Schweitzer Fachinformationen
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Beweisen läßt es sich nicht, und trotzdem glaube ich daran: An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind. Wer eine Seele hat, die leicht genug ist, spürt einen sanften Widerstand in der Luft rund um den Amsterdamer Schreierstoren, der mit dem Ausmaß an Kummer der Abschiednehmenden zusammenhängt, die im 17. Jahrhundert für Jahre nach Niederländisch-Indien auf brachen und möglicherweise nie zurückkehren würden – eine Art von Kummer, die wir nicht mehr kennen. Unsere Reisen dauern nicht mehr Jahre, wir wissen genau, wohin wir fahren, und unsere Chance auf Rückkehr ist um so vieles größer. Am Hauptportal der Kathedrale von Santiago de Compostela steht eine Marmorsäule mit tiefen Fingereindrücken, eine emotionale, expressionistische Klaue, die Millionen Hände, unter anderem auch meine, geschaffen haben. Doch es ist bereits eine leichte Verdrehung, wenn ich sage »unter anderem meine«, denn ich habe meine Hand nie mit solch großer Gefühlsregung am Ende eines Fußmarsches, der über ein Jahr dauerte, an diese Säule gelegt. Ich war kein Mensch des Mittelalters, ich glaubte nicht, und ich war mit dem Auto gekommen. Wenn man sich meine Hand wegdenkt, wenn ich nie dort gewesen bin, ist diese Klaue trotzdem noch immer da, von den Fingern all jener Toten aus dem harten Marmor ausgeschliffen. Und doch war ich, indem ich meine Hand in dieses Handnegativ legte, auf geheimnisvolle Weise an einem kollektiven Kunstwerk beteiligt. Ein Gedanke wird sichtbar in Materie: Das ist immer wundersam. Die Kraft einer Idee trieb Fürsten, Bauern und Mönche dazu, ihre Hand genau an der Stelle an die Säule zu legen, jede einzelne Hand nahm dabei eine verschwindend kleine Menge des harten Marmors mit, wodurch, eben weil dieser Marmor nicht mehr da war, eine Hand sichtbar wurde.
Dies alles geht mir durch den Kopf, während ich langsam, an diesem sehr frühen Julimorgen, mit dem Schiff auf Barcelona zufahre. Dort werde ich ein Auto mieten und quer durch ganz Spanien oder auch mit einem Schlenker zum dritten Mal in meinem Leben nach Santiago de Compostela fahren. Keine Pilgerfahrt zu dem Apostel wie bei den anderen, eher eine Reise in ein schemenhaft gewordenes Ich, die Fortsetzung einer früheren Reise. Auf der Suche wonach? Eines der wenigen konstanten Dinge in meinem Leben ist meine Liebe, einen schwächeren Ausdruck dafür gibt es nicht, zu Spanien. Frauen und Freunde sind aus meinem Leben verschwunden, doch ein Land läuft einem nicht so leicht weg. Als ich 1953 als Zwanzigjähriger zum ersten Mal nach Italien kam, glaubte ich, alles gefunden zu haben, wonach ich, unbewußt, gesucht hatte. Der mediterrane Glanz traf mich wie ein Blitz, das ganze Leben war ein geniales, öffentliches Theater zwischen den achtlos hingestreuten Dekorationsstücken einer vieltausendjährigen großen Kultur. Farben, Speisen, Märkte, Kleidung, Gesten, Sprache, alles schien raffinierter, bunter, lebhafter als in dem flachen nördlichen Delta, aus dem ich komme, und zog mich in seinen Bann. Spanien war danach eine Enttäuschung. Unter derselben mediterranen Sonne schien die Sprache hart, die Landschaft dürr, das Leben derb. Es schien nicht zu fließen, war nicht angenehm, war auf eine widerspenstige Weise alt und unnahbar, mußte erobert werden. Heute habe ich eine ganz andere Einstellung dazu. Italien ist noch immer ein Traum, aber ich habe das Gefühl – es ist kaum möglich, über diese Dinge zu sprechen, ohne in eine fast mystische Sprache zu verfallen –, daß der Charakter Spaniens und die spanische Landschaft dem entsprechen, »was mich ausmacht«, bewußten und unbewußten Dingen in meinem Wesen, dem, der ich bin. Spanien ist brutal, anarchistisch, egozentrisch, grausam, Spanien ist bereit, sich für Unsinn in den Ruin zu stürzen, es ist chaotisch, es träumt, es ist irrational. Es hat die Welt erobert und wußte nichts damit anzufangen, es steckt in seiner mittelalterlichen arabischen, jüdischen und christlichen Vergangenheit fest und liegt mit seinen eigensinnigen Städten, eingebettet in diese endlosen, leeren Landschaften, da wie ein Kontinent, der an Europa hängt und Europa nicht ist. Wer nur die Pflichtrundfahrt gemacht hat, kennt Spanien nicht. Wer nicht versucht hat, sich in der labyrinthischen Vielschichtigkeit seiner Geschichte zu verlieren, weiß nicht, welches Land er bereist. Es ist eine Liebe fürs ganze Leben, das Staunen hört nie auf.
Die Kathedrale von Santiago de Compostela
Von der Reling des Schiffes aus sehe ich es über der Insel dunkel werden, auf der ich den Sommer verbracht habe. Die hereinbrechende Nacht legt sich über die Hügel, alles verdüstert sich, eine nach der anderen gehen die hohen Neonlampen an und bescheinen den Kai mit der toten weißen Glut, die zur mediterranen Nacht gehört wie der Mond. Ankunft und Abschied, schon jahrelang ziehe ich zwischen dem spanischen Festland und den Inseln hin und her. Die weißen Schiffe sind etwas größer geworden, doch das Ritual ist das gleiche geblieben. Der Kai voller weißer Matrosen, Abschiednehmender und Verlobter, das Deck voll abreisender Urlauber, Soldaten, Kinder, Großmütter. Die Gangway ist bereits an Bord gehievt, die Schiffssirene wird noch einmal einen langen Abschiedsschrei über den Hafen ertönen lassen, und die Stadt wird ihn als Echo zurückwerfen, den gleichen Schrei, nur schwächer. Zwischen Oben und Unten noch eine letzte Verbindung – Toilettenpapierrollen. Unten das Ende. Oben an der Reling die Rolle selbst, die langsam, während das Schiff sich vom Kai entfernt, abgerollt werden wird, bis auch die allerletzte Verbindung zu den Zurückbleibenden, die so lange es geht neben dem Schiff herlaufen, abreißt und die dünnen, durchsichtigen Papiergirlanden im schwarzen Wasser ertrinken.
Manche rufen noch etwas, Rufe wehen zurück, doch schon ist nicht mehr auszumachen, wer was ruft und was diese Botschaft bedeutet. Wir fahren aus dem langen, schmalen Hafen hinaus, vorbei am Leuchtturm, an der letzten Boje – und dann wird die Insel zum düsteren Schemen in dem Schemen, der die Nacht selber ist. Jetzt ist es unwiderruflich, wir gehören zum Schiff. Auf dem Achterdeck Gitarrenklänge und Händeklatschen, es wird gesungen, getrunken, die Deckpassagiere in ihren Holzliegestühlen bereiten sich auf eine lange Nacht vor, die Glocke zum Essen ertönt. Im altertümlichen Speisesaal eilen Kellner in weißen Fräcken unter dem ernsten Porträt des spanischen Königs hin und her. Im Gesellschaftsraum strahlt der Fernseher halb unsichtbare, schattenhafte Bilder von der wirklichen Welt aus, aber fast niemand schaut hin. Man schiebt den Schlaf noch hinaus, schlendert auf den Decks umher, trinkt, bis die Bars schließen. Dann verstummt auch der letzte rebellische Gesang, und nichts ist mehr zu hören außer den Wellen, die an die Schiffswand klatschen. Der einsame Passagier sucht seine Kabine auf und legt sich auf das kleine eiserne Bett. Nachts wacht er ein paarmal auf und schaut durch das Bullauge hinaus. Die weite Fläche des Wassers bewegt sich in einem langsamen, glänzenden Tanz, es wirkt geheimnisvoll und ein wenig gefährlich, so still und mächtig, wie sie da liegt mit nichts als dieser trägen, ziehenden Bewegung, unter der sich so viel verbirgt. Der weiße Chip, der Mond, taucht auf und taucht unter in den satinglänzenden Wellen, wollüstig und angsteinflößend zugleich. Der Passagier ist ein Stadtbewohner und weiß nicht, was er mit diesem großen, stillen Element anfangen soll, aus dem seine Welt jetzt auf einmal besteht. Er zieht den dürftigen kleinen Vorhang vor das runde Fenster und knipst eine Kinderlampe neben dem Bett an. Ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch. Eine Wasserkaraffe in einer Nickelhalterung an der eisernen Wand, darübergestülpt ein Glas. Ein Handtuch der Compañía Mediterránea, das er morgen ebenso wie das Glas mit der Flagge der Reederei mitnehmen wird. Er besitzt schon viele solcher Handtücher und Gläser, denn er hat bereits viele solcher Reisen gemacht.
Langsam überläßt er sich dem Wiegen des Schiffs, ein großer Muttertanz, und er weiß, wie es weitergehen wird. Im Laufe der Nacht wird er endlich einschlafen, dann wird das erste Licht durch den nutzlosen Vorhang fallen, er wird an Deck gehen zwischen den anderen Passagieren mit den unausgeschlafenen Gesichtern und die Stadt langsam näherrücken sehen – schöner, als sie ist, durch das erste Sonnenlicht, das dem Horror der Gastanks und des Smogs eine Wendung ins Helle, Goldene, Impressionistische geben wird, so daß es für einen Augenblick aussehen wird, als wiege sich da ein diesiges, goldenes Paradies und nicht der unbarmherzige Prellbock der industriellen Millionenstadt.
Ganz still gleitet das Schiff jetzt zwischen den steinernen Armen in den Hafen. Es ist klein geworden unter den hohen Kränen. Die schwelgende Bewegung des Wassers hat aufgehört, es gehört nicht mehr zum Meer, und auch an Bord ist die Gemeinsamkeit beendet, die Passagiere gehören nicht mehr zusammen. Jeder ist in Gedanken bei seinem eigenen Ziel, bereits in Erwartung des nächsten. In den Kabinen ziehen die Stewards die Betten ab und zählen die verschwundenen Handtücher. Auf dem Kai ist es schon warm.
Die Zeit schmelzen zu lassen kommt mir typisch spanisch vor, und nirgends ist die Zeit so schön geschmolzen wie auf der sich auflösenden, zu einem schneckenartigen Klumpen gewordenen Uhr von Dalí. Während ich auf mein Auto warte, lese ich im Mundo Diario den Brief des kranken Malers an das Volk, in dem er erklärt, wie krank er nicht...
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