Schweitzer Fachinformationen
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Tja, sagt der Arzt, und nichts weiter. Er steht gebeugt an unserem runden schwarzen Eßtisch und verstaut seine Utensilien, nachdem er mich vorne und hinten abgehört hat. In seiner Tasche blitzt es - »Steh' nicht nackend in der Tür herum, zieh dich an!« - die mit Kornblumen, Klatschmohn und dunkelgelben Ähren bestickte Tischdecke verrutscht, Kaltesophie zieht sie an der gegenüberliegenden Seite zurück, so daß der Feldblumenring wieder in die Mitte des Tisches zu liegen kommt. »Kein Rezept?« Sie sitzt am Tisch, sieht erwartungsvoll, freundlich, entgegenkommend, skeptisch zum schweigenden Arzt auf. Ich stehe halbangezogen in der Tür, drücke mich in der Ecke Buffet und Türrahmen herum. Der Arzt richtet sich gemächlich auf, dreht den Kopf nach mir, bückt sich, stellt seine Tasche auf den Fußboden, setzt sich Kaltesophie gegenüber an den Tisch, zieht die Augenbrauen hoch und weit auseinander und reibt sie rasch mit seinen ausgestreckten Zeige- und Mittelfingern, hin und her, hin und her. Ich stehe am Tisch, blicke von einem zum anderen.
Herr Doktor?
Nichts, sie ist kerngesund, vom Lispeln einmal abgesehen. Keine Bronchitis, keinerlei Entzündung, nichts.
Ich bin enttäuscht, Kaltesophie ist enttäuscht, ich habe den Arzt enttäuscht.
Und Sie wissen keinen Rat?
Oh, doch. Schicken Sie Ihre Tochter in die Schule, es tut ihr nicht gut, den liebenlangen Tag zu Hause herumzusitzen. Sie braucht Beschäftigung.
Beschäftigen könnte ich sie auch.
Anders ja, ich empfehle dennoch, ihre Einschulung zu beantragen. Sie braucht einen gewissen Umgang mit Kindern und Beschäftigung außerhalb des Elternhauses. Ich werde Ihrem Antrag meinerseits ein Gutachten hinzufügen.
Ich hopse auf einem Bein durchs Zimmer - »Benimm dich« - hurra, ich gehe in die Schule. Der Arzt mit seinen welligen, grauen Haaren und dem geriffelten Mund sagt: Noch ist es nicht soweit. Er erhebt sich, und ich drücke ihm die Hand und mache einen Knicks. Kaltesophie sagt, nachdem sie ihn zur Tür gebracht hat: Das ist eine ausgezeichnete Idee, dich einschulen zu lassen. Jawohl, in die Schule mit dir. Dort wirst du endlich gehorchen lernen.
Karl: Du mit deinen jüdischen Feiertagen.
Kaltesophie: Nimm deren Neujahr, nimm Laubhüttenfest, nimm Versöhnung - klarer Himmel, Sonnenschein.
Karl: Ich nehme gar nichts, und du laß das niemanden hören, bringst uns in Teufels Küche.
Kaltesophie: Wieso denn?
Concordia und Onkel Egon besitzen ein Reihenhaus in Köpenick, in der Wolfsgartensiedlung Richtung Hirschgarten. Karl hat vor seiner Heirat bei Concordia gelebt, Kaltesophie war seine Nachbarin, sie hat mit ihrem Bruder Max bei ihrer Mutter gewohnt. Die Gärten beider Anwesen lagen, nur durch einen Dungweg getrennt, nebeneinander. Karl arbeitete in derselben Firma wie jetzt, Kaltesophie arbeitete als Verkäuferin bei Wertheim. Karl gehörte zu einem Ruderclub und nahm in Grünau an der Regatta teil, in seinem Zimmer hingen Urkunden, standen silberne Pokale, und eines Tages lud er Kaltesophie ein und erklärte ihr, was ein Vierer mit Steuermann ist.
Als sie heirateten, war Kaltesophie dreißig, Karl war vierunddreißig. Es stellte sich heraus, daß Kaltesophie keine Kinder kriegen konnte, und sie nahmen ein Pflegekind. Um ein Kind zu adoptieren, hätten sie zehn Jahre älter sein müssen. Das Mädchen hieß Christa.
Alles umsonst, das mühsame Sparen, die Anschaffungen, alles hinüber. Kein Fensterbrett mehr, kein Küchenmöbel, kaum drehe ich mich um, ist es passiert, nichtmal die Kredenz im Wohnzimmer hat sie verschont. Wir sind ruiniert. An Einladungen, an Besuch ist nicht mehr zu denken. Unmöglich, noch jemanden in die Wohnung zu bitten. Selbst auf der Tischplatte prankt ihr Name, eingeritzt mit irgendetwas Spitzem, Nadeln oder gar Nägel, prankt ihr Name. Ihr eigenes Zimmer sieht aus wie ein Reibeisen. Unangetastet ist bis jetzt nur unser Schlafzimmer geblieben. Wer kann mir die Frage beantworten, warum dieses Luder überallhin ihren Namen schreibt? Was heißt schreibt? Einritzt, einkratzt. Das ist nicht normal, behaupte ich, das ist reine Zerstörungswut und Gemeinheit. Ich mache da nicht mehr mit, diesmal kommt mir das Biest nicht ungeschoren davon. Wir sind ruiniert, und das soll sie mir büßen. Ich will sie nicht mehr haben, ich verzichte. Soll dahin gehen, wo sie hergekommen ist.
Karl sagt: Wenn wir den Krieg gewinnen, kaufen wir uns ein Haus, vielleicht drüben in Woltersdorf ein Wassergrundstück.
Sie schreibt irgendwas. Sie faltet den Bogen Papier zusammen. Sie steckt ihn in einen Umschlag. Sie sagt: Zieh dich an! Sie beleckt die Gummierung der Klappe. Sie sagt: Mantel und Mütze! Sie zwängt mir den Brief in die Manteltasche. Sie sagt: Hast du die Handschuhe schon wieder verloren? Ist jetzt auch egal. Sie sagt: Mein Maß ist gestrichen voll, ich will dich nicht mehr sehen, geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Sie sagt: Wo der Bahnhof ist, weiß du ja. Sie sagt: In Köpenick steigst du aus und gehst zu Concordia, die Adresse steht drauf. Sie sagt: Der gibst du den Brief. Nun geh schon, geh! Ich stehe da mit gespreizten Armen. Sie steckt mir Fahrgeld in die andere Manteltasche.
Sie sagt: Nun geh!
Ich sage: Wohin?
Sie sagt: Habe ich dir doch eben erklärt, zum Bahnhof!
Ich sage: Und dann?
Sie sagt: Da siehst du es, dich hat der Esel im Galopp verloren.
Sie schiebt mich zur Wohnungstür hinaus, und ich trete flennend den Weg zum Bahnhof an. Am Marktplatz vorbei, die Wilhelmstraße hinunter, und nichts in Sicht vor lauter Heulerei. Ich bin fast auf der Höhe von Eberts Tischlerei, da werde ich am Ärmel zurückgezogen.
Sie sagt: Willst du wieder mit nach Hause kommen?
Ich sage: Ja, ja.
Sie sagt: Wirst du ab jetzt immer artig sein?
Ich sage: Ja, ja, immer artig sein.
Sie sagt: Vergiß es ja nicht, sonst schicke ich dich wirklich weg.
Und die Morgenstunden unserer Sonntage, Karl befestigt einen breiten Lederriemen an der Klinke der offenen Küchentür und schärft seine Rasiermesser, vor und zurück, vor und zurück, schon kocht das Wasser, mit dem er in einem braunen Bakelitschüsselchen einen Berg Seifenschaum herstellt. Zuerst schmiert er den Rasierpinsel an der Palmolive-Rasierseife dick ein, dann rührt er mit dem Pinsel rasch und lange in dem Schüsselchen herum, wobei die Seife sich auflöst und in lockeren Schaum verwandelt, anschließend geht er mit der Seife, dem aufgeklappten Rasiermesser, eine Serviette um den Hals, eine Zeitung unter dem Arm ins Badezimmer und ich hinterher. Während er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand seine Gesichtshaut in alle Richtungen zieht, stecke ich dauernd den Kopf zum Badezimmer hinein und rufe: Servus Schneemann, Servus Schneemann. Sein Gesicht ist ein Schneefeld mit einem Krater darin, es ruft aus dem Krater: Ich servier dir gleich. Der Krater spuckt und lacht, Karl schnippt eine große Seifenwolke in meine Richtung, wupp, die bleibt innen an der Badezimmertür kleben, weil ich blitzschnell die Tür zuschmeiße und wieder rein, und sein eingeschneites Gesicht und wupp, ich brülle, wenn er mich getroffen hat, und wasche hastig die Seife ab, um weiterzumachen, bevor er fertig ist, glänzend aus dem Badezimmer tritt mit winzigen Fetzen Zeitungspapier auf den Backen, am Kinn, am Nasenflügel, blutgetränkte Papierchen, und wupp fliegt mir wieder eine Wolke entgegen, diesmal lasse ich die Tür weit offen, trete nur ein Stück beiseite, und die Wolke fliegt durch die Tür, durch den Korridor, sie überquert das Wohnzimmer und segelt zum Fenster hinaus. Da schwebt sie zwischen den Kastanien, steigt höher und höher und über Schützes Haus hinweg, wo sie sich langsam vermehrt, zusehends mehr und mehr schneeige Wolken gleiten über den Bahndamm und entfernen sich in Richtung Kranichsberge, diese himmelhochjauchzenden Wolken sind die Morgenstunden unserer Sonntage.
wirst du ab jetzt
artig sein
fügsam sein
willig sein
gehorsam sein
dankbar sein
fleißig sein
ja ja ja ja ja
versprichst du mir das
du Findling du
ich verspreche
artig zu sein
fügsam zu sein
willig zu sein
gehorsam zu sein
dankbar zu sein
fleißig zu sein
erstmal ins Bett mit mir
bis sie erlaubt
ihr wieder unter die Augen zu treten
ich will ab jetzt
immer gehorchen
Fräulein Mammert sagt: Ich heiße Fräulein Mammert und bin eure Klassenlehrerin. Sie ist älter als Kaltesophie und hinkt und ist auf ihren Stock angewiesen. Wir folgen ihr aus der Aula auf den vor dem Schulgebäude liegenden Pausenhof und nehmen am Fahnenappell teil. Die größeren Kinder stellen sich auf und nehmen die rechten Arme hoch, wir bilden mit unseren Müttern einen ungeordneten Haufen, das wird bald anders, und hören den Direktor eine kurze Ansprache halten.
Ostern, und auf meiner Schultüte ist ein Mädchen mit einer Schultüte, auf der ein Mädchen mit einer Schultüte zu erkennen ist. Ich stelle die Tüte neben mich, sie geht mir bis ans Kinn und ist schwer.
Später folgen wir Fräulein Mammert in unser zukünftiges Klassenzimmer, wo sie uns einzeln aus dem Gedränge ruft, uns unseren Namen sagen läßt - »Lauter!« - und uns gründlich mustert. Angst? Scheu? Still? Sie weist uns Plätze an, und ich gelange nach vorn in die zweite Reihe, Mittelgang. Ziemlich dicht am Lehrerpult.
Ich drehe den Hals, schaue mich um - »Ich stehe hier vorne, da hinten...
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