Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Refshaleøen
Kirsten wandte sich ab und würgte den Speichel hinunter, der ihr vermehrt in den Mund schoss. Das war kein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass sie sich gleich übergeben musste.
Sie trat ein paar Schritte von der Leiche weg und wünschte sich, sie hätte eine Zigarette dabei. Damit könnte sie den Gestank nach Blut übertünchen, der in der feuchten Luft lag und ihr Übelkeit bereitete. Der Anblick der Leiche selbst war nicht das Problem, es waren die olfaktorischen Begebenheiten, mit denen sie es an Tatorten zu tun hatte, die ihr zu schaffen machten. Eine empfindliche Nase war für eine Kriminalkommissarin nicht sonderlich hilfreich.
Der Herbstwind fuhr ihr in die Haare und ließ sie vor Kälte zittern. Die feuchtkalte Luft, die vom Meer kam, verhieß Regen. Hoffentlich schafften sie es vorher noch, alle Spuren zu sichern. Kirsten strich sich die Locken hinter die Ohren und blickte hinauf zu der monströs anmutenden alten Werfthalle, die alle anderen Gebäude der Industriehalbinsel überragte und als ihr Wahrzeichen galt. Auf der dem Innenhafen zugewandten Seite von Refshaleøen befanden sich der beliebte Streetfood-Markt »Reffen«, einige Restaurants, Museen, Flohmärkte und kleinere Start-up-Unternehmen. Hier auf der Rückseite der Werfthalle lagen das größte Klärwerk Dänemarks, ein Jachthafen und diese Brachfläche, auf der alljährlich das Heavy-Metal-Festival Copenhell stattfand. Über ihr schwebte ein riesenhaftes Wolfsantlitz, ebenfalls ein Wahrzeichen, das die rückwärtige Wand der Halle zierte.
Mit dem Einsetzen der Dämmerung hatte die Kriminaltechnik neben Zelten auch mobile Flutlichter aufgestellt. Diese warfen nun ein Muster aus grellem Licht und scharfen Schatten auf den Schotterplatz. Der Chef der KTU Wang Ze untersuchte gerade den Fundort. Kirsten hatte ihn darum gebeten, persönlich zu kommen. Ebenso war der Leiter der Rechtsmedizin, Dr. Flemming Bostrup, dem dringenden Ruf gefolgt und tat bereits sein Werk an der Leiche.
Vorsichtig atmete Kirsten durch den Mund ein und prüfte, ob die Übelkeit ein wenig nachgelassen hatte. Der Speichelfluss hatte sich normalisiert, und das flaue Gefühl in ihrem Magen war nur noch ein leichtes Rumoren. Sie hob den Kopf und straffte die Schultern. Auf keinen Fall würde sie sich die Blöße geben und sich vor den Kollegen übergeben. No way!
Als sie sich umdrehte, nahm sie in der Ferne bei den Absperrbändern eine Bewegung wahr. Eine schlanke, breitschultrige Gestalt in schwarzer Jacke und Jeans wurde von einem uniformierten Kollegen durchgelassen und eilte mit großen Schritten auf sie zu. Es war Mr. Landei, Jesper Jørn Bæk. Als er bei ihr eintraf, lächelte er ihr verlegen zu und wich wie üblich einem Blickkontakt mit ihr aus. Mittlerweile wusste sie dieses für ihn typische Verhalten einzuordnen. Vor wenigen Monaten noch hatte sie sich dadurch extrem provoziert gefühlt. Sie hatte angenommen, dass Bæk ein grundlegendes Problem mit Frauen in Führungspositionen hätte. Doch inzwischen wusste sie, dass er einfach nur verklemmt war.
»Hej, Bæk. Alles klar?«, begrüßte sie ihn.
»Ja natürlich.« Nervös fuhr er sich durch seine kurzen dunklen Haare, die an den Schläfen grau wurden. Bæk war ein paar Jahre älter als sie.
»Flemme wartet schon darauf, uns seine ersten Erkenntnisse zu präsentieren. Ich hoffe, du hast einen stabilen Magen mitgebracht.«
Bæk brummte eine unverständliche Antwort. Als er das Wolfsantlitz auf der Werfthalle entdeckte, zuckte er kurz zusammen. »Wow!«
»Ziemlich einschüchternd, nicht wahr? Aus deiner Reaktion schließe ich, dass du zum ersten Mal auf diesem Platz bist?«
»Stimmt, ich war bisher nur vorne beim Streetfood-Markt. Ob die Leiche extra vor dem Wandbild abgelegt wurde, sozusagen als Botschaft an uns?« Er betrachtete den Wolf, dessen Augen kalt auf sie hinabstarrten.
Kirsten hob die Schultern. »Wir werden es herausfinden.«
»Wer hat die Leiche gemeldet?«
»Eine Mutter, die mit ihren Kindern in den Kletterpark wollte, der sich in der Halle befindet. Sie ist auf einen Möwenschwarm aufmerksam geworden, der sich auf der Brachfläche gesammelt hatte und an etwas pickte. Sie hat den Schock ihres Lebens bekommen, als sie aus dem Auto gestiegen ist und nachgesehen hat. Zum Glück ist sie so geistesgegenwärtig gewesen und hat den Wagen mit den Kindern schnell weggefahren, bevor diese etwas bemerkt haben. Vor dem Eingang zum Kletterpark dort drüben ist sie zusammengebrochen. Ein Mitarbeiter hat sie völlig aufgelöst aufgelesen und den Notruf verständigt. Das war um 17.45 Uhr. Die Frau ist ins Rigshospital gebracht worden und bisher nicht ansprechbar. Die Kinder sind beim Vater.«
»Okay.«
Kirsten räusperte sich. »Bist du bereit?« Sie stellte diese Frage eher sich selbst als Jesper. Sie hatte wenig Lust, den geschundenen Leichnam ein weiteres Mal in Augenschein zu nehmen, geschweige denn das Blut zu riechen. Aber es musste sein.
Sie holte tief Luft und trat gemeinsam mit Bæk zu Flemming Bostrup in den Zeltpavillon, wo zum Schutz etwaiger Spuren schmale Plankenwege ausgelegt worden waren. Auf dem Schotterplatz im Hintergrund schoss Wang Ze einige Fotos mit Blitzlicht. Die stroboskopartigen Lichtexplosionen erinnerten Kirsten an die Lichteffekte in einer Disco. Eine Lampe in dem Pavillon ließ das Blut rund um die Leiche grellrot glänzen. Ein grausamer Anblick.
Bæk blieb stehen und sah lange hin. »Heilige Scheiße!«, sagte er schließlich.
»Ich grüße dich ebenfalls herzlich, Jesper«, entgegnete der Rechtsmediziner salopp. Flemme Bostrup kniete in seinem hellblauen Schutzanzug auf dem Schotterboden und hielt ein elektronisches Thermometer in der Hand. Der Tote lag, wie er vorgefunden worden war, auf dem Rücken, die Arme zu beiden Seiten ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. Sein T-Shirt war hochgerutscht und entblößte einen eingefallenen bleichen Bauch. Der kahl geschorene und deformierte Kopf des Mannes war zur Seite gekippt und voller Blut, der Boden um ihn herum war eine einzige große Lache. Der Körper des Toten schien unversehrt zu sein, nirgendwo trug er offenkundige Verletzungen. Zumindest keine, die vom Täter stammten. Dafür hatten die Möwen einen unappetitlichen Schaden angerichtet. Sie hatten dem Opfer die Augen ausgepickt und dabei jede Menge Spuren zerstört. Kirsten schielte hinüber zu Bæk, der keine Miene verzog.
Flemme Bostrup legte das Thermometer neben sich und zeigte mit dem Finger auf das gähnende Loch, das die Mundhöhle des Toten darstellte. »Die Kiefer des Mannes wurden auseinandergerissen, dabei wurde seine untere Gesichtshälfte deformiert. Bei dem Vorgang sind die Mundwinkel eingerissen und einige der Schneidezähne abgebrochen. Seht ihr die weißen Fragmente?« Er deutete auf helle Splitter im roten Zahnfleisch. »Ich weiß noch nicht, wie der Täter das vollbracht hat. Ob er bloß die Hände oder ein Werkzeug benutzt hat. Das wird die Untersuchung des Toten zeigen.«
»Ist die Verletzung die Todesursache? Oder der hohe Blutverlust?«, fragte Kirsten mit Blick auf die rote Lache rund um die Leiche.
»Ich denke, der Blutverlust und der Schock. Aber das ist eine vorläufige Annahme.«
»Todeszeitpunkt?«
»Auf jeden Fall vor mehr als 14 und weniger als 48 Stunden. Die Totenstarre ist komplett ausgeprägt. Die Totenflecken lassen sich allerdings noch wegdrücken. Aufgrund der niedrigen Körpertemperatur des Opfers vermute ich, dass die Tat letzte Nacht geschehen ist. Das werden wir natürlich genauer prüfen.«
»Hat sich das Opfer gewehrt?«
Flemme verneinte. »Auf den ersten Blick kann ich keine Abwehrspuren erkennen. Die Blutspritzer auf seinem T-Shirt und auf dem Schotter sind zwar eingetrocknet und durch Möwen und Ratten kontaminiert worden, sie deuten jedoch darauf hin, dass der Mann zumindest versucht hat, das Blut auszuspucken.«
»Dann fand das Ausrenken der Kiefer statt, als er noch lebte?«, fragte Kirsten entsetzt.
»Ja, das ist sicher«, bestätigte Bostrup.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was für ein grauenvoller Tod!
»Die Obduktion wird zeigen, welche der Verletzungen prä- und welche postmortal entstanden sind«, fügte Bostrup hinzu.
»Okay. Kann ich aufgrund der Blutspritzer davon ausgehen, dass wir hier am Tatort stehen?«
»Ich denke, das ist ziemlich sicher. Wang wird euch das zuverlässiger beantworten können.« Bostrup nickte in Richtung des fotografierenden KTU-Chefs.
Kirsten blickte durch die offene Pavillonwand zur Werfthalle und anschließend wieder auf den Toten. Wie er so dalag, den Kopf mit den leeren Augenhöhlen in Richtung des Wolfgesichtes auf der Hallenwand ausgerichtet und die Arme von sich gestreckt, schien es, als würde er den Tod willkommen heißen.
»Die Leiche wurde mit Absicht so arrangiert«, sprach Bæk ihre Gedanken aus.
»Du hast recht, dieser Ort wurde nicht zufällig ausgewählt. Es wirkt alles gewollt. Wir müssen herausfinden, ob das Opfer einen Bezug zu dem Platz hat. Vielleicht lässt sich daraus das Motiv ableiten.«
»Auf mich erweckt das den Anschein einer Hinrichtung.« Bæk sah sie direkt an.
Kirsten zögerte. Sie wollte nicht sofort zustimmen, weil es noch andere Möglichkeiten gab, doch insgeheim hatte sie etwas Ähnliches gedacht. Eine Hinrichtung an einem bewusst ausgesuchten Ort. Nur warum? Und durch wen und zu welchem Zweck?
»Kennen wir die Identität des Toten?«, fragte sie Bostrup.
»Na sicher.« Der Rechtsmediziner stemmte sich auf die Füße. »Wie die Göttin der Ermittler es verfügt hat,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.