Schweitzer Fachinformationen
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Spätsommer 1900 im Bayerischen Wald. Die junge Arbeiterin Maria blickt von einer Anhöhe herab auf ihr Dorf. Die Glasfabrik, die den Menschen hier Arbeit gibt, steht in Flammen. Maria selbst hat das Feuer gelegt aus Rache für eine ungesühnt gebliebene Vergewaltigung. In dieser verheerenden Brandnacht nimmt die Geschichte einer Familie ihren Ausgang, in deren Zentrum der Aufstieg Georg Schatzschneiders, unehelicher Sohn einer Magd, zum Lenker eines Großkonzerns steht. Doch wo vordergründig unbändiger Ehrgeiz und unternehmerischer Instinkt zu den Erfolgsgaranten einer atemberaubenden Karriere im erst noch geteilten, dann wiedervereinigten Deutschland werden, begleicht im Hintergrund Generation um Generation dieser Familie eine große, aus einer Notlüge entstandene Schuld, die die Vorfahren Georgs auf sich geladen haben.
In seinem ersten Roman "Die Unverhofften" erzählt der preisgekrönte Dramatiker Christoph Nußbaumeder eine packende und berührende Familiensaga über vier Generationen; ein Sozial- und Aufsteigerepos, das die Verteilungskämpfe und Widerstandsbewegungen eines ganzen Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart verhandelt und gleichzeitig den ewigen Treibstoff der großen Menschheitsdramen anschaulich macht: Liebe, Verrat und das unstillbare Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung.
Der Postzug rauschte vorbei, das welke Friedhofsgras verneigte sich zum Abschied. Ein paar Tauben kreisten über dem Dach des Bahnhofsgebäudes. Nun erfasste auch Maria der Fahrtwind und wehte ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Ihr Blick folgte dem Zug, der aus Eisenstein Richtung Westen abdampfte. Eben hatte sie wieder ein Schreiben von ihrem Cousin aus Amerika bekommen. Seit über einem Jahr war der schon drüben. »Durch Erwin und seine Frau hab ich eine Bestimmungsadresse. Und stell dir vor, es gibt sogar ein Waldler-Viertel in Chicago. Und reiten kann man über die ganze Prärie .« Die letzten Worte kamen Maria schwer über die Lippen, sie hatte nicht damit gerechnet, dass es sie so anrühren würde. Dennoch stand ihr Entschluss fest, im Frühjahr wollte sie nachziehen, was aber auch bedeutete, dass sie nicht mehr das Grab ihres Vaters würde besuchen können. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, es war niemand da, vor dem sie sich hätte genieren müssen.
Der Friedhof war schon ziemlich heruntergekommen. Die Hecken vis-à-vis vom Eingang verwildert, das schlichte Mauerwerk bröcklig, von Pflanzen aufgesprengt. Manche Totenbretter waren umgefallen oder waren umgetreten worden. Nach dem Fortgang der letzten Fremdarbeiter gab es niemanden mehr, der den Friedhof pflegte. Die Einheimischen hatten die Arbeiter nicht ausstehen können, sie nannten die angeheuerten Männer halb verächtlich, halb ängstlich »Baraber«. Und da der Magistrat den Fremdarbeitern keine Bestattung auf dem offiziellen Friedhof gestattet hatte, war ein Extrafriedhof angelegt worden. Ein Provisorium neben der Bahntrasse, das von allen nur »Italienerfriedhof« genannt wurde.
Maria legte eine rote Nelke nieder, dann betete sie das Vaterunser. Sie gab sich Mühe, jedes Wort bewusst zu sprechen. Danach blieb sie noch ein wenig und versuchte, sich alles genau einzuprägen; das Brett, auf dem einst der Leichnam ihres Vaters aufgebahrt worden war, die Verzierungen und Einkerbungen, das Giebeldreieck als Abschluss über dem gemalten Kreuz, die Inschrift darunter: Das was ihr seid / Das war ich einst / Und was ich bin / Werdet ihr noch sein. Weiter unten hatte ein Freund eingeritzt: Gleicher Lohn / Für gleiche Arbeit / Überall auf Erden. Ein anderer hatte am Fuß des Bretts etwas Englisches eingekerbt: Driving the Last Spike, In Memoriam Willi Raffeiner. Unzählige Male hatte sie hier schon gestanden und Gespräche mit dem toten Vater geführt. Sie küsste das rissige Holz, dann ging sie durch das quietschende Holzgatter nach Hause.
Meist reichten Vorschusszahlungen nicht zur Deckung der Löhne, Kostenvoranschläge waren falsch berechnet oder organisierte Streiks brachten die Bauunternehmer in arge Bedrängnis. Sämtliche Arbeiter, angeworben aus verschiedensten Landstrichen, ackerten wie die Ochsen. Ihr Leben war knochenhart, oft nur mit Schaufeln, Spitzhacken und Schubkarren ausgestattet, trieben sie die Stollen in den Berg. Mit ihren breitkrempigen Hüten, die je nach Wetterlage als Regen- oder Sonnenschutz dienten, waren die Bahnarbeiter schon von Weitem gut zu erkennen. Sie verströmten die Aura der Gesetzlosigkeit und brachten pionierhaftes Wildwestflair ins Waldgebiet. Wirtsstuben, Kegelbahnen und Spielhöllen schossen damals im Umfeld der Großbaustellen aus dem Boden. Marketenderinnen boten ihre Dienste feil, doch nicht nur die Fremdarbeiter vergnügten sich mit ihnen, manche Dörfler verprassten viel Geld zwischen den Schenkeln der Frauen und an den Tresen der Tavernen. Als einmal ein Bierbrauer ankündigte, den Preis für eine Maß Bier von achtundzwanzig auf zweiunddreißig Pfennige anzuheben, kam es zu Krawallen und Arbeitsniederlegungen. Dies alles geschah zum großen Leidwesen der Ortsgeistlichen, die ausschließlich die Fremdarbeiter für den Sittenverfall verantwortlich machten. Sonntäglich wetterten sie von der Kanzel gegen die »Saufbolde« und »Hurenmenscher«, die sich nach ihrem Ableben allesamt in der Hölle wiederfinden würden.
Selbst als die Arbeiter schon längst abgezogen waren und den für viele ersehnten Anschluss an die Welt hergestellt hatten, wurde noch immer abfällig über sie gesprochen, am lautesten von jenen, die den größten Reibach mit ihnen gemacht hatten.
Immer wieder ereigneten sich Unfälle auf den Baustellen, wie an jenem Tag, als eine Dynamit-Explosion drei Menschen zerfetzte. Einer davon war Marias Vater Willi. Sechs Jahre zuvor war er aus Kärnten nach Eisenstein aufgebrochen, wo er Arbeit als Tunnelbauer fand. Ein lebenslustiger Mann mit einem herzlichen Gemüt, aber auch einer, der sich schnell ereifern konnte, wenn er Unrecht witterte. Diplomatie war seine Sache nicht. Willi konnte sehr gut singen, in einem anderen Leben hätte er bestimmt das Zeug zu einem Operntenor gehabt, in seiner Zeit hingegen war er als Stimmungssänger in den Wirtshäusern sehr beliebt. Marias Mutter Emma schenkte damals beim Asenbauer aus, einer von drei Gastwirtschaften im Ort. Sie war jung und neugierig. Und sie war die Tochter vom Asenbauer Wirt. Schnell fanden die beiden zueinander, sehr zum Missfallen ihrer Familie. Doch die Liebe war stärker, und Emma heiratete Willi trotzdem. Zwei Kinder kamen zur Welt. Rückblickend war es eine entbehrungsreiche, aber keine schlechte Zeit, denn sie hatten eine Zukunft vor Augen, und die hieß Kärnten. Sobald die Arbeiten abgeschlossen wären, sah ihr Plan vor, würden sie dorthin gehen. Willi wollte sich den Traum einer Pferdezucht erfüllen, es schwebte ihm die Gründung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft vor. Emma hätte ihn nach Kräften unterstützt. Beständig hatte er Geld zur Seite gelegt, an Optimismus herrschte kein Mangel. Drei Monate vor Fertigstellung der Bahnstrecke kam Willi ums Leben.
Maria hatte seine dunklen Augen geerbt, drum herum feine, mädchenhafte Gesichtszüge. Sie hatte dichte, dunkelblonde Haare, die rechts und links glatt vom Scheitel abfielen. Um ihren Mund lag meistens ein Lächeln, heute ganz besonders, auf irgendwas schien sie sich zu freuen.
Sie schlenderte die Anhöhe hoch, wo sie am Gassenhuber-Anwesen vorbeikam. Der Hofhund gebärdete sich wie ein Wahnsinniger, er fletschte die Zähne, die Kette spannte bis zum Anschlag, so dass er sich sein Gekeife fast selber abwürgte. Ein schwarzes Ungeheuer, mit etwas Grau abgesetzt, im Rücken höher und in der Brust schmaler als ein reinrassiger Schäferhund. Maria blieb stehen und schaute ihn an. »Was bist du nur für ein dummer Hund?«, sagte sie nachsichtig und nahm ein Stück trockenes Brot aus ihrer Rocktasche, das sie kurz anlutschte, bevor sie es ihm hinwarf. Der ließ sich nicht zweimal bitten und verschlang die kleine Mahlzeit hastig.
Sein eigentlicher Ernährer war der Großbauer Johann Gassenhuber. Zusammen mit dem Glasfabrikanten Siegmund Hufnagel, bei dem Maria inzwischen als Stubenmädchen und früher schon in der Fabrik beschäftigt war, zählte er zu den Granden in Eisenstein, zu denen auch der Zollamtsleiter, der Distriktarzt, der Oberförster, der Bahnamtsverwalter und einige Glasofenbauern gehörten. Allesamt Männer, die viel rauchten, tranken und meinten. Sie waren die Herren über die Arbeitsplätze, an ihnen kam kein Mensch vorbei.
»He! Du sollst ihm nix geben. Hab ich dir schon mal gesagt!«
Maria konnte die Stimme nicht gleich orten, dann aber bemerkte sie den Gassenhuber am rückwärtigen Scheunentor. Er musterte sie mit einem abschätzigen Blick, sein rechtes Bein war gegen das Tor gewinkelt. »Oder hast du so viel, dass du's verschenken musst?«
»Nein, das nicht, aber .«
»Ein vollgefressener Hund ist ein fauler Hund. So einen kann ich nicht brauchen.« Er ging ein paar Schritte auf sie zu, sein linkes Bein zog er leicht nach. »In der Bibel steht, die Sanftmütigen werden die Erde in Besitz nehmen. Was glaubst du?«
»Kann schon sein.«
»Ich glaub, das ist ein Druckfehler, sonst wär's schon längst passiert.«
»Vielleicht passiert's ja noch.«
»Das wäre aber ein grober Fehler. Weil wenn keiner durchgreift, gibt's ein Chaos, und hergelaufenes Gesindel nimmt überhand . Ich glaub,...
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