Schweitzer Fachinformationen
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II Lockspeisen
Unsere Ausbildung zur Verteidigung des Friedens fand im Lager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) im Juli 1955 statt.
Damals ging die Zeit der Kasernierten Volkspolizei zu Ende, und es wurde die Nationale Volksarmee aufgestellt. Die Staatssicherheit erhielt eigene Truppen.
Die GST hörte auf, den Sportklub zu spielen, und wurde straff organisiert. Es herrschten fürderhin die Regeln des Demokratischen Zentralismus, also Befehlsgewalt von oben nach unten. Verweigerung wurde geahndet. Keine Fehlerdiskussion! Die Grund- und Laufbahnausbildung diente der Vorbereitung auf den Wehrdienst und der Laufbahn als Offizier. Letzteres betraf uns Studenten. Wer von uns alle Prüfungen bestand, kam nach mehreren Lagern mit Ende des Studiums als Offiziersanwärter nach Hause. Die Sektionen lockten junge Leute an: Motorsport, Fernmeldetechnik, Morsen, Seesport, Flugsport (Segel- und Motorflug, Fallschirmsport, Flugmodellbau), Schießsport, Mehrkampf, Diensthundeausbildung. Traumziel war die Teilnahme an Wettkämpfen, Turnieren, Spartakiaden, Olympiaden.
Wer hat mich in die Fernmeldetruppe kommandiert? Na, wenn ich den erwische!
An einem sonnigen Tag mit wenig Wind führt ein Ausbilder ein Dutzend Studentinnen, bepackt mit Kabelrollen, Fernsprechkästen, Kurbeln, Hammer und Nägeln, in einen gelichteten, sturmzerfetzten Wald, wo sie Leitungen zu verlegen und Telefonverbindungen herzustellen haben. Meistens ziehen wir Rillen durch Moose, Kiefernadeln und Flechten, dann buddeln wir das Kabel ein, unter einem breiten Sandweg durch, bis wir auf eine asphaltierte Chaussee treffen, deren Decke heiße Blasen wirft. Um die Straße zu kreuzen, versuchen wir, oben rüberzukommen. Das kann dem Straßenverkehr gefährlich werden. Ich habe gleich nach Kriegsende einen russischen Soldaten, auf der Ladefläche eines Lastautos stehend, unter einem hängenden Leitungsdraht durchfahren sehen. Er war schon tot, als er runterflog.
Wir: zuerst mal einen Baum rauf, und, nachdem die Leitung in der Krone befestigt ist, wieder runter. Danach die Kabelrollen und die anderen Lasten über die Chaussee und ihre kohlpechrabenschwarze Lava bugsieren. Um nicht einzusinken und festzukleben, einen Trampelpfad mit Reisig auslegen. Drüben mit der gummierten Leine wieder auf einen Baum, die Leitung hoch- und straffziehen, festmachen, abwärts schliddern. Und immer so weiter.
Zwischendurch besucht uns ein älterer Universitätsangehöriger, könnte ein Professor sein. Er zottelt einen Rucksack von den Schultern und zieht Steigeisen ans Licht. Unsere Augen leuchten. Unser Kommandeur und Ausbilder, er dient in seinem zivilen Leben als Assistent bei den Philosophen, ist recht klein gewachsen. Aus seinem Rücken sticht ein nashörniger Buckel hervor. Der lässt die Steigeisen sofort wieder einpacken, untersagt deren Benutzung.
Dieser Kommandeur erteilt seine Befehle in messerscharfem Ton, und sobald jemand beim Bäumeraufklettern abrutscht, sich die Waden oder Hände aufreißt oder sonst eine komische Figur macht, begleitet er das Malheur mit unverschämt zynischen Bemerkungen. Er ruft nicht selten auf Kosten der Verletzten ein dolles Gelächter hervor. So sicher fühlt er sich seiner Befehlsgewalt, dass er mehr verblüfft als zornig dreinblickt, als zwei Mädchen aus ihrem Kabel eine Schlaufe bilden und sie mit Schwung über seinen Buckel schleudern. Die Lacher sind aber dieselben, die ihm schon bei seinen Verhöhnungen beipflichteten.
Wir fühlen uns wie in der Pampa, belustigen uns an rohem Cowboygehabe und denken nicht im Traum an unsere Landesverteidigung. Von Glück konnten wir reden, dass die Rodeonummer kein Nachspiel hatte. Der misshandelte Philosoph hielt den Mund und wechselte den Posten.
Sobald wir die Stützpunkte der Kabel, Bäume, Masten, Stangen, Pfeile, Straßen hinter uns hatten, zogen wir die Leitungen querfeldein durch die Dünen bis an den Strand, wo wir das Material in von der Kasernierten Volkspolizei ausgemusterte Schlauchboote hievten. Hinzu kamen ein paar Stapel Mauersteine, die uns auf See gegen die Füße und Schienbeine purzelten. Also wir saßen auf dem prallen, glatten Gummischlauch, dem Rand des Bootes und paddelten mit aller Kraft auf die Ostsee raus. Bisschen links halten! Wir fahren schließlich nicht nach Schweden, sondern gen Westen!
Kabel verlegen zu Wasser: alle paar Meter, vielleicht waren es zehn oder fünfzehn Meter, hatten wir die Leitung um einen schweren weißen Mauerstein zu wickeln und festzuknoten. Stein für Stein glitt auf den Meeresboden und hielt da unten, glaubten wir, unsere Telefonschnur fest. Die Fortbewegung der Gummiboote war anstrengend, aber bei leichtem Wellengang und ohne Aussicht auf einen militärischen Angriff schien es uns wie Urlaub.
Als ich im September nach Leipzig zurückkehrte und mein zweites Studienjahr begann, hatte ich auch ein paar neue Gedichte geschrieben und wusste über die gängigen Zensurmaßnahmen Bescheid. Adenauer befand sich in Moskau, und von Boris kamen keine Briefe mehr. Ich wurde zwanzig und studierte bei Wieland Herzfelde Weltliteratur. Daneben las ich heimlich Hemingway und Faulkner.
An der Fakultät wurden Lehrgänge durchgeführt für Journalisten, die nicht studiert hatten, schon älter waren als wir und jahrelange Praxis vorweisen konnten. Einer dieser Lehrgänge im Herbst '55, der für kommunistische Pressearbeiter aus Westdeutschland abgehalten wurde, verführte seine Teilnehmer, Kontakt mit uns Studenten aufzunehmen und tiefergehend nach den Alltäglichkeiten in der DDR zu fragen. Mich hatte ein Journalist aus München angesprochen und ins Café eingeladen. Er war kein Dogmatiker, schien mir offen und kritisch, und als wir zum zweiten Mal durch den Clara-Zetkin-Park trödelten, sprachen wir schon ungehemmt über die Arbeiter in Ost und West und deren mangelnden Klassenkampf. Die Krise der westdeutschen Wirtschaft, die bei uns angestrengt ersehnt und herbeigeredet wurde, ließ sich mit der Konjunktur dort nicht vereinbaren. Der westdeutsche Genosse und ich, wir sahen keinen Weg, den Werktätigen die Bedeutung von Schuhen, Textilien, Kühlschränken und Selbstbauwerkzeugen auszureden. Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, die uns beiden nicht behagte, brachte mich auf den Einfall, dem Kursanten von unseren wehrhaften Übungen im Sommerlager zu berichten.
Eine Woche lang hatten wir uns täglich getroffen. Parkanlagen, Milchbar, Antiquariate, Kino, Dimitroff- mit Bildermuseum - haben uns durch das herbstliche Leipzig treiben und von allem Politischen sprechen lassen, was uns einfiel. Eduard, so hieß der westdeutsche Kommunist, erzählte, dass die französischen Genossen sich allzu stark gängeln ließen, während die italienischen sich eigene Wege schlugen durch das Moskauer Gestrüpp. Plötzlich, bei einer Parteiversammlung meiner Grundorganisation, wurde mir strikt verboten, mich auch nur einmal noch mit dem Münchner Genossen zu verabreden und ihn von seinen Lehrgangsstudien abzulenken. Das war ein Parteiauftrag! Ich versuchte mich zu rechtfertigen, beschwor unsere unschuldigen Spaziergänge, protestierte, als der amerikanische Mitstudent mich eines unmoralischen Verhaltens verdächtigte. Meine Parteigruppe glaubte nicht an ein rein gesprächsweises Zusammensein. Doch! Aber ja! Wir haben nur geredet! Worüber, fragte der Amerikaner. Über alles!, sagte ich, und meine Parteigruppe fand das irrsinnig lustig. Genauer!, verlangte der Amerikaner. Über die Wiedervereinigung und die Wiederbewaffnung und den Wiederaufbau einer Armee bei uns und die Wiedereinführung der Wehrpflicht, und sie fragten weiter und immer wieder. Seit einer Stunde wartete Eduard draußen auf mich. Als ich das Versprechen abgegeben hatte, nicht mehr mit ihm zusammenzuhocken, wurde die Parteiversammlung aufgehoben, nicht ohne einen Kommilitonen zu beauftragen, mich bis an meine Zimmertür zu geleiten. Eduard stand im Korridor, die ganze Parteigruppe ging an ihm vorbei. Der mich begleiten musste und ich, wir waren die Letzten. Ich verzog keine Miene, zwinkerte nicht, drehte auch nicht den Kopf nach ihm. Niemand sagte etwas. Der Westkommunist, zehn Jahre älter als ich und viel erfahrener, stand eine halbe Stunde später in meiner Zimmertür. Wir lachten und gingen ungesehen in einen der leeren Seminarräume. Wir warnten einander dauernd, den Fall nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, dazwischen knutschten wir, was in der vergangenen Woche nicht vorgekommen war. Ein paar Tage später war deren Parteischulung beendet, und Eduard sagte beim Abschied,
- es war wirklich bloß ein Kurzlehrgang.
Bei Concordia fiel mir eine Illustrierte aus dem Westen in die Hände, darin Fotos von einer französischen Chansonsängerin, lange schwarze Haare, Pony, die Augen schwarz umrandet: Juliette Gréco. Sie steckte in einem geraden schwarzen Mantel, darunter trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover. So wollte ich auch aussehen, so wollte ich auch in einer Kneipe am Tresen stehen, so und nur so wollte ich die Zigarette halten und das volle Glas.
Zuerst einmal aus Westberlin schwarze Textilfarbe holen. Dann, wieder in Leipzig, alle Pullover, Hemden, lange Hosen (enger gemacht) in einen, von einer jungen Mutter geborgten, Windeltopf gesteckt, Farbe rein und Wasser drauf und gekocht und gerührt und gekocht und gerührt und weiter gekocht. Wie nach '45 die Fallschirmseide, die wir in der Waschküche mit Pflanzenfarben in russischgrüne, ockerfarbene und ebereschenrote Kleider- und Wäschestoffe verwandelten.
Jetzt also Schwarz! Schwarz in allen Schattierungen. Nach den Klamotten kamen die Haare dran.
Den Fotos beigesellt ein Text, der von Existentialismus als neuer Gedankenströmung...
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