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Es waren nur zwölf Jahre. Eine kurze Spanne in der langen Geschichte der Menschheit. Und doch fallen diese wenigen Jahre zwischen 1933 und 1945 aus dem Strom der Zeit heraus wie kein anderer Abschnitt. Noch heute, sechs bis sieben Jahrzehnte danach, stellt sich dieser Augenblick der Weltgeschichte dem Zurückblickenden so groß und ungeheuer ins Sichtfeld, dass es ihm schwerfällt, die Zeit dahinter noch wahrzunehmen. So etwas wie das absolut Böse war in jenen zwölf Jahren zur Herrschaft gekommen, und wer, wie ich, sechs Jahre nach dem Ende dieser Herrschaft geboren wurde, darf sich als Davongekommener glücklich schätzen, denn keiner weiß, wie er sich damals verhalten hätte.
Meine erste Erinnerung an das Ungeheure ist eine kurze Filmszene in Schwarz-Weiß. Ich weiß nicht mehr, wann ich sie gesehen habe, ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß, weiß nur, dass ich noch Kind war, und ich in dieser einzigen Szene eigentlich schon alles Wesentliche, was diese zwölf Jahre ausmachte, erfasst hatte. Die Szene zeigt, wie deutsche Uniformierte Hunderte von Juden - Männer, Frauen, Junge, Alte und Kinder - zu einem Bahnhof treiben und dort unter großem Geschrei die Menschen in fensterlose Vieh-Waggons stoßen, prügeln, schubsen und zusammenpferchen, bis jeder Waggon so voll ist, dass keine weitere Person mehr hineinpasst.
In so einem berstend vollen Waggon steht eine Mutter, die ihr Kind zu sich hereinziehen will, ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Aber ein Uniformierter entreißt der Mutter das Kind, reicht es nach hinten weiter, die Mutter tobt, schreit, will aus dem Waggon springen, aber wird zurückgestoßen. Man sieht das Mädchen, das immer weiter nach hinten gedrängt wird, wie es zurückblickt auf die weinende, verzweifelte Mutter, die von mehreren kräftigen Männern am Absprung gehindert wird, bis andere die Klappe zumachen und den Wagen verriegeln. Dann stampft und zischt die schwarze Lok mit den todgeweihten Menschen in seinen Wagen unter Rauch- und Dampfschwaden aus dem Bahnhof. Das Kind verschwindet in der Menge. Es wird mit dem nächsten Zug in ein Vernichtungslager gebracht, aber in ein anderes als das, wohin seine Mutter unterwegs ist. Die beiden sehen sich nie wieder.
Ein Herrenmenschen-Volk hatte alle anderen zu Untermenschen erklärt und die Juden zu Ungeziefer. Mutter-Kind-Beziehungen gibt es bei Ungeziefer nicht. Daher konnten die Männer sachlich und ungerührt, ohne Beanspruchung ihres Gewissens, die Mutter und das Kind auseinanderreißen, beide ihrem grausamen Schicksal überlassen, und zugleich konnten sie daheim weiterhin liebende Ehemänner und zärtliche Familienväter bleiben, die selbst ihrem Hund oder ihrer Katze mehr Mitgefühl entgegenbrachten als dieser jüdischen Mutter und deren Kind.
Das Ungeheuerliche dieser Zeit hatte ich in dieser einzigen Filmszene erfasst. Verstanden, wie so etwas möglich war und wie es dazu hat kommen können, hatte ich nicht. Und schon gar nicht hätte ich es damals und auch noch Jahre später für möglich gehalten, dass ich vielleicht selbst dabei mitgemacht hätte. Dazu bedurfte es noch vieler weiterer Filme, Bücher, der Berichte von Zeitzeugen und vor allem einer wachsenden Selbsterkenntnis.
Es gibt noch ein zweites Bild, das sich tief in mein Gedächtnis gegraben hat, ebenfalls aus einem Film: Durch das Schaufenster eines jüdischen Geschäfts fliegen Steine. Die Ehefrau des Ladeninhabers schreit entsetzt auf. Der Ehemann beruhigt sie mit den Worten: »Du musst dich nicht aufregen, das sind dumme Jungen, draußen steht ein Polizist, den werde ich auf den Vorfall aufmerksam machen, und dann wird alles seinen geordneten Gang gehen. Diese dummen Jungen werden nie wieder einen Stein in unseren Laden werfen.«
Dann geht der Mann hinaus zu dem Schutzmann auf der Straße, beginnt ihm von dem Vorfall zu erzählen - und wird von dem Ordnungshüter barsch unterbrochen mit den Worten: »Schweig, Saujud.« Der Mann verstummt augenblicklich. Die Kamera zeigt sein Gesicht, seine Augen, und der Zuschauer sieht, wie in diesem Moment für den Mann eine Welt zusammenbricht. Dann erfolgt ein Schwenk auf die Steinewerfer, die an die Wand des Hauses schreiben: »Kauft nicht beim Juden.« Und der sogenannte Schutzmann schützt nicht, steht dabei und greift nicht ein. Der »Ordnungshüter« sieht beifällig nickend zu, wie sich die Ordnung in Deutschland auflöst und alles aus den Fugen gerät. Von jetzt an müssen Juden, Sinti, Roma, Sozialdemokraten und Kommunisten Angst haben, wenn jemand an die Haustür klopft. Es könnten Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) sein, mit einem Haftbefehl in der Tasche. Gefängnis, Zwangsarbeit, Folter, Tod können die Folgen sein.
Juden hatten ein tiefes Zutrauen zum deutschen Staat und seiner Ordnung. Juden bewunderten diesen Staat und haben im Ersten Weltkrieg für ihn gekämpft, sind verwundet worden, gefallen, haben stolz das Eiserne Kreuz und andere Auszeichnungen getragen, die ihnen für ihren Kampf verliehen worden waren. Darum sind sie in Deutschland geblieben, als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, statt zu fliehen und sich zu retten, als dies noch gefahrlos möglich gewesen wäre.
Sie hatten gedacht, die Deutschen seien ein vernünftiges, zivilisiertes Volk, Hitlers Herrschaft werde eine kurze Episode bleiben. Ihr Vertrauen in die deutsche Kulturnation war zu groß, als dass sie sich hätten vorstellen können, dass diese Nation sie schon wenige Jahre später durch die ganze Welt hetzen, verhaften, deportieren, wie Ungeziefer behandeln und millionenfach ermorden würde.
Das Beklemmende für mich und meine ganze Generation der Nachkriegsgeborenen war und ist, dass unsere Eltern und Großeltern in dieser Zeit gelebt haben und auf irgendeine Weise in diese Geschichte verstrickt waren. Die Steinewerfer, der Polizist, die Leute, die plötzlich »Judensau« brüllten, die vielen, die geschwiegen und weggesehen haben, wenn Juden auf der Straße schikaniert, durch die Straßen gehetzt, geschlagen, getreten und gedemütigt wurden, die Bürger, die ihre jüdischen Nachbarn und Bekannten von heute auf morgen nicht mehr grüßten, die Beamten, die darüber wachten, dass sich Juden den Davidsstern auf die Kleider nähten, die Denunzianten, die andere anzeigten, wenn sie einen Juden versteckten, die Menschen, die sich an jüdischem Besitz und Vermögen bereicherten, all die vielen willigen Helfer und Wähler Hitlers samt der evangelisch und katholisch Getauften, die sechs Millionen ihrer jüdischen Brüder in ganz Europa zusammentrieben, in Viehwaggons pferchten, in die Konzentrationslager transportierten und sie dort in den Tod schickten - das war die Generation meiner Eltern, Großeltern und Lehrer.
Ein Volk, das deutsche, hatte versucht, ein anderes Volk, das jüdische, restlos auszurotten. Fast wäre es gelungen und die Täter hießen wie wir, die Kinder der Täter. Ob sie sich nun einfach nur passiv verhalten oder mehr oder weniger aktiv mitgewirkt haben. Sie waren verstrickt, haben ihre Verstrickung lange beschwiegen und nur durch beharrliches Nachfragen widerwillig Auskünfte erteilt, die meistens auf den Satz hinausliefen: »Ihr könnt da gar nicht mitreden, ihr könnt euch kein Urteil über uns anmaßen, denn ihr seid nicht dabei gewesen, im Übrigen haben wir dafür bezahlt, wir sind um unsere Jugend betrogen worden und möchten nun nicht mehr daran erinnert werden, sondern nach vorne schauen.«
Meine beiden Großväter, einfache Bauern, hatten Hitler von Anfang an durchschaut, mein Vater nicht. Er war dabei bei den Aufmärschen am Reichsparteitagsgelände in Nürnberg und hatte die Aufgabe, als Wachmann mit geladenem Gewehr für Hitlers Sicherheit zu sorgen. »Ich stand zwölf Meter von Hitler entfernt«, erzählte mein Vater, »es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn mit einem einzigen Schuss niederzustrecken.«
Kann sein, dass das nutzlos gewesen wäre. Vielleicht hätten Göring, Himmler, Goebbels damals, 1936, einfach fortgesetzt, was Hitler begonnen hatte. Vielleicht hätten sie sich aber auch im Kampf um Hitlers Nachfolge gegenseitig umgebracht, das nationalsozialistische Wahnsystem wäre zusammengebrochen und Deutschland wäre zur Demokratie zurückgekehrt. Auch das wäre möglich gewesen.
Mein Vater hatte nicht geschossen, Hitler konnte sein katastrophales Werk fortsetzen. Am Ende dieser zwölf Jahre war die Erde getränkt mit dem Blut von einer unvorstellbaren Zahl an toten Soldaten und Zivilisten. Nach Schätzungen, die stark voneinander abweichen, lag die Zahl der Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs bei rund 55, vielleicht auch 60 Millionen. Dazu kommen Millionen Flüchtlinge, Vertriebene, Verletzte und Enteignete. Pommern, Schlesien, Ostpreußen und das Sudetenland gingen den Deutschen verloren und der Rest wurde geteilt, sodass es vierzig Jahre lang zwei deutsche Staaten gab, die Bundesrepublik und die DDR.
Vor diesen zwölf Jahren war Deutschland eine weltweit geachtete Wirtschafts-, Wissenschafts-, Technologie- und Militärmacht und eine bewunderte Kulturnation, deren Kunst, Musik und Literatur in der ganzen Welt geschätzt wurden. Danach wurde es eine relativ unbedeutende Mittelmacht, die nur im Verbund mit den anderen europäischen Mittelmächten noch etwas in der Welt erreichen kann. Während der zwölf Jahre dazwischen hat dieses Land seine größten Geister und kreativsten Menschen im Krieg verheizt, ins Ausland getrieben oder in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet. Was es in den tausend Jahren zuvor aufgebaut hatte, hat es innerhalb von zwölf Jahren selbst zerstört. Andere Völker haben dafür ganze Epochen gebraucht.
Zu welchen Verbrechen der Mensch fähig ist, hat man schon immer gewusst,...
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