Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Rettungshubschrauber, ein Sea King, hob vom Helipad ab, als wäre er ein Lift, verharrte einige Meter über dem Boden und schwankte im Wind, bevor er sich zur Seite neigte, die Nase leicht senkte und Kurs auf den Vestfjord nahm.
Die Meldung lautete: Russischer Trawler nordwestlich von Sortland. Kapitän akut erkrankt.
Hans Falck saß ganz hinten in der Maschine, auf dem Sitz rechts vom Rettungssanitäter, in einem wollgefütterten signalroten Überlebensanzug und angeschnallt mit einem Dreipunkt-Sicherheitsgurt. Schneeregen peitschte gegen das Fenster. Sie hatten heftigen Gegenwind, die Kabine rüttelte so stark, dass die medizinischen Geräte sich bewegten. Es war der letzte Tag Bereitschaft in dieser Schicht.
Unter sich erkannte er die Meerenge zwischen Bodø und den hohen Gipfeln auf Landegode. Es war früh am Vormittag, aber das Novemberlicht war so schwach, dass die Kabine in Dämmerung gehüllt war.
Schon seit Hans ein kleiner Junge war und Onkel Herbert ihm den ausgestopften Eisbären im Svalbard-Büro der Reederei Det Hanseatiske Dampskipsselskap gezeigt hatte, zog es ihn in den Norden. Für ihn war das wie ein physikalisches Gesetz, wie ein Objekt, das Bodenhaftung verlieh. Alle Erinnerungen an diesen Landesteil lagen tief in ihm verborgen, so wie Menschen ihre verlorene Jugend oder die Erinnerung an eine alte Liebe in sich tragen. Die Luft konnte sie heraufbeschwören, feucht an der Küste, trocken und eiskalt auf den Hochebenen im Inland. Oder die zerklüfteten und endlosen Landschaften, schneebedeckt und vom Nordlicht erhellt im Winter, in ewige Sonne getaucht im Sommer. Die geradezu südländische Herzlichkeit der Nordnorweger kannte er aus der Levante.
»Doktor Hans«, sagte Rettungssanitäter Giske. Der selbstsichere junge Westnorweger schlürfte einen Becher Tütensuppe und schaute gelangweilt hinaus auf die stürmische See. »War das nicht da unten, wo dieses Hurtigrutenschiff mit deinen Verwandten an Bord im Krieg untergegangen ist?«
Hans blickte nachdenklich hinunter auf die Schaumkronen im Vestfjord. Mit dem Schiffbruch der Hurtigrute war dem Osloer Zweig der Familie Falck die direkte Abstammungslinie gekappt worden. Die größte ihrer vielen Lügen.
Es war außerdem hier gewesen, während einer Konferenz auf einem Hurtigrutenschiff im Trollfjord, als Siri Greve mit einer Kopie von Veras Testament zu ihm gekommen war.
Praktisch hatte Vera ihm und seinem Familienzweig die Kontrolle über eine Gesellschaft im Wert von zwölf Milliarden Kronen, eine gemeinnützige Stiftung und die vielleicht attraktivste Privatimmobilie des Landes vermacht. In letzter Zeit hatte M. Magnus besonders viel Druck gemacht. »Du musst dein Recht einfordern«, hatte er gesagt.
Natürlich konnte Hans gute Gründe nennen, warum er den Kampf nicht aufgenommen hatte. Dass sein radikales Gewissen in direkter Opposition zum Falck-Vermögen stand. Dass sein Idealismus unvereinbar mit modernem Privatkapitalismus war. Dass sein Platz draußen war, im aktiven Einsatz, und nicht in einem Rosenturm auf Rederhaugen.
Ein Leben zu retten bedeutete für ihn, die ganze Welt zu retten.
All das könnte er sagen, und die Leute würden gebannt zuhören, wie sie es immer taten, wenn er sprach, am Esstisch, bei der Verleihung einer Ehrendoktorwürde, in einem libanesischen Flüchtlingslager oder bei einer Bewohnerversammlung in Nordnorwegen, wo man gegen die Schließung eines örtlichen Krankenhauses kämpfte.
Sie ließen sich alle in seinen Bann ziehen.
In den Augen anderer war Hans der Inbegriff von Tatkraft. Wenn Alarm gegeben wurde, wenn die Bomben fielen und Menschen sich in Not befanden, war niemand rascher zur Stelle. Das war seine zentralstimulierende Droge. Aber wenn die familiären Beziehungen schwierig wurden, vergrub Hans seine Geheimnisse unter haufenweise Arbeit.
Der Sea-King-Hubschrauber wurde heftig durchgeschüttelt, gerade als sich auf der linken Seite die Konturen der Lofot-Wand abzeichneten, eingehüllt in Unwetterwolken und tief hängendem Nebel.
Ebenso wie Hans besaß Giske diese ruhepulsartige Gelassenheit, welche so fremd auf Zivilisten wirkte, die von leichten Turbulenzen auf einem Linienflug in Angst versetzt wurden. So etwas hatte Hans nie geschreckt. Es war die Ruhe, die ihm unheimlich war - die Stille nach einer erhitzten Diskussion am Esstisch oder nach einem aufgeflogenen Seitensprung.
Sie hatten die steilen Felseninseln der Vesterålen überflogen und waren auf dem Weg hinaus auf den endlosen Atlantik, als der Pilot sich im Headset meldete.
»Fünf Minuten bis zur angegebenen Position. Giske, mach dich bereit für den Abstieg aufs Schiff.«
Hans entdeckte den Trawler als Erster: ein blauer Rumpf unter einer schwarzen Winsch mit der Kommandobrücke vorn und einem breiten Heck achtern, hoch und plump wie eine schwimmende Fabrik. Vielleicht hundert Fuß lang, obwohl das schwierig abzuschätzen war. Eine starke Bö riss den Hubschrauber hoch und stieß ihn hinab in ein Luftloch, wie ein Schiff auf dem Meer. Der Rettungssanitäter stand auf und hangelte sich vor zur offenen Luke. Eiskalter Wind schlug ihnen entgegen. Der Navigator hatte sich erhoben und stand neben ihm.
»Wir sind auf Position«, sagte der Pilot mit der gleichgültigen, beinahe lässigen Stimme, die einen guten Unwetterpiloten auszeichnet.
»Gibt es Neuigkeiten zum Krankheitsbild des Kapitäns?«, fragte Hans. »Alkoholvergiftung?«
»Sie wirken ziemlich gestresst«, sagte der Navigator. »Wenn du mich fragst, hat er akute Schmerzen.«
»Giske, klarmachen zum Runtergehen«, kommandierte der Pilot.
Der Navigator und der Maschinist überprüften, dass der Sanitäter sicher befestigt war.
Mit beidhändigem Griff um die Stange über der Luke lehnte Giske sich hinaus und ließ sich von der Winde hinabfieren. Schnee wehte ins Innere des Hubschraubers, dicke Flocken schmolzen auf Hans' signalroten Schenkeln. Die Rotoren lärmten infernalisch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit meldete der Sanitäter schließlich, dass er unten war.
»Zustand des Russen?«, fragte der Navigator.
»Sie wollen mich nicht in die Kabine lassen, in der er liegt«, rief Giske. »Aber soweit ich das beurteilen kann, hat er starke Schmerzen im Bauchraum. Schlechter Allgemeinzustand.«
»Sorg dafür, dass sie ihn auf die Trage legen«, rief der Navigator, »dann sehen wir ihn uns hier oben an und bringen ihn nach Bodø.«
Erneutes Rauschen in der Verbindung, sie konnten wütende Rufe hören.
»Die Russen weigern sich, ihn mir mitzugeben«, meldete Giske. »Sie finden, es ist zu gefährlich, und er ist zu krank.«
»Dann können wir nichts tun«, sagte der Navigator. »Wir ziehen dich hoch.«
»Warte!«, rief Hans in den Sprechfunk. »Giske, kannst du die Russen bitten, seinen Unterbauch abzutasten? Sag ihnen, sie sollen den Bauch vorsichtig ein paar Zentimeter tief eindrücken. Tut ihm das weh?«
»Erstaunlich wenig, berichten sie«, antwortete der Sanitäter einige Augenblicke später.
»Dann sag ihnen, sie sollen den Druck schlagartig lösen.«
Der Schrei, der nun folgte, war so heftig, dass kein Zweifel bestand.
Im Cockpit sahen sie einander an, der Navigator, der Maschinist und Hans.
»Ich glaube, wir können den Mann retten«, sagte Hans ernst. »Ich gehe runter.«
Die beiden anderen sagten nichts, sondern nickten stumm.
Hans hakte sich an die Sicherungsleine, stand auf und machte breitbeinig ein paar Schritte durch den schaukelnden Hubschrauber auf die Luke zu. Er befestigte sich am Abseilgurt. Der Navigator überprüfte, dass er festgeschnallt war.
Dann schwang Hans sich hinaus in die Dunkelheit und begann, sich abzuseilen. Der Lärm der Rotoren mischte sich mit dem Wind. Tief, tief unten konnte er die Lichter des Trawlers ausmachen. Wie hoch oben er war! Der Rumpf zeichnete sich auf einem Wellenkamm ab, gleichsam reglos wie ein gestrandetes Schiff bei Niedrigwasser, bevor er in einem weiß schäumenden Tal verschwand. Hans pendelte hin und her, sodass er für einen Moment glaubte, er würde gegen einen der Masten geschleudert werden.
Der Wind war stark, aber Hans fühlte sich in der mit Gewichten beschwerten Steuerleine sicher.
Jetzt konnte er den Trawler deutlich sehen. Ein großes rostiges Ungeheuer.
Noch sieben Meter, fünf Meter, drei Meter .
Unten auf dem Deck löste er sich von der Leine und ging schwankend hinüber.
»Was machen wir?«, fragte Giske.
»Du wartest hier«, rief Hans. »Ich rede mit den Russen.«
Zwei russische Seeleute kamen auf ihn zu. Durch den Wind rief Hans, er sei Arzt und habe eine Vermutung, woran der Kapitän leide.
Einer der beiden gestikulierte und versuchte es mit einer Antwort. »Doktor okay. Operation hier.«
Der andere Russe trat vor, als wollte er den Worten Nachdruck verleihen. Hans nickte und eilte auf die Brücke, wo man ihn in die Kapitänskajüte brachte.
Der Kapitän lag auf einer Trage auf dem Boden. Er war ein athletischer, muskulöser Mann in den Vierzigern.
Hans öffnete die Sanitätstasche und sah nach, was ihm zur Verfügung stand. Hielt ein Skalpell gegen das...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.