocher sowie eine Pfanne, einen Wasserkessel und zwei Töpfe. Dazu kamen ein wenig Besteck und zwei Eimer zum Wasserholen und Waschen. Das war im Großen und Ganzen sein Hausrat.
Auf seinen ziellosen Wanderungen war er bis hoch nach Wyoming und in die Dakotas gekommen, lange hatte er sich auch in Colorado, New Mexico und Arizona aufgehalten. Die großen Städte hatte er konsequent gemieden, selbst um die kleinen hatte er einen Bogen gemacht, oder er war, ohne anzuhalten, durchgefahren. Er begnügte sich mit den Provinznestern, in die noch kein Nickelodeon den Siegeszug des Stummfilms getragen hatte, und davon gab es zu seinem Glück landauf, landab noch unzählige. Ihm reichte ein ans Stromnetz angeschlossenes Wirtshaus, die Versammlungshalle des örtlichen Leichenbestatters oder der Gemeindesaal, um seine alten Filme zu zeigen. Meist war die Neugier größer als die Abneigung gegen Fremde. Und wenn sich auf diese Weise auch kein Vermögen verdienen ließ, so kam im Laufe der Jahre bei seiner asketischen Lebensweise doch einiges zusammen. Abgesehen von den ersten anderthalb Jahren, in denen er versucht hatte, den unerträglichen Schmerz und die Schuld im Alkohol zu ertränken. Gerade noch rechtzeitig hatte er begriffen, dass die Erlösung nicht in der Selbstzerstörung lag. Es waren bittere Jahre gewesen, aber er hatte eingesehen, dass er lernen musste, mit der Schuld und mit dem Schmerz zu leben. Der Weg zu dieser Erkenntnis war steinig gewesen, und die Mühsal, Tag für Tag danach zu handeln, war noch längst nicht vorbei.
Aber es gab Fortschritte. Mittlerweile konnte eine ganze Woche verstreichen, ohne dass er von grässlichen Albträumen heimgesucht wurde und er schweißnass aus dem Schlaf auffuhr, vor seinem geistigen Auge das Bild, wie Florence, die er nie hätte heiraten dürfen, in seinen Armen verblutete - und mit ihr das ungeborene Kind starb. Das war ihm während der ersten Jahre fast jede Nacht widerfahren. Er wusste, dass die Schuld ihn sein Leben lang begleiten würde, mal erdrückend, mal weniger quälend. Gnädiges Vergessen würde es jedenfalls nicht geben. Und das galt auch für Harriet, die Liebe seines Lebens, die er so sträflich verspielt hatte. Wie hätte er die Liebe zu ihr auch vergessen können? Das war, als wollte man sich einreden, man könne vergessen, dass man einen Arm oder das Augenlicht verloren hatte.
Als der Wagen plötzlich beschleunigte und der Motor in dem viel zu niedrigen Gang aufheulte, schreckte Frank aus seinen Gedanken auf. Er war über den Cahuenga Pass hinweg, und es ging auf der anderen Seite der Bergkette hinab in ein weites Tal. Wenige Meilen voraus zeichnete sich eine Ansammlung weit verstreuter Häuser ab, und sogar zwei bescheidene Kirchturmspitzen machte er aus.
Er versuchte, einen höheren Gang einzulegen, doch ohne Erfolg. Das Getriebe widersetzte sich allen Schaltversuchen, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als im ersten Gang weiterzufahren und zu hoffen, dass die Bremsen nicht versagten. Es roch gefährlich nach verbrannten Bremsklötzen, als er endlich in die Ortschaft rollte. Auch der Kühler schien kurz davor, ihm den Dienst aufzukündigen, quollen doch schon Schwaden von Wasserdampf unter der Haube hervor.
Endlose Zitrus- und Orangenhaine sowie andere Obstplantagen reihten sich aneinander. Einige bescheidene, eher vernachlässigt wirkende Farmbetriebe lagen staubig in der Mittagssonne. Hier und da tauchte auch ein halbwegs ansehnliches Wohnhaus auf, aber sie lagen verstreut wie ein willkürlich hingeworfener Haufen Bauklötze.
Auffallend waren die vielen Pfeffer- und Feigenbäume zu beiden Seiten der sandigen Straße, die in den Ort führte. Sogar ein paar Palmen mit müde herabhängenden Wedeln entdeckte er. Im Großen und Ganzen machte die Ortschaft einen ähnlich verschlafenen und trostlosen Eindruck wie zahllose andere Ansiedlungen, deren Gründer einst eine großartige Zukunft vorhergesehen hatten, nur um mit den Jahren zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sie einer Illusion aufgesessen waren und die Zukunft sich andernorts niedergelassen hatte.
Zu seiner großen Erleichterung entdeckte er kurz hinter dem Ortseingang eine Tankstelle. Genau genommen handelte es sich um eine einsame Zapfsäule vor einem Wellblechschuppen, der sichtlich neueren Datums war. Er stand im Schatten eines großen scheunenartigen Gebäudes aus verwittertem Holz, dessen Wände eine unübersehbare Neigung in Richtung des hier vorherrschenden Windes vorwiesen. Über dem Doppeltor der Scheune stand in gerade noch entzifferbarer weißer Schrift: McGregor's Livery Stable, und darunter, in frischer Farbe, der Zusatz: & Automobile Garage.
»Vielleicht gibt es ja doch einen gnädigen Gott!«, murmelte Frank dankbar und lenkte den qualmenden Lieferwagen vor den Wellblechschuppen. Das weit offen stehende Tor gab den Blick auf einen Ford mit aufgeklappter Motorhaube frei. Davor stand ein Mann, mit dem Rücken zur Straße, und beugte sich über die Maschine. Indessen gab Franks Maxwell ein letztes Kreischen von sich und erstarb, als wüsste der Motor, dass er sich nicht weiter zu quälen brauchte.
Frank stieß einen schweren Seufzer aus, hievte sich mit steifen Gliedern aus der Fahrerkabine und schob sich den staubigen schwarzen Filzhut in den Nacken.
Der Mann, eine schlaksige Erscheinung in einem ölverschmierten dunkelblauen Overall, unter dem die nackte Brust hervorschaute, trat von dem Ford zurück und kam ohne Eile aus dem Schuppen ins Freie. Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab und warf einen interessierten Blick auf den noch immer qualmenden und nach verbrannten Bremsklötzen stinkenden Lieferwagen. Er hatte krauses, dunkelrotes Haar, und sein Gesicht, in dem aufmerksame Augen lagen, war gesprenkelt von...
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