Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Stunden lang durchsuchte Margareta alleine das Gelände. Jon Henrik musste sich zusammen mit seinem Gehilfen um seine Rentiere kümmern. Wenn am Nachmittag der Lastwagen der Schlachterei kommen würde, mussten seine Tiere bereit zum Abtransport sein.
Sie durchstreifte das Dickicht und den Birkenwald in der Nähe des abgestellten Saabs und umrundete alte, stillgelegte Gehege, in denen früher die Schlachtung stattgefunden hatte. Sie waren wohl zu klein geworden, deshalb hatten die Samen weiter oben neue gebaut. Sie lief durch dicht wuchernde Weidenbüsche, über Wiesen mit verblühtem Wollgras und Weidenröschen und nach oben auf den Berg, Richtung Hochfläche. Aber sie entdeckte nichts. Hier gab es auch keine Schlucht oder keinen Bergabsatz, den Ella hätte hinabgestürzt sein können. Der Berg war relativ flach und gut einsehbar. Margareta schaute durch ihr Fernglas, aber sie sah nur Zwergbirken und alte, ausgetretene Wanderpfade. Keine Spur eines menschlichen Wesens.
Schließlich ließ der Regen langsam nach, bis er ganz aufhörte und sogar ab und an die Sonne hinter dichten Wolken hervorblitzte. Nein, hier oben war nichts zu entdecken.
Sie ging den Berg wieder hinunter, vorbei an zerfallenen Torfkoten, in denen die Samen früher übernachtet hatten. Margareta linste durch ein schmutziges Fenster, aber es war zu dunkel, sie konnte kaum etwas erkennen. Früher waren diese Torfkoten mit frischen Birkenblättern ausgelegt gewesen. In der Mitte die Feuerstelle, darum verteilt die Rentierfelle, die damaligen Schlafplätze der Samen. Sie ging weiter und ließ auch die neueren Übernachtungshütten, Bau- und Wohnwagen links liegen, bis sie wieder unten am Schlachtplatz ankam.
Im Gehege waren inzwischen sicherlich um die fünfzig Samen damit beschäftigt, ihre Rentiere mit dem Lasso einzufangen. Das machten meist Männer, aber Margareta sah auch ein paar jüngere Frauen. Das Lasso verfing sich im Geweih und oft mussten die Samen die Tiere zu zweit zum Ausgang ziehen, denn die wehrten sich mit aller Kraft, versuchten das Lasso abzuschütteln und schlugen verzweifelt mit den Hinterbeinen aus. Doch sie hatten keine Chance. Unerbittlich wurden sie in die kleineren Gehege gezogen, in denen der Tod auf sie wartete. In einigen der Umzäunungen sammelte man die Tiere, die am Nachmittag zur Schlachterei gefahren werden sollten, in anderen standen diejenigen Tiere eng aneinandergedrängt, die für die Hausschlachtung bestimmt waren. Ein Rentier nach dem anderen wurde in einen kleinen, mit hohen Holzbrettern versehenen abgetrennten Verschlag gezogen. Dort wurden sie mit einer Bolzenschusspistole erschossen und bluteten dann, nach dem Schnitt in die Kehle, aus.
Margareta vermied es, hinzuschauen, sie konnte das viele Blut nicht sehen. Sicher, die Samen lebten vom Verkauf ihrer Tiere, Rentierfleisch war ihrer aller Grundnahrungsmittel, und es war auch das beste Fleisch, das sie kannte. Sie selbst liebte Rentierfleisch in jeder Form, in der Suppe, als Geschnetzeltes, als Hackfleisch. Trotzdem, das Schlachten der Tiere konnte sie nicht mitansehen.
Sie ging ein paar Schritte weiter. Auf dem Schlachtplatz wimmelte es nun von Kindern, Männern und Frauen. Meist zu zweit nahmen die Samen die Rentiere aus, schabten vorsichtig mit dem Messer das Fell ab, damit es nicht beschädigt wurde, und entfernten die Innereien. Die fertig ausgenommenen Rentiere wurden an einem Haken aufgehängt, die abgeschnittenen Rentierköpfe lagen etwas abseits auf dem Boden. Mit Holzstäben rührten Kinder das in großen Eimern aufgefangene Rentierblut um. Einige ältere Saminnen kümmerten sich um die Kleinkinder, machten Feuer und bereiteten Kochkaffee zu. Margareta schaute sich genauer um. Sie sah keine Touristen, wie sonst üblich. Wahrscheinlich hatte sie das schlechte Wetter abgehalten. Nur zwei Journalisten von TV4 hatte sie vorhin ausmachen können. Einer hatte eine schwere Kamera auf der Schulter getragen, der andere hatte mit einem Mikrofon Interviews geführt. Margareta grüßte einige Bekannte mit Kopfnicken, dennoch bemerkte sie die misstrauischen Blicke der Samen. Sie fragten sich sicher, was eine Polizistin hier zu suchen hatte.
Langsam ging sie weiter durch die arbeitenden Menschen hindurch. Ruhig ging es hier zu, fast gelassen. Es herrschte keinerlei Hektik, niemand schrie herum, die Samen unterhielten sich leise, sie beherrschten ihre Arbeit. Etwas abseits vom Getümmel bemerkte Margareta eine alte Samin an der Schlachtbank. Trotz der blutigen Arbeit trug sie die prachtvolle samische Tracht: eine bunt bestickte Mütze und einen dunkelblauen Wollumhang. Die alte Frau kam Margareta bekannt vor. Sie trat ein paar Schritte näher. Tatsächlich, es war Satu Kuhmunen, deren Enkel vor eineinhalb Jahren seinen besten Freund verloren hatte. Er war ermordet worden. Mit ruhigen Bewegungen schnitt die Samin den Körper des Rentieres auf und nahm konzentriert, ja fast andächtig, das Tier aus. Fasziniert sah Margareta ihr dabei zu. Als die alte Frau den Kopf hob und ihr zulächelte, lächelte Margareta beschämt zurück. Hatte sie die Samin bei ihrer meditativen Arbeit gestört? Sie ging weiter, das alles hatte keinen Sinn, hier war Ella Vikström auch nicht. Sie musste die Suche abbrechen, vielleicht würde sie irgendwann einfach wieder auftauchen. Margareta hoffte es.
Sie fand Jon Henrik Paltto in einem der Gehege. Er unterbrach seine Arbeit und lief ihr entgegen.
»Es tut mir sehr leid, aber ich habe sie nicht gefunden. Wir müssen abwarten, vielleicht taucht sie wieder auf und alles war ganz harmlos.« Margareta zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Aber .«
»Wir warten noch einen Tag ab. Wenn sie bis morgen früh nicht auftaucht, werde ich einen Suchtrupp organisieren.« Sie versuchte zu lächeln, merkte aber, dass es ihr misslang. »Im Moment kann ich leider nicht mehr tun. Es verschwinden viele .« Sie verkniff sich den Rest des Satzes, weil sie Jon Henriks wütenden Blick bemerkte.
»Was meinen Sie damit? Sie ist nicht Zigaretten holen gegangen.«
Nein, das hatte sie auch nicht gemeint, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Sie hatte an den »Mustang-Mann« gedacht. Vor ein paar Jahren war ein Mann verschwunden, dessen weißer Ford Mustang am Pärlälven, am Perlenfluss, geparkt war. Nicht weit von Jokkmokk entfernt. Zuerst hatte sich niemand etwas dabei gedacht, Wanderer stellten manchmal ihre Autos an den unmöglichsten Stellen ab. Es war auch niemand vermisst gemeldet gewesen. Doch der Wagen hatte wochenlang am Wegesrand gestanden und nach zwei Monaten war eine Vermisstenmeldung aus Polen eingetroffen. Sie hatten damals mit Spürhunden gesucht, hatten sogar private Suchtrupps eingeschaltet, jedoch ohne Erfolg. Der Mann war bis heute verschwunden.
»Bitte melden Sie sich bei mir, wenn .«
Doch Jon Henrik Paltto hatte ihr bereits den Rücken zugekehrt und ging zurück zu seinen Tieren.
Sie kramte nach ihrem Autoschlüssel, da fiel ihr Blick auf Johan, ihren Exmann, der weiter hinten auf dem Gelände an einer Schlachtbank beschäftigt war. Sie ging zu ihm und fragte nach Hanna. Er sagte nichts, deutete nur kurz nach links zum Parkplatz, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Zuerst sah Margareta nur ein Gewusel von Menschen, doch dann stach ihr die türkisfarbene Regenjacke ihrer Tochter in die Augen. Mit Riesenschritten lief Margareta auf den mit Schlachtabfällen gefüllten Container zu, auf dem Hanna mit zwei weiteren Mädchen stand und interessiert zwischen Rentiermägen, Lebern, Nieren, abgeschnittenen Köpfen und Gedärmen herumstocherte.
»Was zum Teufel tust du da oben? Verdammt, Hanna, komm sofort da runter!«
»Was?« Hanna hob sichtlich genervt den Kopf.
»Spinnt ihr? Was soll denn das?« Margareta sah die blutigen Eingeweide, sie musste würgen und sich am Container festhalten, wich jedoch sofort wieder angeekelt zurück.
Die drei Mädchen schauten sie mit großen Augen an.
»Wir suchen nach Abfällen für Mirko. Er mag am liebsten den Schlund von den Rentieren«, sagte Hanna und fuhr unbeirrt damit fort, mit einem Holzstecken in den Gedärmen zu wühlen.
»Runter! Aber sofort!« Margaretas Ton war so scharf, dass Hanna keinen Widerstand mehr leistete. Widerwillig stiegen die drei Mädchen über die Holzrampe aus dem Container.
»Aber Papa hat gesagt, Mirko braucht .«, versuchte es Hanna erneut. Die beiden anderen Mädchen schauten verlegen, doch ihre Tochter wollte immer noch nicht aufgeben. Mit finsterer Miene schaute Hanna ihr direkt ins Gesicht.
Mirko, Johans Lappenhund, ein schwarzer Wirbelwind mit dunklen, treuen Augen. Früher war es mal ihr gemeinsamer Hund gewesen. »Mir egal, was Papa sagt«, unterbrach Margareta ihre Tochter. »Mirko wird sicher noch was anderes zum Fressen finden. Ihr könnt doch nicht blutende Schlachtabfälle durchwühlen. Das ist ja widerlich!«
»Mirko mag das. Mann, bist du blöd!« Abrupt drehte sich Hanna um und rannte davon, hinterdrein ihre Freundinnen.
Margareta schaute den Mädchen nach und schüttelte den Kopf. Ihre gerade mal zehnjährige Tochter, die wochenweise bei ihr oder Johan wohnte, wurde in letzter Zeit immer aufmüpfiger. War das schon der Anfang der Pubertät? »Hanna! Jetzt bleib doch stehen«, rief sie ihr noch nach. Aber die war bereits zwischen abgezogenen und aufgehängten Rentierleibern verschwunden.
Wie konnte Johan sie noch dazu ermuntern, in Schlachtabfällen zu graben? Darüber würde sie mit ihm reden müssen! Und sie hoffte, dass er wenigstens dazu eine Meinung haben würde, wo er sonst so schweigsam war und nur das Nötigste sprach.
Sie lehnte sich an die schräge Holzrampe. Sie spürte, wie ihr Mageninhalt nach oben drängte, und übergab...
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