Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Marit Rauch Iversen drückte auf den roten Hörer und ließ das Handy sinken. Sie hatte eine Mail von Professor Jeff Henrey bekommen und ihn sofort angerufen.
Professor Henrey lehrte Psychologie an der University of Greenwich in England und betreute eine Forschungsgruppe mit besonderen Ausnahmetalenten: Menschen, die andere anhand ihrer Gesichter blitzschnell und treffsicher identifizieren konnten, obwohl sie diese zuvor nur einmal gesehen hatten. Laut einer Studie besaß lediglich ein Prozent der Bevölkerung diese besondere Gabe, und Marit zählte dazu. Sie war eine sogenannte Super-Recognizerin.
Es war ihr schon immer leichtgefallen, sich die verschiedensten Gesichter zu merken, und sie erkannte Leute sogar an ihrem Gang. Aber wirklich ans Tageslicht gekommen waren ihre überragenden Fähigkeiten erst bei einem Lehrgang beim FBI, damals, als sie noch bei der dänischen Polizei gearbeitet hatte. Einer der Lehrgangsleiter in Quantico war während einer Übung auf ihr Talent aufmerksam geworden und hatte sie nach Beendigung der Seminare an Professor Henrey weiterempfohlen, der gerade ein Forschungsprojekt auf diesem Gebiet ins Leben gerufen hatte. In dem von Henrey entwickelten Eingangstest erreichte Marit 98 Prozent Trefferquote. Der Professor hatte sie daraufhin nach Greenwich eingeladen und ihr gezeigt, woran er arbeitete. Er wollte erforschen, warum manche Menschen diese besondere Gabe besaßen und andere nicht. Denn eines hatte er bereits herausgefunden: Entweder war man ein Super-Recognizer oder man war keiner, erlernen konnte man diese Fähigkeiten nicht, lediglich das vorhandene Talent trainieren und ausbauen. Und das war Henreys zweites Anliegen. Er wollte weltweit Super-Recognizer aufspüren und sie in einem speziellen Trainingsprogramm ausbilden, denn nicht nur die Wissenschaft interessierte sich brennend für das Phänomen der Gesichtserkennung, sondern auch sämtliche Polizeibehörden. Und so wurde Marit Iversen eine der ersten Versuchspersonen im Recognizer-Programm von Professor Henrey, mit dem sie seither eng zusammenarbeitete. In regelmäßigen Abständen traf sie sich mit anderen Recognizern, tauschte sich aus und leitete selbst Trainingsseminare bei der Polizei oder beim PET, dem dänischen Geheimdienst. Außerdem wurde sie regelmäßig von nationalen wie internationalen Sicherheitsbehörden um Hilfe gebeten, um Terroristen oder andere Verbrecher auf Überwachungsvideos zu identifizieren.
Ein Job, der vielseitig war und sie erfüllte. Vor allem aber unterlag er nicht den strengen Regularien und Vorgehensweisen der Polizei. Denn Regeln, so hatte Marit im Laufe der Zeit festgestellt, waren nichts für sie.
Sie hob den Kopf und blickte aus dem runden Bullaugenfenster des Hausbootes, auf dem sie wohnte. Heute schien es nicht hell werden zu wollen. Ein weiterer unfreundlicher Wintertag hauchte seine Kälte gegen die Scheibe. Marit zog sich die Wolldecke fester um die Schultern. Trotz der Elektroheizung und des Feuers, das sie nach dem Aufstehen im Ofen entfacht hatte, war es bei solch harschen Minusgraden schwer, den stählernen Rumpf des Bootes ausreichend warm zu bekommen. Das war einer der Nachteile des Lebens auf einem Hausboot: von unten das kühle Wasser und von oben Schnee, Regen und Eis. Ständig musste sie aufpassen, dass die Rohre nicht einfroren. Hoffentlich käme ihr Mitbewohner und gleichzeitig der Besitzer des Hausbootes bald zurück, dann wäre sie wenigstens nicht so allein. Aber Kjell trieb sich irgendwo in Syrien herum, und Gott allein wusste, wann er hier aufkreuzen würde.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihre Aufgabe. Professor Henrey hatte sie eingeladen, einen neuen Onlinetest zu absolvieren, und ihr den Link dazu geschickt. Außerdem gäbe es im April in New York eine kleine Konferenz zu dem Thema »Super-Recognizer versus Künstliche Intelligenz«, und er wollte unbedingt, dass sie als sein Vorzeigeobjekt mit dabei wäre. Marit musste schmunzeln. Henrey war Mitte 50, hatte eine charmante Frau und drei wundervolle Töchter. Und sie, Marit, war sein viertes Baby. Wenn sie wieder einmal erfolgreich einen Täter identifiziert hatte, war er genauso stolz auf sie, als wenn eine seiner Töchter ein Examen bestanden hätte. Etwas, das in Marits Familie immer als selbstverständlich gegolten hatte. Studienabschluss mit Auszeichnung, hart arbeiten, Ehrgeiz zeigen. Für erfolgreich abgelegte Prüfungen hatte sie nie ein Lob bekommen. Es war obligatorisch, dass man im Hause Iversen Erfolg hatte.
Ja, dachte sie, vielleicht fliege ich nach New York. Es würde guttun, ein wenig Zeit mit Jeff zu verbringen.
Sie stand auf und ging, die Decke noch immer fest um die Schultern geschlungen, in die zum Wohnzimmer hin offene Küche, wo sie sich Teewasser aufsetzte. Wenig später nahm sie die dampfende Tasse mit zum Sofa. In dem Moment, in dem sie sich setzte, klingelte das Telefon.
»Kjell Martinsson«, stand auf dem Display. Ihr Mitbewohner! Hastig stellte sie die Tasse ab, sodass der heiße Inhalt überschwappte. Leise fluchend griff sie zum Smartphone und schüttelte ihre verbrühte Hand.
»Hallo? Kjell? Wo bist du? Geht es dir gut?«
»Hej, Marit . ich . am .gen . über . ja?«
»Was hast du gesagt? Die Verbindung ist ziemlich schlecht.« Marit hielt mit einem Finger das andere Ohr zu und versuchte, zwischen dem ganzen Knacken und Rauschen zu verstehen, was er sagte.
»Mei.te .end.st . da? Ich .en . bald.«
»Sorry, Kjell. Ich verstehe kein Wort. Schick mir eine Nachricht. Dann kann ich sehen, was du willst. Okay?« Die Verbindung brach ab, und wartend hielt sie das Telefon in der Hand, doch nichts geschah. Das war häufig so. Kjell war irgendwo in der Walachei unterwegs, und sie durfte entschlüsseln, was er wollte. Sorgen stiegen in Marit hoch. Hoffentlich war ihm nichts passiert und er brauchte ihre Hilfe. In seinem Job konnte jede Sekunde etwas geschehen, das . Sie wagte es nicht, diesen Gedanken weiter auszuführen. Wie immer, wenn sie auf das Thema Kjell und seinen Job kam, erfüllte sie diffuse Angst.
Sie sah auf das gerahmte Bild, das über dem Sideboard umgedreht an der Wand hing. Dahinter klemmte ein Briefumschlag. Der steckte dort schon seit bestimmt sechs Jahren. Seit sie und Kjell sich wieder über den Weg gelaufen waren und sie bei ihm eingezogen war. Auf rein platonischer Basis natürlich.
Auf dem Umschlag stand in Kjells schöner Handschrift: »Im Falle meines Todes zu öffnen von Marit Rauch Iversen«.
Der Brief wirkte bedrohlich auf Marit. Hing dort wie ein spitzer Eiszapfen über einer Toreinfahrt. Bereit, bei der kleinsten Erschütterung herunterzufallen.
Sie wandte den Blick ab und nippte am Tee. Kjell hatte sich gemeldet. Er lebte also. Kein Grund, an das Schlimmste zu denken. Dennoch, Kjell fehlte ihr. Sein leises Murmeln, wenn er in seiner Dunkelkammer Fotos entwickelte. Das Rascheln, sobald er im Wohnzimmer saß und die fertigen Abzüge durchging. Oder seine sachten und selbstverständlichen Handgriffe beim Essenzubereiten in der kleinen Küche.
Marit fröstelte. Wenn Kjell nicht da war, war es gleich viel kälter auf dem Hausboot.
Sie setzte ihre Brille auf. Dann zog sie den Laptop auf dem Couchtisch zu sich heran und öffnete Professor Henreys Test. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines Mannes, und Marit konzentrierte sich auf die frontale Schwarz-Weiß-Aufnahme. Eine Uhr am oberen Rand tickte runter. Nach 15 Sekunden sprang das Bild um. Nun waren acht verschiedene Gesichter zu sehen, alle im Profil, leicht verzerrt und grobkörnig, wie man es von Überwachungskameras kannte. Ohne zu zögern, klickte Marit eines davon an. Danach tauchte wieder ein einzelnes Gesicht auf, das sie sich einprägte, und kurz darauf acht neue Aufnahmen, aus denen sie wählen musste. Das machte sie 14-mal, danach war der Test zu Ende und lieferte das Ergebnis. Marit hatte 14 von 14 Punkten. »Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein Super-Recognizer«, stand darunter, zusammen mit der Mailadresse von Professor Henrey und der Bitte, sich bei ihm zu melden, sollte man Interesse an weiteren Tests und einer Teilnahme am Forschungsprogramm haben.
Marit schrieb Jeff Henrey eine kurze Nachricht, dass der Test gut ausgearbeitet war - nicht zu schwer und nicht zu leicht - und sich zum Ende hin steigerte. Anschließend klappte sie den Laptop zu und sah auf die Uhr. Fast 12 Uhr mittags - und ihr wurde jetzt schon langweilig. Entspanntes Nichtstun war einfach nicht ihre Sache. Sie brauchte endlich einen neuen, richtig interessanten Auftrag. Einerseits war es ja gut, dass die Polizeibehörden sie nicht anforderten, denn das bedeutete, dass im Moment kein Verrückter die Welt unsicher machte. Aber die Arbeit fehlte ihr, und leider kam auch über ihr zweites Beschäftigungsfeld nichts rein. Kein Auftrag für die Privatermittlerin Rauch Iversen. Dank ihrer Recognizer-Fähigkeiten war sie sehr gut darin, verschwundene Menschen ausfindig zu machen. Selbst welche, die bereits sehr lange vermisst wurden. Denn für einen Recognizer spielten Alterungsprozesse keine Rolle. Sie erkannte Menschen in allen Altersphasen wieder. Darin hatte sie sich einen Namen gemacht, und das nicht nur in Dänemark.
Erneut sah Marit nach der Zeit und seufzte.
Kurz nach zwölf.
Sie dachte an ihre beste Freundin Kirsten. Was die wohl gerade machte?
Marit griff zu ihrem Handy, um sie anzurufen, doch sie wurde weggedrückt. Natürlich wusste sie, was das bedeutete, und nahm es ihrer Freundin nicht übel. Wahrscheinlich steckte sie mitten in einem Fall.
Neid stieg in Marit auf. Wenn sie damals bei der Polizei geblieben wäre,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.