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Sinnattupiluk
Nuuk, 7. August 2014
Wie aus dem Nichts tauchte das rote Auto hinter ihm auf und streifte den Kotflügel des Golfs. Beide Autos gerieten ins Schleudern, der Golf überschlug sich, der alte Mercedes landete mit der Schnauze auf der Straße und stellte sich auf wie eine leere Dose. Das Heck des Golfs rammte ihn und änderte die Fallrichtung des Mercedes, der mit Karacho auf dem Dach landete. Die rechte Seite des Golfs gab nach und wurde eingedrückt, während die linke Seite der Karosserie fast unbeschädigt blieb. Der alte Mercedes rutschte weiter und schlug mit einer solchen Wucht gegen die Leitplanke, dass diese barst und den Wagen seitlich aufschlitzte. Der Golf schlitterte von der Straße eine Böschung hinunter und blieb auf der Seite liegen. Der Motor verstummte. Aus dem Mercedes waren die Schreie eines Mannes zu hören. Wortlose Schreie. Im Golf starrte ein blasser Mann in die Augen einer Frau. Sie war eingeklemmt zwischen dem eingedrückten Dach und dem völlig verzogenen Boden des Fahrzeugs. Der Mann saß fest zwischen dem Sitz, dem Gurt und einem zischenden Airbag. Der Airbag der Frau hing schlaff herab. Der Mann hatte blutende Kopfwunden. Er streckte die Hand nach der Frau aus, doch sie griff nicht danach. Ihr Körper war schlaff. Ihr Blick verlor sich. Unter ihnen ein schmaler Streifen vom Acker. Er streichelte ihre Wange. Sie sah ihn an, sah ihm tief in die Augen. Als kröche sie in ihn hinein, dahin, wo alles kaputtging und anfing, aus ihm herauszulaufen. Über sie drüber. Seine Hand wanderte weiter. Über ihren runden Bauch. Ein Mädchen. Das Kind in ihr. Die Augen der Frau erloschen. Alles erlosch.
Schreiend befreite Matthew sich von der Bettdecke. Sein völlig durchnässtes T-Shirt klebte ihm am Körper. Er riss es sich vom Leib und schleuderte es von sich. Im Zimmer stank es nach Schweiß. Mit wenigen Schritten war er an der Balkontür.
Draußen war die Luft schwer vom Abendnebel. Matthew konnte das Meer riechen, das sich da draußen im kühlen nordatlantischen Nebel verbarg und die Landzunge umgab, auf der Nuuk lag. Er zog eine warme, zerknautschte Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, zündete sich eine an und entledigte sich seiner Jeans und seiner Boxershorts. Alles stank und war klamm.
Er stieß den Rauch aus, der sofort sein Gesicht und den nackten Körper einhüllte. Eins wurde mit dem Nebel. Wie er selbst. »Du bist ein Schattenkind«, hatte seine Mutter früher immer zu ihm gesagt. »Du bist so blass, dass man dich im Nebel gar nicht sieht.«
Der Dunst schmiegte sich an ihn. Die Kälte kitzelte ihn. Seine Haare stellten sich auf. Die zarten, hellen Haare an Armen und Beinen. Die Feuchtigkeit packte sie sich. Er atmete tief aus.
Er schlief enorm schlecht. Immer wieder quälten ihn Albträume. Kaum schlief er ein, stürzten sie sich auf ihn, machten ihn fertig. Nacht für Nacht. Monat für Monat. Immer derselbe Albtraum. Dieselben Augen. Derselbe Blick. Der Tod.
Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann ließ er sie in eine Glasschale fallen, in der sich Hunderte alter Kippen und Regenwasser zu einem unappetitlichen Brei vermengt hatten.
Irgendwo hinter ihm brummte sein Telefon. Er hob die Jeans hoch und fischte es heraus. Es war der Chefredakteur.
»Hallo, Matt, ich bin's! Bist du bereit für die Debatte?«
Matthew sah an seinem nackten Körper herunter. »Ja.«
»Der erste Teil mit Aleqa Hammond und Søren Espersen hat schon angefangen. Musst du unbedingt gucken. Jørgen Emil Lyberth von der IA ist heute auch dabei.«
Matthew ließ sich rückwärts aufs Sofa fallen, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.
»Du musst rüber in den Sender«, brummte der Redakteur.
»Ja, ja .«
»Ich will, dass nach der Sendung eine kurze Zusammenfassung auf unsere Website gestellt wird. Misu ist schon bereit, sie wird übersetzen, dürfte also ein Klacks sein. Alles klar?«
»Ja, sage ich doch. Ich hab den Fernseher schon an.«
»Aber erst seit gerade eben.« Der Redakteur holte tief Luft. »Es geht um die misslungenen Versöhnungsverhandlungen und um die zehn Millionen.«
»Ich gucke schon«, gab Matthew knapp zurück. »Aleqa sagt, was die Menschen brauchen, ist nicht Spaltung, sondern Zusammenhalt und Versöhnung, nach außen wie auch nach innen. Lyberth wendet ein, dass man die zehn Millionen besser in Kunst und Kultur investiert hätte statt in eine teure Kommission, an der sich Dänemark gar nicht beteiligen will.«
»Ganz genau. Gut, dass du zusiehst. Denk dran, sofort im Anschluss was online zu stellen. Am besten, du schreibst schon was, während die Debatte noch läuft.«
»Gute Idee. Ich lege jetzt auf, damit ich mir Notizen machen kann.«
Die Stimme der grönländischen Premierministerin Aleqa Hammond drang aus dem Fernseher. »Das Problem sind nicht die zehn Millionen, sondern dass Dänemark es nicht für nötig befand, Teil der Kommission zu sein.«
»Woran es in Grönland mangelt«, fiel Lyberth ihr ins Wort, »ist nicht Versöhnung, sondern Selbsterkenntnis.«
Da meldete sich eine dritte Stimme zu Wort. »Soll diese Kommission nicht im Grunde nur verschleiern, dass man Dänemark finanziell weiter kräftig melken möchte, während man gleichzeitig eine größere Unabhängigkeit fordert?«
»Ganz im Gegenteil«, antwortete Aleqa spitz. »Es geht der Kommission einzig und allein um die Aussöhnung zwischen Grönländern und Dänen, aber die wird natürlich nur schwer zu erreichen sein, wenn sich außer einem aufbrausenden Rechtspopulisten kein Politiker hierherbequemt.«
»Immerhin besser als gar keiner«, beeilte Espersen sich zu sagen.
»Das ist doch wirklich ein schwaches Bild von Helle Thorning und dem Rest der dänischen Regierung, dass keiner an einem Dialog zur Versöhnung interessiert ist«, schimpfte Aleqa weiter.
»Versöhnung?«, fragte Espersen. »Wenn ich das schon höre! Wenn es nach mir ginge, würde sich Dänemark in sämtliche grönländische Angelegenheiten einmischen. Ist doch vollkommen grotesk, dass wir Jahr für Jahr Abermillionen von Kronen hierherschicken und keinerlei Einfluss darauf haben, was mit dem Geld passiert. Die höchste Selbstmordrate der Welt! Jedes dritte Mädchen wird sexuell missbraucht! Das würden wir niemals hinnehmen, wenn es sich um Bornholm oder Lolland handeln würde.«
»Typisch Dänische Volkspartei«, zischte Aleqa. »Total undifferenziert und rassistisch.«
»Was ist denn bitte rassistisch daran, etwas gegen die Vergewaltigung von Kindern zu haben?«, echauffierte sich Espersen.
Matthew drückte auf den Lautstärkeknopf der Fernbedienung, und die Stimmen wurden zunehmend leiser. Er musste Aleqa und Espersen nicht länger zuhören, um zu wissen, was sie sagten. Es war ohnehin immer das Gleiche.
Er zog seinen Laptop zu sich. In der ersten Fernsehdebatte zwischen Aleqa Hammond, Siumut, und Søren Espersen, Dänische Volkspartei, sollte es eigentlich um die Zukunft der glücklosen Versöhnungskommission gehen. Die Fronten zwischen der grönländischen Regierungschefin und dem zweiten Vorsitzenden sowie dem Grönlandsprecher der Dänischen Volkspartei waren jedoch so verhärtet, dass die Debatte schon bald einen völlig anderen Kurs einschlug.
Keine zwanzig Minuten später war der Text fertig, und kaum gab Aleqa Espersen mit angewiderter Miene zum Abschluss der Debatte die Hand, waren die Zeilen auch schon auf dem Weg zur Übersetzerin. In Kürze würde der Artikel auf Dänisch und Grönländisch auf der Website von Sermitsiaq erscheinen.
Als Matthew vor knapp fünf Jahren sein Journalistikstudium abschloss, hatte er sich ganz bestimmt nicht vorgestellt, eines Tages in Nuuk zu sitzen und über die dänisch-grönländische Versöhnung zu schreiben. Er hatte von Größerem geträumt, hatte Sensationsnachrichten hinterherjagen wollen. Aber der Unfall hatte alles verändert. Vor allem die Träume. Vorher hatte alles zusammengepasst. Seine Liebe zu Tine. Der Traum von einer Familie. Emily. Als ein großes Ganzes.
Matthew schloss die Augen. Vielleicht war es das, was er in Nuuk zwischen den Geistern seines Vaters, seiner Frau und seiner ungeborenen Tochter suchte. Vielleicht wollte er das große Ganze endgültig aufbrechen, um einen Weg durch die Einzelteile hindurch nach draußen zu finden. Hinaus aus dem Dunkel, in dem er gefangen war. Hin zu etwas Neuem. Zu etwas Lebendigem. Zu etwas Wildem, Verrücktem, ohne großes Ganzes.
Er sank auf dem Sofa zusammen. Die Schreie aus dem Albtraum hallten in seinem Kopf wider. Er konnte den festen, runden Bauch unter seinen Fingern spüren. Er rieb sich die Augen. Es war schon spät, aber viel würde er diese Nacht nicht mehr schlafen. Es würde kaum dunkel werden. Der Nebel würde sich lichten. Er griff in eines der Seitenfächer der Laptoptasche und zog ein paar alte Fotos heraus.
Eins nach dem anderen betrachtete er sie und breitete sie neben sich auf dem Sofa aus. Die Bilder waren alle ziemlich abgegriffen, so oft hatte er sie bereits in der Hand gehabt. Manche begleiteten ihn schon, seit er ein kleiner Junge war. Die von seinem Vater waren die ältesten. Aufgenommen an der Thule Air Base, in Uniform. Nur auf einem Foto war er in Zivil, zusammen mit Matthews Mutter in einem militärisch aussehenden Restaurant. Sein Vater lächelte. Seine Mutter auch. Mit ihrem dicken Babybauch. Eins der Bilder war kein Foto, sondern eine Postkarte. Aus Nuuk. Vom August 1990. Ich kann leider doch noch nicht nach Dänemark kommen, stand da. Tut mir leid. Ich liebe euch.
Matthew strich mit dem Finger über die...
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