Burg Tronecken
Der Waldweg fiel ab. Kurvenreich schlängelte er sich ins Tal, auf den Bach zu, der nur zu hören war. Unter einer Haube aus Eis und Schnee murmelte er in seinem Bett. Ein Stück weiter war die Schneedecke auf ein paar Schritte eingebrochen, und das Flüßchen kam kurz zum Vorschein.
»Ob das bereits die Ruwer ist?« fragte Richardis.
»So weit können wir eigentlich noch nicht sein«, sagte Hildegard. »Aber vielleicht ist der Bach schon einer der Zuflüsse.«
»Das wir aber auch niemanden fragen können.«
»Wenn wir dem Bach in seinem Lauf folgen, können wir nicht viel verkehrt machen. Wasser hat die Angewohnheit, zu Tal zu fließen. Auf dem einen oder anderen Weg wird er uns aus dem Hunsrück herausführen.«
»Möge Gott uns beistehen.«
»Das tut er zweifellos.«
Plötzlich, wie abgeschnitten, endete der Wald, und ein weites Tal breitete sich vor den beiden Nonnen aus. Hildegard beschattete ihre Augen mit der Hand.
»Täusche ich mich, oder steht dort hinten eine Mühle?« fragte sie.
Richardis kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die tiefstehende nachmittägliche Sonne. Das weiß verputzte Gebäude hob sich kaum von der winterlichen Landschaft ab. Nur aufgrund des unterschlächtigen Rades war es auszumachen.
»Eindeutig«, sagte sie. »Das Mühlrad ist in Bewegung. Dort sind Menschen am Werk, die uns bestimmt Auskunft geben können. Und vielleicht dürfen wir uns dort sogar einen Augenblick ausruhen.«
Richardis' Begeisterung schien sich auf die Reittiere zu übertragen, die auf einmal galoppierten wie noch nie in den vergangenen Tagen. Vielleicht witterten sie aber auch nur Heu.
Zur Linken begrenzte der Bach den Weg, zur Rechten wurde er von einem Weidezaun gesäumt, dessen Pfosten nur knapp aus der Schneedecke ragten. Kurz vor der Mühle, als das Drehen des Rades bereits zu hören war, gab es eine Aussparung im Zaun, durch die ein Weg hinauf zu einer bewaldeten Anhöhe führte. Die Schwestern hatten die Weggabelung gerade erreicht, als eine Gruppe Reiter den Hügel herabgesprengt kam. Wild stob der Schnee zu allen Seiten, als werde er von einer Windhose aufgewirbelt. Unmittelbar vor den Eseln zügelte die Gruppe ihre Pferde. Sie waren zu viert. Der Vorderste trug ein Kettenhemd und war mit einem Schwert bewaffnet, die anderen waren gekleidet wie Bauern. Alle vier waren unrasiert und starrten vor Schmutz.
»Halt!« brüllte der Bewaffnete und hob die Hand, was beides überflüssig war, denn die Langohrigen standen bereits. »Seid Ihr die beiden Klausnerinnen vom Disibodenberg?«
Hildegard war ehrlich überrascht. »Allerdings. Aber woher wißt Ihr von uns?«
»Äh . ehem«, machte der Anführer. »Das wird Euch der Graf selbst sagen. Ich habe lediglich Order, Euch sicher zur Burg zu geleiten.«
»Dürfen wir das als Einladung verstehen?«
»Selbstverständlich.«
»Dann habt doch zunächst einmal die Freundlichkeit, uns zu sagen, wer der Graf ist, der bitten läßt.«
»Wildgraf Konrad von Tronecken natürlich. Der Herr über die Mark Thalfang.«
»Richtet dem Grafen Konrad unseren untertänigsten Dank aus, guter Mann, und bittet ihn in unserem Namen um Verzeihung, daß wir seine freundliche Einladung abschlägig bescheiden müssen, aber wir sind in Eile. Wir wollen nur kurz bei der Mühle rasten und noch heute unseren Weg fortsetzen.«
Die Miene des Anführers verfinsterte sich schlagartig. Als die Meisterin auch noch ihren Esel antreiben wollte, ließ er sein Pferd auf der Hinterhand tanzen und versperrte ihr den Weg.
»Habt Ihr nicht gehört?« rief er. »Der Graf hat Euch eingeladen. Dem habt Ihr Folge zu leisten.«
»Also handelt es sich weniger um eine Einladung als um einen Befehl«, sagte Hildegard. »Das hättet Ihr gleich sagen sollen.«
»Wie auch immer - ich reite voran, und Ihr folgt mir.«
»Es soll uns eine Ehre sein.«
Der Weg stieg eine Weile an, um dann an der Flanke des Bergs entlangzulaufen. Recht unvermittelt knickte er auf einmal ab, und die Gruppe stand vor einem schweren, bewehrten Tor, das von zwei runden Wachtürmen flankiert wurde. Beide Türme waren mit Wachposten besetzt. Der Anführer riß den Arm hoch und brüllte »Tor auf!«, was der Posten auf dem Turm wiederholte. Es dauerte jedoch so lange, daß Hildegard sich bereits fragte, ob vielleicht etwas klemmte, bis wenigstens ein Torbogen aufschwang.
Die Anlage hinter dem Tor war eine Enttäuschung. Vielleicht lag es an dem von dem Anführer der Horde verwendeten Begriff »Burg«, der eine gewisse Erwartung geweckt hatte, der die Gemäuer aber, denen sich die Nonnen nun gegenübersahen, keineswegs gerecht wurden. Es gab nur zwei kleine Wohnhäuser aus aufgeschichteten Schiefersteinen und ein etwas größeres hölzernes Gebäude, das wohl als Scheune und Stall diente. Die Burgmauer war höher als jedes von ihnen.
Eine Enttäuschung, die man Hildegard und Richardis offenbar ansah, denn der krummbeinige füllige Mann, der aus einem der Häuser auf sie zutrat, machte eine entschuldigende Geste. Dazu ließ er seinen Bauch, den er wie ein umgeschnalltes Faß vor sich hertrug, für einen Moment los und breitete die Arme aus.
»Ehrwürdige Mutter, verzeiht die Bescheidenheit meiner Behausung«, sagte er mit einer überraschend hellen Stimme, die so gar nicht zu seinem Körperbau passen wollte. »Noch ist die Burg ein Behelf. Der Palas wird erst errichtet. Trotzdem, so denke ich, werdet Ihr Euch bei uns wohl fühlen. Ich hoffe doch, meine Männer haben Euch gegenüber die nötige Höflichkeit an den Tag gelegt?«
»Sie waren so höflich wie ihr Auftrag«, sagte Hildegard, die nach wie vor auf ihrem Esel saß. »Verratet mir doch, Graf Konrad, womit wir die Ehre Eurer Einladung verdient haben.«
»Der Ruf, der Euch vorauseilt, ist beachtlich«, sagte der Graf und hielt sich wieder den Bauch, als habe er Angst, er könne sonst runterfallen. »Da ist es doch nur verständlich, daß ich die Gunst der Stunde nutzen wollte, um Euch einmal in persona kennenzulernen.«
»Das wissen wir durchaus zu schätzen. Es ist jedoch so, daß wir in wichtiger Mission reisen und auf dem schnellsten Wege nach Trier gelangen müssen. Eure Gastfreundschaft anzunehmen, können wir uns, fürchte ich, nicht leisten.«
»In Kürze bricht die Dämmerung herein. Heute würdet Ihr es niemals bis an die Mosel schaffen und wäret gezwungen, in der Wildnis zu übernachten. Da ist es doch sicherer und erheblich bequemer, Ihr nächtigtet unter meinem bescheidenen Dach und machtet Euch morgen in aller Herrgottsfrühe wieder auf den Weg.«
Dazu lächelte er so gewinnend, wie es einem Mann mit einem besenborstenlangen schwarzen Schnäuzer und einem zahnlosen Mund möglich ist. Im Gegensatz zu Hildegard zeigte Richardis sich einigermaßen beeindruckt. Wenn der Grund dafür auch weniger im Lächeln des Grafen als in ihrem schmerzenden Gesäß zu suchen war. Zu reiten war für sie ungewohnt, entsprechend litt sie.
»Ich mische mich nur ungern ein«, flüsterte sie. »Aber ich denke, der Graf hat recht. Auf einen halben Tag kommt es nun wirklich nicht an.«
»Eine Nacht unter dem Dach eines Rohlings«, flüsterte Hildegard zurück. »Aber du hast ja recht.«
Und laut sagte sie: »Wir nehmen an, Graf Konrad. Seid bedankt.«
Einer der Bauern der Begrüßungsabordnung kümmerte sich um die Reittiere, ein anderer trug ihre Bündel ins Haus. Die Kammer, die ihnen Graf Konrad persönlich zuwies, war schlicht, hatte aber zwei Pritschen mit strohgefüllten Matratzen. Als Zudecken dienten Bärenfelle. Unterhalb des Fensters plätscherte ein Bach.
»Die kleine Drohn«, sagte Konrad. »Ihr Geräusch hat etwas Beruhigendes. Es gibt nichts Besseres, um in den Schlaf zu finden. Es sei denn, eine Kanne Wein.«
Während die Schwestern ihre Bündel verstauten, verließ er laut lachend und sich den bebenden Bauch haltend die Kammer, wobei sein Lachen besonders laut wurde, als er die Tür schloß. Nachdem das geschehen war, setzte Hildegard sich mit nachdenklicher Miene auf ihre Pritsche.
»Woher wußte der Graf, daß wir durch die Gegend um Tronecken reisen würden? Man könnte meinen, unser Kommen sei ihm von einem Boten angekündigt worden.«
»Ja, das ist seltsam«, sagte Richardis und erinnerte sich auf einmal ihrer Beobachtung von vor zwei Nächten, die sie völlig vergessen hatte. »Vielleicht ist dem ja wirklich so.«
»Wie meinst du das?«
Richardis ließ sich an der Seite der Mater nieder und erzählte, daß sie meinte, einige Mönche gesehen zu haben.
»Bist du dir sicher?« fragte Hildegard.
»In jener Nacht hielt ich es für ein Hirngespinst. Deshalb habe ich dir auch nichts davon erzählt. Nun aber, unter diesen Umständen .«
»Wir sollten auf jeden Fall auf der Hut sein. Wenn es stimmt, was du gesehen hast, steckt womöglich Kuno hinter der >Einladung< des Grafen Tronecken.« Hildegard erhob sich mit einem Seufzer. »Komm, wir wollen uns noch ein wenig die Füße vertreten. Nach dem ganzen Tag im Sattel tut uns das gut.«
Die Tür ließ sich nicht öffnen. Zunächst dachte Hildegard, die Schuld liege bei ihr, weil sie sich ungeschickt anstelle. Als sie sie aber auch zu zweit nicht aufbrachten und für ihr Klopfen lediglich höhnisches Gelächter ernteten, wußten sie Bescheid.
Die Falle war zugeschnappt.
Der Raum, den Graf Konrad großspurig als Speisesaal bezeichnet hatte, maß vielleicht fünf mal fünf Doppelschritte. Ein riesiger, für das Zimmer völlig überdimensionierter Kamin sorgte für Backhaustemperaturen. Insgesamt sechs Personen hatten an der hufeisenförmig aufgestellten Tafel Platz...