Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich blickte auf das Blatt auf meinem Tisch.
Auf das "Wer bin ich?"-Formular.
Ganz oben hatte Mrs. Willibey "Charlemagne Reese" geschrieben.
Ich setzte ein fettes X auf "Charlemagne" und schrieb stattdessen "Charlie" drauf.
Mein Name ist Charlie. Charlemagne ist ein blöder Name für ein Mädchen, was ich meiner Mutter schon ungefähr eine Trilliarde Mal gesagt habe.
Ich schaute mich um und betrachtete all die Landeier um mich herum, die in ihren Arbeitsheften Matheübungen machten.
Meine beste Freundin Alvina hat mich vorgewarnt, dass es hier nur Landeier gibt.
"Du wirst Colby hassen", hatte sie gesagt. "Da gibt es bloß Feldwege mit rotem Staub und Landeier." Sie hatte ihr seidiges Haar über die Schulter geworfen. "Und ich wette, die essen Eichhörnchen", hatte sie hinzugesetzt.
Ich musterte die Brotdosen unter den Tischen rechts und links von mir und fragte mich, ob darin vielleicht Eichhörnchen-Sandwiches lagen.
Dann blickte ich wieder auf das Formular vor mir. Ich sollte den ganzen Kram ausfüllen, damit meine neuen Lehrer wussten, wer ich bin.
In die Zeile neben der Aufforderung Beschreibe deine Familie schrieb ich "mies".
Was ist dein Lieblingsfach in der Schule? "Keins."
Nenne drei deiner Lieblingsbeschäftigungen. "Fußball, Ballett, Prügeln."
Zwei dieser Angaben waren gelogen, aber eine davon stimmte.
Ich prügelte mich gern.
Meine Schwester Jackie hatte Daddys tintenschwarzes Haar geerbt und ich sein unbeherrschtes Temperament. Wenn ich jedes Mal einen Penny bekäme, wenn jemand behauptet: "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", wäre ich reich. Daddy prügelt sich so oft, dass man ihn "Klopper" nennt. Tatsache ist, dass der alte Klopper genau jetzt, in dieser Minute, während ich hier in Colby, North Carolina, inmitten von Landeiern festsitze, mal wieder in Raleigh im Knast hockt. Und zwar wegen seiner Vorliebe für Prügeleien.
Ich brauche auch keine Kristallkugel, um zu wissen, dass Mama genau jetzt, in dieser Minute, im Bett liegt, die Vorhänge zugezogen und neben ihr auf dem Nachttisch leere Coladosen. Dort bleibt sie den ganzen Tag. Wenn ich da wäre, würde sie sich einen Dreck darum scheren, ob ich zur Schule gehe oder auf dem Sofa hocke, Fernsehen gucke und Kekse zum Mittagessen futtere.
"Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs", meinte diese Sozialarbeiterin, als sie die Liste an Gründen herunterratterte, warum man mich in dieses abgeschiedene Nest am Hinterteil der Welt verfrachtete, zu zwei Leuten, die ich nicht einmal kannte. "Es ist besser, bei Angehörigen zu wohnen", sagte sie zu mir. "Gus und Bertha gehören zur Familie."
"Wie denn?", fragte ich.
Sie sagte, dass Bertha Mamas Schwester sei und Gus ihr Ehemann. Sie sagte auch, dass sie keine Kinder hatten und mich mit Freude aufnehmen würden.
"Aber wieso darf meine Schwester zu Carol Lee ziehen?", fragte ich ungefähr eine Million Mal. Carol Lee ist Jackies beste Freundin. Sie wohnt in einem schicken Backsteinhaus mit einem Swimmingpool. Ihre Mama steht jeden Morgen auf und niemand nennt ihren Daddy "Klopper".
Die Sozialarbeiterin meinte, dass Jackie ja praktisch schon erwachsen sei und in ein paar Monaten die Highschool abschließen würde.
Als ich ihr erklärte, dass ich auch kein Baby mehr war, da seufzte sie, lächelte gekünstelt und sagte: "Charlie, du musst für eine Weile bei Gus und Bertha wohnen."
Ich hatte diese Leute nie zuvor gesehen und jetzt sollte ich bei ihnen wohnen? Als ich fragte, wie lange ich dort bleiben müsste, meinte sie, bis alles geregelt sei und Mama wieder festen Boden unter den Füßen hätte.
Also echt, wie schwer kann das denn sein? Festen Boden gibt es doch überall! - Genau das dachte ich darüber.
"Du brauchst geordnete Familienverhältnisse", sagte sie zu mir. Aber was sie damit eigentlich ausdrücken wollte, war: "Du brauchst eine Familie, die nicht so kaputt ist wie deine."
Ich jammerte und protestierte, jammerte und protestierte und trotzdem hocke ich jetzt in Colby, North Carolina, und starre auf dieses "Wer bin ich?"-Formular.
"Bist du fertig, Charlemagne?" Ganz plötzlich stand Mrs. Willibey neben mir.
"Ich heiße Charlie", erwiderte ich und ein Junge mit fettigen Haaren in der ersten Reihe stieß ein prustendes Lachen aus. Ich starrte ihn mit meinem berüchtigten bösen Blick an, bis er verstummte und rot wurde.
Ich reichte Mrs. Willibey das Blatt und sah, wie ihre Augen darüber hinweghuschten. Sie bekam rote Flecken am Hals und ihre Mundwinkel zuckten. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie nach vorn zu ihrem Pult und ließ das Papier darauffallen wie eine heiße Kartoffel.
Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und wischte mir die schweißnassen Handflächen an meiner Shorts ab. Es war erst April und trotzdem schon so heiß wie in einem Backofen.
"Soll ich dir damit helfen?" Der Junge vor mir deutete auf das Blatt mit den Matheaufgaben auf meinem Tisch. Er hatte rote Haare und trug eine Brille mit einem hässlichen schwarzen Rahmen.
"Nein", antwortete ich.
Er zuckte mit den Schultern, holte einen Bleistift aus seinem Tisch und ging nach vorn zum Spitzer.
Hoch.
Runter.
So ging er.
Als ob ein Bein kürzer wäre als das andere.
Und er zog einen Fuß nach, sodass sein Sneaker über den Boden quietschte.
Ich schaute auf die Uhr.
Verdammt! Ich hatte 11:11 Uhr verpasst.
Ich habe eine Liste von allen möglichen Gelegenheiten, bei denen man sich etwas wünschen darf. Wie zum Beispiel, wenn man ein weißes Pferd sieht oder die Schirmchen von einer Pusteblume abbläst. Um Punkt 11:11 Uhr auf die Uhr zu schauen, steht auch auf meiner Liste. Das hatte mir ein alter Mann erzählt. Er war der Besitzer eines Angelladens an dem See, wo Klopper und ich früher angeln waren. Und weil ich jetzt 11:11 Uhr verpasst hatte, musste ich eine andere Möglichkeit finden, mir meinen Wunsch für den heutigen Tag zu sichern. Seit dem Ende der vierten Klasse hatte ich keinen einzigen Tag ohne Wunsch verbracht und damit wollte ich jetzt ganz bestimmt nicht anfangen.
Da nickte Mrs. Willibey dem rothaarigen Jungen zu, der seinen Bleistift spitzte, und sagte: "Howard, wie wäre es, wenn du eine Weile Charlies Klassenpartner wärst?"
Mrs. Willibey erklärte mir, dass alle neuen Kinder an der Schule einen Klassenpartner bekommen, der sie herumführt und ihnen die Regeln erklärt, bis sie sich eingewöhnt haben.
Howard grinste und meinte: "Klar, Mrs. Willibey." Und damit hatte ich einen Klassenpartner, ob ich wollte oder nicht.
Der Rest des Nachmittags schleppte sich dahin. Ich hielt es kaum noch aus. Ich starrte aus dem Fenster, während die anderen Kinder abwechselnd mit ihren Sozialkunde-Projekten prahlten. Es nieselte und dunkelgraue Wolken brauten sich über den Berggipfeln in der Ferne zusammen.
Als die Schulglocke endlich läutete, schoss ich aus dem Klassenzimmer, geradewegs zum Bus. Ich drängte mich durch den Gang bis ganz nach hinten, wo ich mich auf einen Sitz in der letzten Reihe fallen ließ. Meine Augen hefteten sich auf einen eingetrockneten Kaugummi, der auf der Rückenlehne des Sitzes vor mir klebte, während ich Lasergedanken durch den Bus strahlte.
Setz dich nicht neben mich.
Wenn ich schon in einem Bus mit lauter Kindern fahren musste, die ich nicht kannte, wollte ich wenigstens meine Ruhe haben und allein sitzen.
Meine Lasergedanken schienen zu funktionieren, weshalb ich den Blick von dem Kaugummi hob und aus dem Fenster schaute.
Der rothaarige Junge mit dem Hoch-Runter-Gang eilte zum Bus, wobei sein Rucksack bei jedem Schritt gegen seinen Rücken schlug.
Als er einstieg, richtete ich meinen Blick blitzschnell zurück auf den Kaugummi und sendete wieder meine Lasergedanken.
Aber dieser Junge kam einfach schnurstracks durch den Gang zu mir und ließ sich neben mich auf die Bank fallen.
Dann hielt er mir seine Hand hin und sagte: "Hallo, ich bin Howard Odom." Er schob seine hässliche schwarze Brille nach oben und setzte hinzu: "Dein Klassenpartner."
Also echt, in unserem Alter schüttelt man sich doch nicht die Hände! Jedenfalls macht das niemand, den ich kenne.
Seine Hand blieb ausgestreckt und er starrte mich so lange an, bis ich nicht mehr anders konnte: Ich nahm seine Hand und schüttelte sie.
"Charlie Reese", sagte ich.
"Woher kommst du?"
"Raleigh."
"Warum bist du hier?"
Der war aber ziemlich neugierig. Ich dachte, dass er mich vermutlich ganz schnell in Ruhe lassen würde, wenn ich ihm einfach die knallharte Wahrheit erzählte. Vielleicht wollte er dann auch nicht mehr mein Klassenpartner sein.
"Mein Daddy ist im Knast und meine Mama liegt den ganzen Tag im Bett", antwortete ich.
Der Junge zuckte nicht einmal mit der Wimper. "Warum ist er im Gefängnis?"
"Weil er sich geprügelt hat."
"Warum?"
"Was meinst du?"
Er wischte sich die beschlagenen Brillengläser am Saum seines T-Shirts sauber. Sein Gesicht war in der feuchten Hitze des Busses rosarot geworden. "Warum hat er sich geprügelt?"
Ich zuckte mit den Schultern. Niemand wusste, warum Klopper sich prügelte. Außerdem gab es wahrscheinlich noch andere...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.