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Natürlich war der Tag nach Mamas Anruf und den «wunderbaren Neuigkeiten» über Katharinas erneute Schwangerschaft für mich gelaufen. Manchmal bildete ich mir ein, dass die ewigen Vergleiche mit meiner perfekten Schwester mich nicht mehr tangieren konnten, sondern wie Wasser an mir abglitten. Aber so war es nicht. Es tat weh. Immer noch, immer wieder. Wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit.
Als Lea nach Hause kam, war mein eilig zubereitetes Mittagessen angebrannt und meine Laune auf dem Tiefpunkt. Ihre schien auch nicht besser. Warum auch? Seit Wochen hatte meine Tochter eine Art Abonnement auf schlechte Laune. Pubertät eben . Eine knappe Begrüßung murmelnd, warf sie ihre Tasche auf einen Stuhl, um dann sogleich zum Herd zu stürzen und misstrauisch in den Backofen zu gucken. Ihre Mundwinkel verzogen sich.
«Broccoliauflauf!! Voll eklig!»
Mit fünfzehn findet man im Grunde alles eklig, außer vielleicht Salat, Obst, Nudeln, Pommes und Schokolade. Lea griff sich einen Apfel und verschwand in ihrem Zimmer. Also nahm ich nur für mich einen Teller aus dem Schrank, füllte den angebrannten Broccoli auf und begann lustlos zu essen. Warum war Lea nur so schnell groß geworden? Wann war sie von der kleinen Kuschelmaus zum dauergenervten Teenie mutiert? Früher hatte Lea mir jeden Tag, manchmal drei- oder viermal gesagt, wie lieb sie mich hat. «Guck mal, Mama, soooo lieb!» Dazu hatte sie jedes Mal ihre Arme ausgebreitet, so weit sie nur konnte, und ich hatte sie an mich gezogen, glücklich, sicher, dass diese starken Bande zwischen uns jede künftige Krise überstehen würden, selbst die Pubertät. Natürlich, diese Schwierigkeiten mit Lea würden in ein paar Jahren überstanden sein, das war mir durchaus klar. Wenn Thomas und ich uns mit anderen pubertätsgeplagten Eltern austauschten, konnten wir über das Verhalten unserer Sprösslinge sogar lachen, indem wir uns gegenseitig übertrumpften mit Horror-Geschichten. Aber heute konnte ich nicht lachen. Heute fühlte ich mich einfach zum Heulen. Zu meinem Entsetzen spürte ich, dass mir tatsächlich Tränen in die Augen schossen. Ich schob meinen Teller weg und stand auf. Was für ein Tag! Hoffentlich kam wenigstens Thomas nicht so spät aus dem Büro wie in den vorangegangenen Tagen. Ich hatte seinen Trost und seinen unerschütterlichen Optimismus heute wirklich bitter nötig.
Während ich meinen Teller in die Spülmaschine räumte, klingelte das Telefon. Ich reagierte nicht. Um diese Zeit waren ohnehin alle Anrufe für Lea. «Jetzt geh doch endlich dran, Mama!», hörte ich Lea brüllen.
Anscheinend war sie im Bad. Seufzend griff ich zum Telefon.
«Marie, hast du noch mal eben kurz Zeit?»
Meine Mutter, zum zweiten Mal an diesem Tag.
Nein, ich hatte keine Zeit. Vor allem hatte ich keine Lust, mir ihr Gerede heute noch mal anzutun. Mein Bedarf an Verletzungen war mehr als gedeckt. Ich zögerte. Was würde Mama wohl tun, wenn ich jetzt einfach den Hörer auflegte? Ohne ein Wort, ganz still. Kein Zweifel, sie würde natürlich sofort erneut anrufen, ganz klar. Vor Mamas Telefonterror gab es kein Entrinnen, jetzt nicht, heute nicht und überhaupt nie. Was redete sie da eigentlich?
«Weißt du, Marie, ich muss dir etwas sagen. Und . na ja, es ist nicht ganz leicht .»
Ich seufzte innerlich. «Nun sag schon, Mama. Ich hab nämlich wirklich keine Zeit. Ich muss .»
«Kind, die Dorit ist tot!»
Tot.
Dorit?
Ich musste mich verhört haben. Ich wartete darauf, dass meine Mutter weitersprechen würde, sich berichtigte, erklärte. Irgendwas. Aber am anderen Ende der Leitung blieb es still.
«Mama?»
«Ach, Marie, ich hätte es dir wohl schonender beibringen sollen. Aber ich wusste nicht, wie.»
«Dorit ist . tot?!»
Meine Stimme klang, als ob sie nicht zu mir gehörte. Blechern, gedämpft. Emotionslos. Die Nachricht war noch nicht zu mir durchgedrungen. Doch allmählich bahnte sie sich ihren Weg in mein Gehirn. Dorit war tot. Genau wie in Hannas Buch. Hatte sie etwa Schlaftabletten genommen, so wie im Roman? Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Ich schnappte nach Luft. Ich hatte das Buch mit wachsendem Entsetzen gelesen. Nackt hatte ich mich gefühlt und verletzlich. Ich verstand es einfach nicht: Wie konnte Hanna die schrecklichen Ereignisse von damals derart hemmungslos für ihre Zwecke missbrauchen? Egoistisch war sie immer gewesen, aber nicht so kaltherzig. Hatte sie denn gar nicht an die eventuellen Folgen gedacht? War es ihr völlig gleichgültig, dass man uns vier vielleicht erkennen würde? - Und nun sollte Dorit tot sein, genau wie ihr Pendant in «Sommer der Sünde» . Ich konnte es nicht fassen.
«Was . was ist denn passiert?» Nur mühsam gelang es mir, die richtigen Worte zu formen und auszusprechen. Meine Mutter hingegen schien sich schon wieder gefangen zu haben. In ihrer Stimme vibrierte bereits eine gehörige Prise Sensationslust.
«Das weiß man noch nicht genau, Marie! Man hat sie im See gefunden, wahrscheinlich ertrunken! Die Polizei war auch in ihrem Haus und hat nach Indizien gesucht.»
«Die Polizei? . nach Indizien .» Meine Stimme, wie ein Echo.
Unwillkürlich sah ich Dorits Haus vor mir. Das Haus, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. In dem ich selber so oft ein- und ausgegangen war. In dem wir alle ein- und ausgegangen waren, damals, vor gefühlten hundert Jahren: Hanna, Fabienne und ich. Und nun sollte Dorit tot sein. Blass, kalt, leblos. Vorstellen konnte ich mir das nicht.
War es wirklich erst zwei Wochen her, dass ich mit ihr telefoniert hatte? Ich kramte in meinem Gedächtnis, rechnete nach, als hätte es irgendeine Bedeutung, wann genau wir miteinander gesprochen hatten. Im Grunde spielte es keine Rolle. Jetzt sowieso nicht mehr.
«Marie?»
Meine Mutter schien eine Antwort zu erwarten. Auf was? Ich hatte kein Wort von dem verstanden, was sie zuletzt gesagt hatte.
«Ich habe dich gefragt, ob du zur Beerdigung kommst, Marie! - Ach, Unsinn, natürlich kommst du! Ihr seid doch Freundinnen gewesen, Dorit und du.»
Waren wir das? Früher vielleicht. Da hatten wir uns gegenseitig gebraucht, um gegen Hanna und Fabienne zu bestehen, um eine Chance zu haben, gegen die Schöne und die Kluge.
Die ständig zur Schau getragene Überlegenheit von Hanna und Fabienne war manchmal nur zu zweit zu ertragen gewesen. Oh, ich erinnerte mich genau: Hatte Hanna wieder einmal mit einer neuen Eroberung geprahlt, einem weiteren Jungen, der angeblich hinter ihr her war - chancenlos natürlich, denn Hanna beachtete Gleichaltrige gar nicht -, dann war es unglaublich wohltuend gewesen, später mit Dorit nach Hause zu radeln und dabei Hannas Geschichte noch einmal durchzuhecheln. Während Dorit und ich anfangs immer noch vorsichtig waren («Sag mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass XY sich an Hanna rangemacht hat? Ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen .»), verloren wir - je länger unsere Fahrt dauerte - zumeist alle Hemmungen. Und wenn ich mein Fahrrad zu Hause in unseren Schuppen schob, fühlte ich mich schon ein bisschen befreiter: So toll war Hanna nun auch wieder nicht! Die Hälfte ihrer Geschichten war sicher erlogen, auf jeden Fall aber stark übertrieben. Und auch Fabienne las vermutlich nicht nur Sartre und Camus, wie sie uns gerne weiszumachen versuchte. Aber es war merkwürdig: Sooft Dorit und ich auch darüber sprachen, dass uns Hannas und Fabiennes Allüren nervten, erwogen wir doch nie wirklich, uns zurückzuziehen. Immer wieder ließen wir uns auf die Verabredungen ein, beschworen die ewige Freundschaft der «Unzertrennlichen», um dann erneut Hannas Geschichten zu lauschen, Fabienne in allem, was sie sagte, zuzustimmen und das amüsierte Publikum zu geben. Es war wie ein Zwang gewesen.
Aber das alles war lange her, sehr lange. Kein Wunder also, dass mein Telefonat mit Dorit vor wenigen Wochen alles andere als eine lockere Plauderei gewesen war, auch wenn wir uns anfangs bemüht hatten, es so klingen zu lassen. Wir waren uns fremd geworden, und dennoch hatte ich durchs Telefon Dorits Erregung gespürt, als ich mich gemeldet hatte. Das Zittern ihrer Stimme war mir selbst nach all den Jahren noch so vertraut, dass ich sie genau vor mir gesehen hatte: zart, blass, das farblose feine Elfenhaar ungekämmt und unscheinbar - bis auf ihre Augen, die immer schon hellblau und groß gewesen waren. Die Dorits starken Willen verrieten, den man auf dem ersten Blick so leicht übersah und der einen später umso heftiger und unvermittelter treffen konnte. Ich erinnerte mich genau an den Hass in Dorits Augen, als sie uns damals von der Affäre ihrer Mutter erzählt hatte. Geradezu hysterisch war sie gewesen, weil ihre Mutter «wissentlich die Familie zerstörte». In Dorits Augen war bis dahin alles ganz wunderbar gewesen, die Familie intakt, die Beziehung ihrer Eltern gut, ja glücklich! Bis quasi aus dem Nichts dieser Arne auftauchte und ihre Mutter wegen ihm alles zerstört hatte, was Dorit bis dahin perfekt erschienen war. Einfach so.
Schon eine Woche, nachdem die Affäre aufgeflogen war, hatte Dorits Vater seine Sachen gepackt und war ausgezogen. Kurz danach hatte sich Arne im Bett von Dorits Mutter breitgemacht. Während Dorit sich im angrenzenden Zimmer das Getuschel, Gekicher und Gestöhne anhören musste, das Quietschen der Matratze, die «Geräusche der Geilheit», wie Dorit es nannte . einfach widerlich! - Das durfte nicht ungesühnt bleiben. Fand Dorit. Und keine von uns hatte ihr widersprochen. So waren die Dinge ins Rollen gekommen.
Nach dem schrecklichen Unfall waren wir Mädchen uns so gut wie möglich aus dem Weg...
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