Mehr Schnitte
Mein Bruder rief an, und ich stellte mit Erstaunen fest, dass die Tage, seitdem ich ihn nicht mehr gesehen hatte, wie im Flug vergangen waren. Überwiegend sorgenlos, was ihn betraf.
"Na, alles klar? Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest dich noch mal melden", er hatte offensichtlich gute Laune.
"Soweit ich mich erinnere, sind wir schon wesentlich längere Zeit ganz gut ohneeinander ausgekommen", rief ich ihm ins Gedächtnis. "Aber mir geht es ganz gut, vielen Dank. Und du? Was treibst du? Warum rufst du an?"
"Hey, du kommst aber schnell auf den Punkt! Störe ich bei irgendetwas? Du willst mir doch nicht etwa erzählen, du wärst nicht allein?", flötete er ins Telefon, wohlwissend, dass ich dieses Thema überhaupt nicht mochte.
"Arschloch. Was willst du? Mir auf die Nerven gehen?"
"Nein, vergiss es. Ich wollte dich eigentlich nur einladen."
"Einladen?"
Seine eigenartigen Feten konnte ich nicht leiden, und auch, wenn ich mittlerweile wusste, dass er durchaus in der Lage war, einen Haushalt zu führen, traute ich ihm nicht zu, dass er ein Essen oder so etwas hinbekam.
"Ja, zu einem Konzert."
"Konzert?! Du bist sicher, dass du den Richtigen angerufen hast? Ich hab mir den Scheiß, der in Marilyn rumlag, nach und nach angehört. Stärker könnten zwei Geschmäcker in puncto Musik gar nicht auseinandergehen als es unsere tun! Nee, lass mal, das halte ich für keine gute Idee. Was für ein Konzert?"
"Naja, wenn du kein Interesse hast."
"Was für ein Konzert, will ich wissen. Für nichts und wieder nichts hast du ja wohl nicht gerade mich angerufen."
"Von mir."
"Was? Wie von mir?!"
"Ja, ich habe eine Band. Kommst du? Es ist der erste Auftritt, naja, der erste, für den es ein bisschen Geld gibt."
"Was für eine Band? Wie kommst du an eine Band? Hast du die innerhalb der letzten sieben Tage gegründet, oder was?"
"Nee, das läuft schon länger, aber du musst ja nicht alles wissen. Kommst du?"
Neue Facetten, Tag für Tag. Für eine nicht gerade kurze Zeit hatte ich ihn einfach für einen kleinen, beschränkten Tagedieb gehalten, dessen Aktionen so absehbar waren wie das Amen in der Kirche; für jemanden, dessen Handlungsspektrum allenfalls Biertrinken bis Shitrauchen umfasste - und sonst nichts. Aber anscheinend hatte ich vorschnell geurteilt. Ich will nicht sagen, dass er sich plötzlich als Multitalent oder Tausendsassa herausstellte, aber es steckte doch mehr in ihm als die beschränkte Persönlichkeit, die ich immer vermutet hatte. Eine Band. Wie konnte er, ohne dass ich auch nur das Geringste mitbekommen hatte, eine Band auf die Beine stellen? Nicht unbeachtlich, egal, um was für eine Band es sich auch handeln mochte. Irgendetwas Lärmiges, Ungehobeltes, nahm ich an. Wahrscheinlich sang er, geschrieben hatte er eine Zeitlang bereits, also warum nicht Singen? Aber mit der Stimme? Sie klang nicht unangenehm, das konnte ich nicht behaupten, vielleicht ein wenig schleppend, etwas tranig, aber doch für den Alltagsgebrauch einigermaßen akzeptabel. Ob sie allerdings ein fürs Singen notwendiges Tonspektrum abzudecken imstande war, bezweifelte ich. Er sang immer gerne seine CDs mit, und das klang beileibe nicht sonderlich begnadet.
"Deine Ohren sind Scheiße", erwiderte er mir jedes Mal, wenn ich ihn darauf hinwies. "Außerdem singe ich nicht mit, sondern interpretiere, du Ignorant!" Und dann trällerte er knatschfalsch weiter.
Troubadix live. Ich war gespannt, was ich geboten bekäme.
Ich fand den eigenartigen Laden, wo das Ganze steigen sollte, erstaunlich schnell, erstaunlich, obschon seine Beschreibung mehr als nur konfus gewesen war. Hierum, darum, dann links, nein, nicht links, rechtsrum ist wahrscheinlich besser, oder doch nicht, warte mal, ich fang noch mal von vorne an, undsoweiterundsofort. Er hatte am Telefon bestimmt eine halbe Stunde für die Beschreibung der Strecke gebraucht, die ich jetzt in zehn Minuten gefahren war. Ich kannte das Ding noch, als es einfach eine ganz normale 08/15-Diskothek war, noch mit Glitzerkugel an der Decke und absolut unbeleckt von den Auftritten irgendwelcher drittklassiger - ohne dass ich meinen Bruder ums Verrecken schlecht machen wollte - Nachwuchscombos. "Double Dutch" oder so hieß der Laden damals, ich hatte mich ein paar Mal hineingemogelt, als ich eigentlich noch viel zu jung für das Ganze war.
Ich grinste innerlich über meine lächerlichen Jugendsünden, als ich auf den Parkplatz fuhr, der weniger ein Parkplatz als vielmehr ein frischgepflügter Kartoffelacker war. Löcher, in denen ein Kind stehen konnte, ohne dass man seinen Kopf sah; andererseits Hubbel, hinter denen Elefanten verstecken spielen konnten. Ich nahm nicht sonderlich erfreut davon Kenntnis, dass Marilyn immer wieder mit dem Auspuff oder sonst irgendeinem Teil unterhalb der Einstiegskante hängenblieb. Ich hoffte sehr, dass das Innere des Ladens mit dem Parkplatzacker nichts gemein hatte. Bei aller Sympathie für meinen Bruder und seine Kunst - ich hatte keine Lust darauf, mir ständig Kakerlaken und ähnliches Viechzeug aus den Hosenbeinen zu schütteln.
Besonders stark besetzt war der Parkplatz nicht, vielleicht zehn, höchstens fünfzehn andere Fahrzeuge standen neben meinem dort, wo eigentlich zwei-, dreihundert Platz gehabt hätten. Dass keiner die Gruppe sehen oder hören wollte, nahm ich noch nicht an, eher schrieb ich die Leere der Zeit zu. Schließlich dauerte es noch anderthalb Stunden bis zum Beginn, vermutlich noch länger. Rock'n'Roll war niemals pünktlich. Warum war ich auch schon so früh hier aufgetaucht? Es war mir ein Rätsel. Ich hätte vermutlich tausend Dinge tun können, die weitaus sinnvoller und interessanter waren, als noch eine Ewigkeit vor verschlossenen Türen zu stehen. Naja, was sollte es. Ich stieß die Tür auf, lehnte mich gemütlich in meinem Sitz zurück, ein Bein im Fenster der aufgeklappten Tür, rauchte und betrachtete in aller Seelenruhe den Eingangsbereich des Ladens. Dort tat sich nichts.
Es hatte sich wirklich verändert, das ehemalige "Double Dutch". Der Eingang war früher woanders, auf keinen Fall zum Parkplatz hin, so wie jetzt. Vorne raus, meinte ich mich zu erinnern. Außerdem hatte es eine vernünftige Reklame gehabt, etwas Geschwungenes und nicht nur in Colawerbung gefasste Druckbuchstaben auf weißem Grund. "Babylon". Was für ein Name! Biblische Anleihen wagte ich dem Ding nicht zu unterstellen, so wirkte es wirklich nicht. Eher hatte es den Charme eines Bahnhofes einer verflixt kleinen Ortschaft, einer, bei der sowieso kein Zug hält, die ihren Namen nur zur Orientierung für Fernfahrer oder Landstreicher auf einem beleuchteten Schild präsentierte. Vielleicht war tatsächlich der alttestamentarische Ort gemeint, dann aber wohl kaum zu seiner Blütezeit, sondern zu der Zeit, als der göttliche Zirkus längst seine Pommesbuden und Andenkenläden dichtgemacht und einen neuen Ort für religiösen Mumpitz gefunden hatte.
Irgendetwas tat sich. Ein Typ machte die Tür sperrangelweit auf und klemmte einen Mülleimer in den Rahmen. Das verhieß noch keinen Einlass, ich hätte mich auch stark gewundert, vielmehr deutete es dezent darauf hin, dass die Luft im Innern schon jetzt schlecht war. Kein Wunder eigentlich, Flachdächer sind keine Erfindung für die Sommerzeit. In einigen Minuten würde eine schwitzende und nach Luft ringende Minigemeinschaft sich selber verfluchen, diesen Abend nicht woanders verbracht zu haben, da war ich mir sicher. Aus dem Eingang flutete ekelhaft rotes Licht. Pufflicht, yeah! Rock'n'Roll and Sex and Drugs. Reihenfolge egal, ich war eh nicht dabei.
"Babylon". Der Name ließ mich nicht los. Angesichts der Fickbeleuchtung wäre Sodom wahrscheinlich angebrachter gewesen, aber vielleicht passte Babylon ja auch ganz gut. Schließlich hatte ich nicht besonders viel Ahnung davon, was damals dort abgegangen war. Ich überlegte, welcher Name mir für einen Club einfiele, hätte ich jemals einen. Irgendetwas mit Farben wäre sicherlich nicht verkehrt, dann hätte man etwas, was man mit dem Inventar wieder aufgreifen konnte. "Black Hole" etwa, aber das klang zu sehr nach meinem Bruder. Andererseits konnte die Inneneinrichtung dann auch einen gewissen intergalaktischen Einschlag haben. Mit Raketen, Planetoiden und meinetwegen auch dem einen oder anderen Außerirdischen. Ich erinnerte mich an einen Disneyfilm des gleichen Titels, den ich mir vor keine Ahnung wie langer Zeit einmal im Kino angesehen hatte. Worum es genau ging, hatte ich vergessen, was hängengeblieben war, war ein ziemlich großes Raumschiff, eben das Schwarze Loch und, ich glaube, Lorne Greene als Kommandant. "Müllhalde" wäre als Name bestimmt auch nicht der schlechteste, der ersparte Reinigungskräfte. Was sollten die Gäste oder das Ordnungsamt schon verlangen? Nomen est schließlich omen. Wo ich gerade lateinisch dachte, etwas aus dem alten Rom könnte ebenfalls gut eine Thematik vorgeben. "Caesars Palace", aber das gab es schon. "Therme", klang ein wenig nach Saunalandschaft. Tiere sind immer gut! Wolf, Kuh, Ameise, Fisch - mir schoss nur Mist durch den Schädel. Wie war ich darauf gekommen, im Geiste ein Lokal zu benennen und auch noch einzurichten? Hätte ich einen Ausschank, könnte ich wahrscheinlich jeden Abend Pi vom Boden kratzen, der unter Garantie seine Verwandtschaft mit mir zum Dauer-Saufen missbrauchte. Gotteswillen, was für eine Vorstellung! Ich schüttelte mich und schnippte die Kippe, an der ich mir gerade die Fingerkuppen verbrannt hatte, aus dem...