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Tarrat toqqortat
Nuuk, Westgrönland
17. Oktober 2014
Am Mittwochnachmittag wurde der frühere Regionalregierungs- und Selbstverwaltungsvorsitzende Jørgen Emil Lyberth tot in einer Wohnung im zweiten Stock von Block 18 aufgefunden. Die Polizei in Nuuk hat noch nicht viele Informationen preisgegeben, jedoch ist unserer Zeitung bekannt, dass es sich um einen äußerst brutalen Mord handelt. Das Opfer wurde an den Fußboden genagelt und anschließend aufgeschlitzt. Noch liegen der Polizei keine konkreten Beweise vor, jedoch ist nicht auszuschließen, dass der Mord etwas mit Lyberths polarisierenden Aussagen zur Unabhängigkeit Grönlands zu tun hat. Die Polizei sucht jetzt nach Ressortchef Erik Abelsen und einer vor kurzem aus der Haft entlassenen jungen Frau aus Tasiilaq, die dem Leiter der Ermittlungen Michael Ottesen zufolge vermutlich zur Aufklärung des Falls beitragen können.
Matthew schob den Artikel beiseite, den er sich vor fast zwei Monaten von der Website der Zeitung Sermitsiaq ausgedruckt hatte. Das Papier war bereits ganz zerknittert, so lange trug er es schon in seiner Tasche mit sich herum. Sein Kollege Leiff hatte den Artikel geschrieben, kurz nachdem man Lyberths aufgeschlitzte Leiche in einer der heruntergekommenen Mietskasernen gefunden hatte - und zwar in genau der Wohnung, in die Tupaarnaq erst wenige Wochen vorher eingezogen war. Matthew hatte in den Tagen nach dem Mord den Ball flach gehalten, bis Abelsen aufgegriffen und festgesetzt worden war. Außerdem hatte Matthew selbst ein Menschenleben auf dem Gewissen - in Notwehr hatte er Ulrik getötet.
Als er Ulrik das erste Mal begegnete, war dieser ein junger, gutgelaunter und ehrgeiziger Polizist gewesen, der in die politischen Fußstapfen seines Ziehvaters Lyberth treten wollte - doch dann war alles um ihn herum zusammengebrochen und hatte ein blutiges Ende genommen, als herauskam, dass Ulrik in Wirklichkeit das Ergebnis einer Vergewaltigung und Abelsen sein leiblicher Vater war. Dass dann auch noch Ulriks Schwester Tupaarnaq nach zwölf Jahren Haft für den Mord an ihrer Familie entlassen worden und wieder in Nuuk aufgetaucht war, hatte Ulrik überfordert. Tupaarnaq gab ihrem Vater und Abelsen die Schuld am Mord an ihrer Mutter und ihren kleinen Schwestern, doch Ulrik gab Tupaarnaq die Schuld an allem. Sie war es gewesen, die man neben der aufgeschlitzten Leiche ihres Vaters gefunden hatte, sie war es gewesen, die über und über mit dem Blut aller vier Toten beschmiert war, sie war es gewesen, die für diese vier Morde verurteilt wurde. Ulrik hatte keine Ahnung gehabt, dass Abelsen sein leiblicher Vater war, bis an jenem Tag alles auf einmal herauskam, er rotsah und sowohl Tupaarnaq als auch Abelsen töten wollte. Ulrik und Tupaarnaq waren zusammen in Tasiilaq aufgewachsen, aber nach den Morden an Vater, Mutter und kleinen Geschwistern hatten nicht nur Tupaarnaqs viele Jahre im Gefängnis, sondern auch Ulriks abgrundtiefer Hass auf seine große Schwester eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen geschaffen -, bis diese plötzlich in Nuuk aufkreuzte und mitten in einem neuen Mordfall landete.
Die Sonne tauchte das Wohnzimmer in glänzendes Gold. Matthew hatte auf der Suche nach einem USB-Stick seine Tasche auf dem Sofa ausgekippt. Alles Mögliche flog darauf herum - Papiere, Bilder. Er rieb sich die Augen. Was für ein Chaos. Seine Augen brannten von der trockenen arktischen Luft. Und von der ihn plagenden Schlaflosigkeit. Vor vier Monaten war er von Dänemark nach Nuuk gezogen, weil er sich nach Ruhe und Ordnung sehnte, doch dann hatte er im Spätsommer Tupaarnaq kennengelernt, und als die beiden sich gemeinsam mit einem alten Fall von Rachemord und Kindesmissbrauch beschäftigten, war ihm alles entglitten. Auf einmal stand er im Obergeschoss von Jakobs Haus und sah, wie Ulrik Tupaarnaq ein Messer in die Seite rammte, während Abelsen in der Stube direkt unter ihnen an einen Sessel gefesselt war.
Die ersten Tage nach dem Überfall und Ulriks Tod saß Matthew vor allem im Krankenhaus an Tupaarnaqs Bett, und während er darauf wartete, dass sie wieder zu Bewusstsein kam, musste er immer wieder an die Geschehnisse in Jakobs Haus denken. Tupaarnaq und wie sie aus der Wunde blutete, die Ulrik ihr mit dem Messer zugefügt hatte. Das Gefühl in den Händen, als er mit Jakobs alter Harpune Ulriks Rücken durchstieß. Das Geräusch, als die gebogene Klinge des Ulu Ulriks Kehle aufschlitzte. Dick war das Blut aus der Wunde hervorgequollen und ihm über die Brust gelaufen. Leblos war der Körper vornübergefallen und mit der aus dem Rücken ragenden Harpune liegen geblieben.
Matthew wurde übel. Er würgte. Schluckte ein paarmal, zwang die Übelkeit und den Speichel herunter. Sah hinüber zu den großen Wohnzimmerfenstern und der Balkontür. Klar legte sich die Herbstluft auf Nuuk. Es herrschte nur zwei Grad plus, und vor wenigen Tagen hatte ein heftiger Sturm mit peitschendem, eiskaltem Regen die letzten Reste des Spätsommers vertrieben. Die Berge sahen aus, als würden sie weinen, überall waren Wasserfälle entstanden, die sich nun die Fjällflanken herunterstürzten.
Matthew zündete sich eine Zigarette an. Betrachtete seine Hände. Der Rauch tat gut. Matthew schloss die Augen und inhalierte. Ließ die Kippe zwischen den Lippen hängen.
Ulriks Tod hatte viele Fragen aufgeworfen, doch die Polizei und insbesondere der Dienststellenleiter Ottesen hatten ihn gut abgeschirmt. Schon bald hieß es, nicht die Harpune im Rücken habe zum Tod geführt, sondern der Schnitt durch die Kehle, und deshalb machte man Matthew nicht den Prozess, er musste kein Urteil fürchten. Er hatte Ulrik in Notwehr getötet, auch wenn er sich selbst anders erinnerte. Ulrik hatte auf der ans Bett gefesselten, nackten Tupaarnaq gesessen. Als er ihr das Messer in die Seite rammte, stieß Matthew ihm die Harpune in den Rücken. Mit einer solchen Wucht, dass die Spitze zur Brust wieder herauskam.
Matthew hatte Tupaarnaq zugedeckt und versucht, ihre Wunde zuzudrücken. Das Blut war zwischen den tätowierten Blättern und seinen Fingern hervorgequollen und in die Matratze gesickert.
Dann waren sie einige Tage im Krankenhaus gewesen. Wurden immer wieder verhört. Tupaarnaq kam wieder zu sich und verschwand aus Nuuk, bevor die Ärzte sie entlassen hatten. Sie hatte seine Hand gehalten, und dann war sie plötzlich weg gewesen. Ottesen brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass sie nach Tasiilaq geflogen war - mehr wusste Matthew nicht. Sie antwortete nicht auf seine SMS und ging nicht ans Telefon. Sie war längst noch nicht in der gesundheitlichen Verfassung gewesen, eine solche Reise anzutreten, und doch war sie weg - und schwieg. Alles Mögliche hatte er ihr geschrieben in der Hoffnung, sie würde irgendwann endlich reagieren. Vergeblich.
Matthew warf die Kippe in eine Tasse auf dem Tisch. Es zischte. Er betrachtete die Bilder auf dem Sofa. Tine. Tines Bauch. Das Foto war wenige Wochen vor dem Verkehrsunfall entstanden, bei dem Tine und die ungeborene Emily ums Leben kamen. Matthews Hand glitt in die rechte Hosentasche und befühlte den Ring. Er konnte ihn nicht ganz ablegen, konnte sich nicht endgültig trennen von dem Gefühl der Geborgenheit, das der Ring ihm gab. Er hatte versucht, ihn mal ein, zwei Tage in der Schublade liegen zu lassen, aber das hatte sich falsch angefühlt. Einsam und nackt. Tine war mit ihrem Ring beerdigt worden. Es war alles so schnell gegangen. Der Unfall. Ihr Tod. Tines Blick, als sie starb. Seine Finger auf ihrem runden Bauch. Das Leben, das endete, bevor es begann.
Die meisten Fotos waren schon ziemlich abgegriffen. Manche waren genauso alt wie er selbst. Die von seinem Vater waren die ältesten. Aufgenommen an der Thule Air Base. Bevor Matthew und seine Mutter nach Dänemark ausreisten. Sein Vater war ihnen nie gefolgt. Matthew drehte die Karte um, die er ihnen im August 1990 aus Nuuk geschickt hatte. Ich kann doch noch nicht nach Dänemark kommen. Tut mir leid. Ich liebe Euch. Zusammen mit den Bildern von der Air Base, auf denen sein Vater und seine Mutter in der Regel zusammen zu sehen waren, war diese Karte alles, was ihm von seinem Vater geblieben war. Das letzte Lebenszeichen.
Zwischen den Sachen auf dem Sofa lag auch das schwarze Notizbuch, in dem er angefangen hatte, seine Gedanken aufzuschreiben. Für Emily. Es war ihm ein Bedürfnis, ihr vom Leben und der Welt zu erzählen, deren Licht sie nie erblicken würde.
Die Luft schmeckte nach Rauch. Die Sonne stand hoch über den niedrigen Gebäuden, die sich zum Herrnhuter-Friedhof hin erstreckten. Er ging seine vielen unbeantworteten SMS an Tupaarnaq durch. Immer wieder. Zündete sich noch eine Zigarette an und stand auf. Um ihn herum tanzte Staub. In der Wohnung roch es schal.
Er öffnete die Balkontür, die friedlich in ihren Angeln hing. Bei Sturm hatte er manchmal Mühe, die Tür festzuhalten.
Er atmete tief durch. Vermischte die klare Luft der Arktis mit dem Rauch der Zigarette. Tupaarnaq hatte recht. Wieso hörte er eigentlich nicht mit dem Rauchen auf? Kurz nach dem Unfall war er zu nichts anderem imstande gewesen, als Zigaretten anzuzünden und Löcher in die Luft zu starren.
Seine Gedanken fuhren Karussell. Es war keine zwei Monate her, seit er selbst unmittelbar mit Lyberths und Ulriks Tod zu tun gehabt hatte, und jetzt sollte er einen Artikel über drei Selbstmorde schreiben, die sich vor wenigen Tagen in Ittoqqortoormiit in...
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