Schweitzer Fachinformationen
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1898
Nichts liebte Harriet Caldwell so sehr wie den lärmenden, quirligen Hafen, vor allem den sichelförmigen Bogen der zahllosen Landungsbrücken von North Beach. Wie die Füße eines Tausendfüßlers ragten die vorspringenden Piers der Waterfront in die kalten Fluten der San Francisco Bay. Der Hafen war ein Ort, dessen Magie mit Händen zu greifen war und der alle Sinne betörte. Harriet ergriff jede Gelegenheit, ihren Vater in sein Kontor am Ende der Vallejo Street zu begleiten, wo, nur einen Steinwurf entfernt, die Schiffe der Caldwell Shipping Company an der gleichnamigen Pier anlegten.
Evelyn Caldwell missbilligte die Ausflüge in die Niederungen der gewöhnlichen Leute, wie sie die Hafenbesuche ihrer Tochter zu nennen pflegte, aufs Schärfste. Eine solch widernatürliche Neigung, ganz zu schweigen von der Verfehlung, ihr immer aufs Neue nachzugeben, schicke sich nicht für eine junge Dame von Stand und werde noch ihren guten Ruf gefährden.
Zum Glück sah der Vater das völlig anders und ließ sich durch die Vorhaltungen der Mutter nicht davon abhalten, seine Tochter gelegentlich mitzunehmen. Zwar hegte Harriet seit Langem den Verdacht, dass es ihm dabei weniger darum ging, ihr einen Herzenswunsch zu erfüllen, als vielmehr darum, der Mutter ihre Grenzen aufzuzeigen, aber das änderte nichts daran, dass sie ihm dankbar war und jede Minute mit ihm an der Waterfront genoss. Es machte ihr auch nichts aus, dass er ihre Gegenwart im Kontor manchmal völlig zu vergessen schien. Vielleicht nahm er sie ja doch wahr, irgendwie im Hintergrund, und sah nur keinen Grund, ihretwegen seine Arbeit zu unterbrechen. So genau wusste sie es nicht, und letztlich war es auch egal, solange sie nur in seiner Nähe sein durfte. Deshalb hütete sie sich, ihn anzusprechen oder sonst wie Aufmerksamkeit zu erregen, und so konnte es geschehen, dass sie stundenlang hinter seinem schweren Schreibtisch mit den messingbeschlagenen Kanten in der Ecke saß, während er Papiere studierte, mit kratzender Feder Eintragungen in dicke ledergebundene Rechnungsbücher vornahm und mit Cecil Slocum, dem Prokuristen und strengen Herrscher über die Buchhaltergehilfen an ihren Stehpulten vorn in der Schreibstube, geschäftliche Belange besprach. Für diese besonderen Stunden hatte sie unter dem Ohrensessel aus seegrünem Leder ein Buch mit spannenden Geschichten versteckt.
An diesem frühen Aprilmorgen jedoch hielt es Harriet nicht im Kontor, auch ihr Buch lockte sie nicht. Wobei sie nicht wusste, was ihr mehr zusetzte: die bedrückende Gewissheit, dass sie schon in wenigen Wochen in ein vornehmes Mädchenpensionat an der Ostküste verbannt sein würde, die Wolken beißenden Zigarrenrauchs, die unter den rußgeschwärzten Deckenbalken durch den Raum waberten, oder die haarsträubenden Anekdoten ihres Vaters. Er hatte die drei Eigner eines zum Verkauf stehenden Dreimasters zu Besuch, was ihn veranlasst hatte, eine Flasche Kognak zu entkorken, die Kiste mit seinen guten Zigarren herumgehen zu lassen und Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben zum Besten zu geben. Ganz in seinem Element, schwelgte er in Erinnerungen an jene Zeit, als er mit seinem ersten Schiff, dem Schoner Sansibar, die Meere befahren und sich auf manche riskante Unternehmung eingelassen hatte. Und Onkel Henry, achtzehn Jahre jünger als der Vater und damals als junger Bursche an seiner Seite, gab fröhlich die Stichworte. Der Vater wusste auch nach fast zwei Jahrzehnten an Land noch Seemannsgarn zu spinnen wie kaum ein anderer.
Harriet hatte von den Abenteuern, die der Vater und Onkel Henry in der Südsee und anderswo bestanden hatten, in den dreizehneinhalb Jahren ihres Lebens schon zu oft gehört, um ihnen noch etwas abgewinnen zu können. Zudem wollte sie endlich den Clipper namens Davenport sehen, der an der Pacific Street Pier vertäut lag. Diesen schnittigen Dreimaster wollte der Vater kaufen. Die fünf Schoner und zwei Raddampfer, aus denen die recht betagte Flotte der Caldwell Shipping Company zurzeit bestand, waren vorwiegend im Küstenhandel eingesetzt. Wobei die Raddampfer ausschließlich den Sacramento, den American und den San Joaquin River befuhren, die schiffbaren Flüsse des Hinterlands. Mit dem Clipper, der aus einer angesehenen Werft in Maine stammte und ein echter Downeaster mit mächtigem Frachtraum war, wollten der Vater und Onkel Henry nun endlich im großen Stil in den lukrativen Überseehandel mit Südamerika und Australien einsteigen. Nach dem Kauf sollte er auf Samoa umgetauft werden, denn die Namen aller Schiffe der Caldwell Shipping Company fingen nach alter Tradition mit einem S an und trugen den Namen einer Insel.
Niemand achtete auf Harriet, als sie sich durch die Hintertür aus dem verräucherten Kontor schlich. Dort, in der Seitengasse, stand die väterliche Kutsche an dem Eisenring festgebunden, der oben an der Ecke zum Pier aus dem Mauerwerk der Hauswand ragte. Magnus Magnussen, ihr schwedischer Kutscher, hatte der Rotfuchsstute den Hafersack vors Maul gehängt. Er selbst wartete drüben in »Callahan's Tavern« darauf, dass seine Dienste wieder gebraucht wurden. Vermutlich tunkte er seinen Walrossbart mittlerweile schon in den Schaum von seinem zweiten Humpen Bier.
Fahl milchige Nebelschleier trieben träge durch die Sackgasse, die nur wenige Meter hinter ihr vor den beiden Backstein-Lagerhäusern der Caldwell Shipping Company endete. Der Nebel fühlte sich an wie feuchter Atem auf dem Gesicht. Augenblicklich fiel Harriets Hoffnung, freie Sicht auf den Dreimaster unten am Pier zu haben, in sich zusammen wie Hefeteig in kalter Zugluft. Die beschlagenen Fenster des Kontors und das beständige dumpfe Tuten der Nebelhörner, das ihr wie ein Chor verlorener Seelen vorkam, hatten also doch nicht getrogen!
Enttäuscht blieb sie oben an der Ecke stehen, neben der Rotfuchsstute Becky, deren Kiefer träge Hafer zermahlten, und überlegte, ob sie sich auf die Pier hinauswagen sollte. Was gefährlich werden konnte, denn bei dem wallenden Nebel, der zudem dichter zu werden schien, vermochte sie keine zehn Schritte weit zu sehen. Statt wie an klaren Tagen in beiden Richtungen der Waterfront einen Wald aus Masten, Schornsteinen und Dampfkränen sowie ein manchmal geradezu ameisenhaftes Menschengewimmel vor Augen zu haben, sah sie jetzt nur hier ein Stück Bugspriet, dort einen halben Schornstein und an anderer Stelle den erstarrten Arm eines Ladebaums verloren aus der Nebelsuppe ragen.
Unschlüssig blickte sie in das milchige Treiben und rang mit sich, ob sie sich wirklich trauen sollte, als plötzlich wütendes Geschrei zu hören war. Es kam aus der Richtung der südlich liegenden Landungsbrücken, von der Broadway oder der Pacific Pier. Der Nebel dämpfte alle Geräusche wie eine Wand aus Watte, deshalb verstand sie zunächst nicht, was die rauen Männerstimmen riefen. Doch sie wurden schnell lauter, kamen näher, und dann war ihr zorniges Gebrüll selbst im Nebel nicht mehr misszuverstehen.
»Verdammte Austernräuber!«
»Wir kriegen euch, ihr dreckiges Pack!«
»Zum Teufel, haltet die Austernpiraten!«
»Ich mach euch fertig! Ihr plündert nicht noch einmal unsere Austernbänke, darauf könnt ihr Gift nehmen!«
Kaum hatte Harriet begriffen, wem die Männer auf den Fersen waren, tauchten vor ihr zwei Gestalten aus den Nebelschwaden auf. Junge abgerissene Burschen in fadenscheinigen halblangen Hosen, mit einem Strick als Gürtel und nacktem, braun gebranntem Oberkörper. Sie mochten sechzehn, siebzehn sein. Der eine hatte dunkles Haar, kraus wie Putzwolle, dem anderen quoll eine wild zerzauste weizenblonde Mähne unter der Schirmmütze aus bunten Flicken hervor. Der Krauskopf humpelte auf dem rechten Bein, blieb wenige Schritte vor der Gasse stehen und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Knöchel. Beide keuchten vor Anstrengung. Ein hastiger Wortwechsel entspann sich zwischen ihnen.
»Los, weiter, Lenny!«, drängte der Bursche mit der Flickenkappe und packte den Humpelnden am Arm.
»Verdammt, ich kann nicht mehr. Es tut höllisch weh!«
»Warte, bis uns die Fischer erwischen!«
»Mann, ich kann wirklich nicht, Frankie! Sieh zu, dass wenigstens du mit heiler Haut davonkommst!«
»Spinnst du? Kommt nicht infrage!«
Inzwischen polterten schwere Stiefel bedrohlich laut über die dicken Planken. Die Verfolger waren nahe. In ein paar Sekunden war das Schicksal der beiden besiegelt.
Harriet überlegte nicht lange. »Hey, ihr da!«, machte sie sich mit einem lauten Flüstern bemerkbar. »Hier in der Kutsche könnt ihr euch verstecken!«
Die beiden jungen Männer fuhren herum, ergriffen die Chance auf Rettung ohne Zögern, kamen zu ihr in die Gasse gelaufen und sprangen in die Kutsche. Selbst Lenny schaffte die wenigen Schritte in Windeseile, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen.
»Los, runter mit euch! Auf den Boden!«, raunte Harriet, folgte ihnen geschwind und dachte noch früh genug daran, den Kutschschlag nicht mit einem lauten Knall zu schließen, sondern leise ins Schloss zu ziehen. Sie rutschte auf die Bank in Fahrtrichtung, stellte ihre Füße, die in geschnürten Stiefeletten steckten, auf den Rücken von einem der Austernpiraten, schob eiligst das Fenster im Kutschschlag nach unten und beugte sich scheinbar neugierig hinaus.
Keine Sekunde zu früh.
Am Eingang zur Gasse erschienen die Verfolger der Austernräuber. Vier atemlose kräftige Fischer in derbem Zeug und klobigen Stiefeln, die ihnen die Verfolgung nicht leichter gemacht hatten. Sie hielten Prügel in den schwieligen Fäusten, und das Verlangen nach blutiger Gewalt sprang ihnen förmlich aus den Augen.
»Verdammt noch mal! Ich habe sie doch gerade noch gesehen!«, brüllte einer der...
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