Kapitel 1
»Heute hast du einen neuen Tiefstand erreicht, Lauren Grace Stevens.«
»Arck! Arck!«, kreischte der Papagei auf Laurens Schulter und nickte mit seinem gefiederten Schopf. Offensichtlich war er derselben Meinung wie die Frau, auf deren Schulter er balancierte.
»Das Letzte, was ich momentan brauche«, fuhr Lauren fort, »ist Kritik von einem gefiederten Teufel.«
Der Papagei senkte den Kopf. Lauren seufzte und kraulte dem einzigen Verbündeten, den sie in New Orleans hatte, den Schnabel. »Schon gut. Verzeih, dass ich dich Teufel genannt habe. Du bist ja nicht schuld daran, dass es mir so mies geht.«
»Arck! Billig kaufen. Teuer verkaufen!«
Lauren musste trotz allem grinsen. Die frühere Besitzerin des Vogels hatte ein glückliches Händchen für den Aktienmarkt gehabt. Aber leider hätte auch das dickste Aktienpaket der Welt Mrs Plaisance nicht vor der Lungenentzündung retten können, der sie zum Opfer gefallen war. Und dieses Ereignis war der Anlass für Laurens eigenen Absturz von einer bezahlten Gesellschafterin zu ihrem augenblicklichen Status als Straßenkünstlerin gewesen, die sich Trinkgelder für Fotos mit ihrem exotischen Papagei verdiente. Obwohl ihr jeder davon abgeraten hatte, hatte sich Lauren vor zwei Monaten noch einmal Urlaub von ihrer Doktorarbeit genommen, um Mrs Plaisance nach New Orleans zu begleiten. Wenn sie ihr Doktorvater jetzt nur sehen könnte.
»Mom, darf ich den Vogel streicheln?«
Lauren lächelte den Jungen an, der sich dem Platz näherte, den sie unter den Tarotkartenlesern, Jongleuren, Künstlern, Musikern und Pantomimen, die hier Geschäfte mit den Touristen machten, für sich ergattert hatte. Die Besucher der Stadt wurden vom Jackson Square im French Quarter genauso angezogen wie Lemminge von einer norwegischen Klippe.
»Nur wenn die Dame es erlaubt«, erwiderte die Frau, die im Kielwasser ihres Sohnes auf sie zuhechelte. Sie trug mehrere Einkaufstüten, aber eine grellviolette Tüte mit Goldlettern, die geradezu tanzten, während die Tüte gegen den Schenkel der Frau schlug, weckte Laurens Aufmerksamkeit. Sie las »Bayou Magick Shop.« Die Künstlerin in ihr wurde von der Schönheit des Designs angesprochen, und sie nahm sich vor, sich demnächst einen Besuch in diesem Laden zu gönnen, nur um zu sehen, was für ein Etablissement sich so viel Mühe mit seinen Einkaufstüten gab. Sie konnte natürlich nichts kaufen, aber das war auch nicht Ziel dieses Unterfangens.
»Wenn Buster damit einverstanden ist«, sagte Lauren zu dem Jungen. »Ich hab nichts dagegen.«
»Was ist denn das für ein Name für einen Vogel?«
»Seiner«, erwiderte Lauren.
Der Junge drehte sich zu der Frau um. »Das ist doof. Warum sind wir hierher gekommen? Du weißt doch, dass ich nach Disney World will.«
Die Frau richtete einen grimmigen Blick auf Lauren.
Eingedenk ihrer leeren Taschen interpretierte Lauren den Blick richtig. Sie fühlte sich sehr mies wegen ihrer Falschheit, aber sie sagte: »War nur ein Scherz.«
»Ja?«
»Wie würdest du denn einen Papagei nennen?«
Die Augen des Jungen strahlten. Er musterte den Vogel, dann streckte er eine Hand nach Busters grellbunten Flügeln aus. »Tweety. >Buster< ist ein Hundename.«
So berechenbar. Zwei Stunden Arbeit für Trinkgelder, und sie hatte mehr darüber gelernt, wann es wichtig ist, den Mund zu halten, als in den achtundzwanzig Jahren ihres Lebens davor. »Gut, dann nennen wir ihn Tweety.«
Der Junge nickte und hielt dem Vogel seine Hand hin.
»Billig kaufen. Teuer verkaufen!« Buster spreizte die Flügel und hopste von Laurens Schulter auf die des Jungen. Das Kind lächelte und Lauren ebenfalls. In ein paar Minuten sollte sie von den beiden genug kriegen, um ihre Kosten für diesen Tag zu bestreiten.
»Wow, Mom«, sagte der Junge. »Er mag mich. Krieg ich einen Vogel, wenn wir wieder daheim sind?«
Die Frau, die gerade eine Schokoladentafel ausgepackt hatte, stutzte mit einem Riegel auf dem Weg in ihren Mund. »Nein.« Die Frau warf Lauren wieder einen grimmigen Blick zu. »Gib ihn zurück. Sofort.«
Lauren griff nach dem Vogel und setzte ihn wieder auf ihre Schulter. Der Junge kramte in seiner Tasche und warf etwas Kleingeld in die ausrangierte Popcornschachtel, die Lauren zu ihren Füßen aufgestellt hatte. Lauren wartete darauf, dass die Mutter den echten Beitrag lieferte, und rang sich noch ein Lächeln für den Jungen ab.
Die Frau steckte sich noch ein Stück Schokolade in den Mund und zerrte dann den Jungen ohne ein weiteres Wort weg.
Zwei Vierteldollar funkelten in der Sonne.
Zwei Vierteldollar reichten nicht einmal für eine Trambahnfahrt, ganz zu schweigen von den Künstlerutensilien, die sie brauchte, wenn sie wirklich Geld verdienen wollte, um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
»Guten Morgen«, sagte eine tiefe Stimme direkt neben ihr.
Lauren machte einen Satz. Sie hatte den Mann nicht kommen hören, und jetzt stand da, kaum dreißig Zentimeter entfernt, das tollste Exemplar von Mann, das sie je gesehen hatte. Blond, mit kurz geschorenen Haaren, gute eins achtzig groß. Er hatte volle, sanft nach oben geschwungene Lippen, und sie wusste instinktiv, dass sie warm und fest sein würden, wenn man sie berührte. Über der perfekt geformten Nase Augen so dunkelblau wie der Anzug, der, das könnte sie beschwören, aus Kaschmir war. Sie musste sich mit Gewalt zurückhalten, sonst hätte sie die Hand ausgestreckt und den Stoff gestreichelt.
»Hallo«, sagte sie.
Dieses eine Mal hatte Buster nichts zu sagen, fixierte aber den Mann mit starrem Blick.
»Ich muss mir Ihren Papagei aus der Nähe ansehen«, sagte der Mann. »Ein African Grey?«
Lauren überlegte sich die Antwort und war sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Ob sich dieser gut angezogene Mann fragte, wieso eine Straßenkünstlerin einen so wertvollen Vogel besaß? Lauren würde das.
»Ein echter Schnuckel«, sagte sie und kraulte Busters Schopf.
»Ja, das seh ich«, sagte der Mann, sah aber dabei seltsamerweise Lauren an und nicht Buster.
Der Saxophonist, der hinter Lauren am Zaun lehnte, wählte ausgerechnet diesen Moment, um eine Note zu blasen, die jede Antwort überflüssig machte.
Der Mann kam näher und sagte durch eine geträllerte Version von »Summertime«: »Sie kommen also regelmäßig hierher?«
Laurens Blick wanderte von dem Mann zu der Wahrsagerin, die neben ihr saß, dann hinunter zu ihren Füßen. Hoffentlich nicht, dachte sie, aber was war das für eine Antwort. Du arbeitest für Trinkgeld, erinnerte sie sich und lächelte ihn an. »Oh, ja, Sie können die Uhr danach stellen, jeden Tag, obs regnet oder die Sonne scheint.«
»Billig kaufen, teuer verkaufen!«
»Und wie ich sehe, haben Sie Ihren Finanzberater immer dabei.«
Lauren kicherte. Sie wusste trockenen Humor zu schätzen.
»Wie wärs mit einem Blick in die Zukunft?«, mischte sich jetzt Sister Griswold, die Hand- und Kartenleserin, die neben Lauren arbeitete, ein. Sie war eine Veteranin des Gewerbes Touristen aufreißen und erkannte sofort jede potenzielle Geldquelle.
Lauren seufzte und fügte sich in den unvermeidlichen Verlust ihres Kunden. Die alte Frau war so nett gewesen, sie in die ungeschriebenen Gesetze von Jackson Square einzuführen, hatte sie aber auch gewarnt, hier war sich jeder selbst der Nächste.
Na ja, es sah sowieso nicht danach aus, als ob Lauren mit diesem Mann etwas verdienen würde. Er hatte weder eine Kamera noch einen Stadtplan bei sich. Wahrscheinlich ein Einheimischer, der irgendwelche Geschäfte im French Quarter zu erledigen hatte.
»Kostet nur zwanzig Dollar«, sagte Sister Griswold.
»Zwanzig ?« Lauren holte erschrocken Luft und kniff dann rasch den Mund zusammen. Ihren letzten drei Kunden hatte die Frau erzählt, sie würde nur für Trinkgeld arbeiten, und keiner hatte ihr mehr als fünf Dollar gegeben.
Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen, aber nicht wegen des Wucherpreises, er sah Lauren unverwandt an. »Ist es das wert?«
Sein eindringlicher Blick verwirrte sie. Aber wenn Sister Griswold diesen gut angezogenen Kunden verlöre, würde sie das büßen müssen. Lauren nickte und sagte locker: »Wer kann schon einem Blick in die Zukunft widerstehen?«
Der Mann zog einen Zwanzigdollarschein aus seiner eleganten Brieftasche, dann setzte er sich auf den Gartenstuhl, der vor dem mit einem violetten Tuch drapierten Kartentisch stand. Sister Griswold mischte das Tarotspiel mit der Eleganz eines erfahrenen Croupiers in Las Vegas, dann ließ sie die Karten abrupt auf einen Stapel vor sich fallen.
Lauren versuchte, nicht zu neugierig hinzustarren.
»Nicht die Karten«, sagte Sister Griswold. »Geben Sie mir Ihre Hand.«
Der Mann zögerte, dann fügte er sich.
Es war wirklich ein schräger Anblick, wie dieser Mann im Kaschmiranzug auf dem Klappstuhl saß, der schon bessere Tage gesehen hatte und mit Sicherheit weit weniger elegante Kunden. Sie fragte sich, wieso er sich bereit erklärt hatte, sich wahrsagen zu lassen. Er war wie ein Geschäftsmann gekleidet, und auf sie machte er nicht den Eindruck eines Mannes mit großer Fantasie. Vielleicht hatte Sister Griswold das auch gespürt und hatte beschlossen, für ihr Geld alle Register zu ziehen.
Lauren hielt nicht viel vom Karten- oder Handlesen. Wohl wissend, dass ihr eigenes Pech sie zum Jackson Square verschlagen hatte, um irgendwie Geld von dem steten Fußgängerstrom und den Touristen, die es locker ausgaben, zu erheischen, ging sie davon aus, dass die anderen Straßengaukler sich ebenfalls einfach durchschlugen, egal mit welchen Mitteln. Die Künstler stufte Lauren in eine andere Kategorie ein....