Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Dunker hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Manchmal wusste er nicht, welcher Wochentag war. Es war ihm egal. Jeder Tag hatte das gleiche Gesicht. Sein Lebensrhythmus war fremdbestimmt. Man sagte ihm, wann er aufstehen musste und wann das Licht zu löschen sei. Die Stunden dazwischen waren streng reglementiert. Zunächst hatte er sich geweigert, zu arbeiten. Man hätte ihn nicht verhungern lassen. Und mit körperlicher Züchtigung wie in sibirischen Arbeitslagern konnte man ihm auch nicht drohen.
Seine Weigerung währte nicht lange. Mittlerweile wartete er darauf, dass seine Schicht begann. Der Arbeitstag als Helfer in der Gefängnisküche brachte Abwechslung in die Monotonie, die ihn sonst erschlagen würde. Er wehrte sich auch nicht mehr gegen die Demütigungen, die ihm widerfuhren.
Als er der Küche zugeteilt wurde, trat Igor an ihn heran. Der gebürtige Russe mit dem kahlen Schädel war der inoffizielle Chef der Helferbrigade, die sich aus Strafgefangenen rekrutierte. Igor saß seit sechzehn Jahren im Gefängnis und hatte sich das Wohlwollen der Schließer und damit eine herausragende Rolle erworben. Er beaufsichtigte die Helfer und teilte ihnen die Arbeiten zu. Für das Aufsichtspersonal in der Küche war das bequem. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Arbeiten gewissenhaft ausgeführt wurden. Aufkeimende Unruhe erstickte Igor, ohne dass seitens des Personals eingegriffen werden musste.
Dunker hatte sich das zwei Tage lang angesehen. Als Igor ihn für Reinigungsarbeiten abstellte und Dunker die fettigen Großkessel mit den Soßenresten schrubben sollte, hatte er Igor geantwortet, dass das ein Job für Russen sei, insbesondere wenn sie einen flachen Schädel wie Igor hätten und damit den Neandertalern ähnelten.
Igor hatte Dunker aus dem Nichts heraus einen Leberhaken verpasst und gesagt, beim nächsten Mal werde die Maßnahme härter ausfallen.
Zwei Tage später hatte Dunker es erneut versucht. Es schien, als würde in der Küche ein Machtkampf entstehen, wer als Leitbulle das Rudel anführte. Dunker hatte eine Soßenkelle gegriffen und sich drohend vor Igor aufgebaut.
»Scheißrusse«, hatte er geschrien. Igor solle nicht den starken Max markieren, auch wenn er lebenslänglich in der Haftanstalt saß, weil er als »Wachmann« für einen russischen Clan zwei Mitglieder einer anderen Mafia-Familie wie räudige Hunde erschlagen hatte.
»Halt die Fresse, du alter Sack.« Igor hatte sich seelenruhig umgedreht. Alle anderen Strafgefangenen der Küchencrew waren eilfertig an weit entfernte Plätze gehastet, während Dunker sich zufrieden seinem Arbeitsplatz zuwandte und den Gemüseschneider auseinandernahm. Er hatte nicht mitbekommen, dass sich Igor von hinten näherte. Erst als sich drei Liter kochend heiße Brühe über seinen Rücken ergossen, schrie er auf.
Die Narben dieses »Unfalls« zierten noch heute seinen Rücken. Dunker hatte begriffen, dass er sich nach der Befragung durch die Anstaltsleitung bei Igor entschuldigen musste, da er dem Russen unvorsichtigerweise unter Missachtung aller Sicherheitsvorschriften in den Weg gestolpert war. Wie leicht hätte sich auch Igor verbrühen können.
»Wir sind hier ein Team. Und du bist ein Arsch. Nein! Der letzte Arsch. Verstanden?«, hatte Igor ihm danach erklärt.
Seit dieser Zeit hielt Dunker in der Küche den Mund und führte klaglos die ihm übertragenen Aufgaben aus. Igor war nicht nachtragend. Er hatte sein Ziel erreicht. Dunker fiel es schwer, sich unterzuordnen. Als Schüler war er wegen seiner Muskeln der Platzhirsch gewesen, als Jugendlicher waren seine Argumente die Fäuste. Im Gefängnis erfuhr er, dass Polizistenmörder ebenso wie die Kinderschänder auf der untersten Stufe standen. Mörder und Gewaltverbrecher waren in diesem Zellentrakt alle. Die Schließer verrichteten ihren Dienst und ließen keine Aggressionen an den Häftlingen aus. Dafür erwarteten sie, dass alles reibungslos ablief und sich niemand gegen sie wandte. Wer sich nicht an diese Regeln hielt, wurde durch die Mitgefangenen abgestraft. Das Wachpersonal führte dann in kurzen Zeitabständen gründliche Zellendurchsuchungen durch und ließ durchblicken, wem das zu verdanken war. Den Rest erledigten die Häftlinge untereinander. Und auch ein harter Brocken wie Dunker fand hier seine Meister. Dunker hatte nicht nur Igors Warnung verstanden, sondern auch vernommen, dass es schon Unglücksfälle gegeben hatte, wo Männer den Lichtschacht hinabgestürzt waren.
Fünf Jahre waren seit dem Banküberfall auf Nordstrand vergangen. Es war ein lausiges Leben hier drinnen. Wer draußen einem Clan angehörte, wurde von der »Familie« versorgt und musste keinen Mangel an erlaubten Waren wie Fernseher, Kosmetik, Zigaretten und Zusatzernährung erleiden, sondern konnte sich hinter Gittern auch andere Luxusdinge leisten. Mancher wurde erst im Gefängnis rauschgiftsüchtig. Alkohol, Handy und andere Annehmlichkeiten wurden hier ebenso gehandelt wie Schutz. Wer bereit war, dafür zu zahlen, konnte sich den Schutz von Clans erkaufen.
Dunker verfügte über keine Mittel. Er gehörte zum Gefängnisprekariat und war auf der untersten Stufe angekommen, als er begann, sich gierig nach den Kippen anderer beim Freigang zu bücken. Die einzige Möglichkeit, die man ihm anbot, war, sich selbst zu verkaufen. Für nichts auf der Welt hätte er seinen Körper hingegeben.
Sein einziges Privileg war, dass er in der Küche Zugang zu Nahrungsmitteln hatte. Nach einem halben Jahr übersah Igor, dass Dunker Lebensmittel stahl. Das taten alle. Und er war überzeugt, dass sich auch das Aufsichtspersonal fleißig bediente, hütete sich aber, eine Andeutung zu machen. Sonst begannen wieder die Zellenkontrollen. Und die erfahrenen Justizvollzugsbeamten fanden immer etwas - wenn sie wollten.
Freunde hatte Dunker keine gefunden. Man respektierte ihn nicht. Er war froh, dass man ihn zufriedenließ. Leander, ein voll tätowierter Mithäftling, wurde von den anderen gemieden. Leander hatte eine Flüchtlingsunterkunft angezündet, bei der ein kleiner Junge aus Afghanistan fast verbrannt wäre. Das Kind würde lebenslang unter den Folgen der Verbrennungen leiden. Deshalb war Leander der Einzige, der gelegentlich mit Dunker sprach. Das wurde intensiver, als zwei Türken in den Zellentrakt einzogen. Leander, der eine »88« als Tattoo trug und sich mit diesem Synonym für »HH« als Nazi outete, begann von der ersten Minute an, gegen das »Türkenpack« zu stänkern. Dunker sah darin eine Möglichkeit, sich bei Leander anzubiedern, indem er sich dessen Sticheleien anschloss.
Benno, der bei einem Überfall auf einen Kiosk dessen Besitzer mit einer Schnapsflasche den Schädel eingeschlagen hatte, mahnte Dunker, sich nicht mit den Türken anzulegen. »Die sitzen hier nicht wegen Vergewaltigung oder Totschlags«, sagte er. »Sieh sie dir genau an.«
Orhan Günaydın sah auch in der blauen Anstaltskleidung stets wie aus dem Ei gepellt aus. Er hatte gepflegte schmale Hände, die einem Pianisten oder Chirurgen gehören könnten. Wer ihm auf der Straße begegnete, hätte ihn für einen erfolgreichen Geschäftsmann oder Banker gehalten. Seinen wachsamen Augen schien nichts zu entgehen. Der zweite Häftling war genau das Gegenteil. Rasim Kalyoncu war breitschultrig und hatte Hände wie Heuwender. Man hätte ihn für einen Türsteher in einem Szenelokal halten können. Kalyoncu wieselte ständig um seinen Landsmann herum und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Das ist der Leibwächter«, hatte Leander festgestellt. Er war kurz nach der Einlieferung der beiden Türken mit Kalyoncu aneinandergeraten, als er ihn anrempelte.
Kalyoncu hatte sich vor Leander aufgebaut. »Was willst du Wichser? Lass uns in Ruhe, oder ich kastriere dich.«
Die Drohung war so laut ausgesprochen worden, dass alle im Hof es mitbekommen hatten. Leander hatte sich umgesehen, aber niemand der Mithäftlinge machte Anstalten, sich einzumischen.
Dunker war ein unpolitischer Mensch. »Die da oben« waren ihm ebenso verhasst wie die Menschen mit Migrationshintergrund, die in seinem damaligen Hamburger Wohnviertel die Mehrheit stellten. Die Jugendlichen hatten sich dort zu Banden zusammengeschlossen und tyrannisierten die Bewohner, zogen andere Jugendliche ab und kämpften untereinander um die Vorherrschaft, auch über den lukrativen Rauschgiftmarkt im Viertel. Gewalttaten waren Alltag.
»Da hätten die Scheißbullen aufräumen sollen«, hatte Dunker geflucht. »Das trauen sich die Feiglinge aber nicht. Stattdessen machen sie Jagd auf Deutsche.« Er mochte keine Ausländer, schon gar keine Türken. Sie hatten ihm kein Glück beschert.
Der Geldbote bei dem Bankraub auf Nordstrand, dem er in den Rücken geschossen hatte, war Türke, obwohl der beschissene Richter immer wieder behauptete, Ömer Akalin sei deutscher Staatsbürger gewesen. So ein Quatsch. Ein Deutscher heißt nicht Ömer. Dunkers Komplize beim Überfall, Zülfü Göksu, war auch Türke. Ein Versager. Eine Niete. Es war eine Riesensauerei, dass man ihn lebenslänglich hinter Gittern sperrte und der verfluchte Göksu mit sieben Jahren davongekommen war. Diese Hure von Bankangestellter - wie hieß sie noch gleich? Ach ja. Dorle Hansen -, die hatte ausgesagt, dass Göksu sich für die Geiseln eingesetzt und immer wieder vergeblich versucht hatte, Dunker zu bremsen. Das hatte das Gericht zu Göksus Gunsten gewertet. Aber Dunkers Anwalt, diese Pfeife aus Flensburg, hatte nichts bewirkt. Ganz im Gegenteil. Barkenthin hatte in seinen Augen alles versiebt. Seinetwegen hockte Dunker im Knast ohne Aussicht auf Freiheit.
Was war Freiheit für ihn? Der Psychoheini hatte ihm diese Frage gestellt. Dunker hatte es dem Mann angesehen, dass er mit der ehrlichen...
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