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Arthur Daane, ein Niederländer in Berlin, streift mit der Filmkamera durch die verschneite Großstadt, auf der Suche nach Bildern für seinen Film. Aber dann lernt er die junge Elik kennen, eine Frau mit Geheimnissen, der er folgt - bis nach Madrid, bis zum Ende.
»Ein großer und ausgeruhter, ein europäischer und kosmopolitischer Roman.« Ulrich Greiner, Die Zeit
Erst einige Sekunden nachdem Arthur Daane an der Buchhandlung vorbeigegangen war, merkte er, daß sich ein Wort in seinen Gedanken festgehakt hatte und daß er dieses Wort inzwischen bereits in seine eigene Sprache übersetzt hatte, wodurch es sofort ungefährlicher klang als im Deutschen. Er überlegte, ob das durch die letzte Silbe kam. Nis1, Nische, ein merkwürdig kurzes Wort, nicht gemein und scharf wie manche anderen kurzen Wörter, sondern eher beruhigend. Etwas, in dem man sich verbergen konnte oder in dem man etwas Verborgenes fand. In anderen Sprachen gab es das nicht. Er versuchte, das Wort loszuwerden, indem er schneller ging, doch es gelang ihm nicht mehr, nicht in dieser Stadt, die davon durchtränkt war. Es hatte sich in ihm festgehakt. In letzter Zeit ging ihm das so mit Wörtern, insofern war Haken der richtige Ausdruck: Sie hakten sich in ihm fest. Und sie hatten einen Klang. Selbst wenn er sie nicht laut aussprach, hörte er sie, manchmal schien es sogar, als schallten sie. Sobald man sie aus der Reihe der Sätze löste, in die sie gehörten, bekamen sie, falls man dafür empfänglich war, etwas Angsterregendes, eine Fremdheit, über die man besser nicht zuviel nachdachte, da sonst die ganze Welt ins Wanken geriet. Zuviel freie Zeit, dachte er, aber genau so hatte er sich sein Leben ja eingerichtet. In einem alten Schulbuch hatte er einmal von »dem Javaner« gelesen, der sich, kaum hatte er einen Viertelgulden verdient, unter einer Palme niederließ. Offenbar konnte man in jenen längst verflogenen Tagen von einem Viertelgulden sehr lange leben, denn dieser Javaner machte sich, so jedenfalls ging die Geschichte, erst dann wieder an die Arbeit, wenn der Viertelgulden aufgebraucht war. Darüber empörte sich das Buch, denn so komme man schließlich nicht voran, doch Arthur Daane gab dem Javaner recht. Er machte Fernsehdokumentarfilme, die er konzeptionell erarbeitete und anschließend realisierte, verdingte sich, wenn das Thema ihn interessierte, als Kameramann, und drehte gelegentlich, wenn es sich so ergab oder er wirklich Geld brauchte, einen Werbespot für die Firma eines Freundes. Machte er das nicht zu oft, war es spannend, danach tat er wieder eine Zeitlang nichts. Er hatte eine Frau gehabt, und er hatte ein Kind gehabt, doch weil sie bei einem Flugzeugunglück umgekommen waren, besaß er jetzt nur noch Fotos, auf denen sie jedesmal, wenn er sie anschaute, sich wieder etwas weiter entfernt hatten. Zehn Jahre war es jetzt her, sie waren einfach eines Morgens nach Málaga aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Eine Aufnahme, die er selbst gemacht, aber nie gesehen hat. Die blonde Frau mit dem Kind, einem kleinen Jungen, auf dem Rücken. Schiphol, in der Schlange vor der Paßkontrolle. Eigentlich ist das Kind schon zu groß, um an ihrem Rücken zu hängen. Er ruft sie, sie dreht sich um. Gefrier, Gedächtnis. Da stehen sie, eine Sekunde lang um neunzig Grad zu ihm gedreht. Sie hat die Hand gehoben, das Kind winkt mit kurzen Gebärden. Jemand anders wird die Ankunft filmen, die mitsamt Bungalow, Swimmingpool, Strand in der klumpigen, schwarzen, erstarrten Masse verschwinden wird, in der ihr Leben verschwunden ist. Er geht an der Schlange vorbei und gibt ihr die kleine Handkamera. Das war das letzte, danach verschwinden sie. Dem Rätsel, das die Fotos aufgeben, hat er sich verschlossen, es ist zu groß, er kommt ihm nicht bei. In manchen Träumen geschieht es, daß man sehr laut schreien muß und es nicht kann, ein Geräusch, das man nicht macht und doch hört, ein Geräusch aus Glas. Er hat das Haus verkauft, die Kleider und das Spielzeug weggegeben, als sei alles verseucht. Seit dieser Zeit ist er ein Reisender ohne Gepäck – mit Laptop, Kamera, Handy, Weltempfänger, ein paar Büchern. Anrufbeantworter in seiner Wohnung in Amsterdam-Nord, ein Mann mit Maschinen, Fax im Büro eines Freundes. Locker und fest, unsichtbare Drähte verbinden ihn mit der Welt. Stimmen, Nachrichten. Freunde, meist vom Fach, die das gleiche Leben führen. Sie dürfen sein Appartement benutzen, er das ihrige. Andernfalls kleine billige Hotels oder Pensionen, ein Universum in Bewegung. New York, Madrid, Berlin, überall, denkt er jetzt, eine Nische. Er ist noch nicht fertig mit diesem Wort, nicht mit dem kleinen, und mit dem großen, an dem es hängt und zu dem es gehört und nicht gehört, schon gar nicht.
»Was willst du bloß in Deutschland?« fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat.
»Ich bin gern da, es ist ein ernsthaftes Volk.«
Die Antwort darauf lautete gewöhnlich »Kann schon sein« oder etwas Ähnliches. Eigenartig, niederländische Umgangsformen zu erklären. Wie soll ein Ausländer, auch wenn er Niederländisch gelernt hat, wissen können, daß diese halb bejahende Antwort nun gerade zynischen Zweifel ausdrückt?
In der Zeit, während der ihm diese Worte durch den Kopf gingen, war Arthur Daane an dem Spirituosengeschäft Knesebeck-/Ecke Mommsenstraße angelangt, dem Punkt, an dem er meist nicht wußte, ob er umkehren oder weitergehen sollte. Er blieb stehen, schaute auf die glänzenden Autos in dem Ausstellungsraum auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sah den Verkehr auf dem Kurfürstendamm und dann sein eigenes Abbild im Spiegel einer Champagnerreklame im Schaufenster des Spirituosengeschäfts. Das gräßlich Sklavische von Spiegeln. Sie würden einen stets reflektieren, sogar wenn man, wie jetzt, überhaupt keine Lust dazu hatte. Er hatte sich an diesem Tag schon einmal gesehen. Doch nun war er gewappnet, stadtgerecht gekleidet, das war etwas anderes. Er wußte einiges über sich selbst und fragte sich, was davon für andere sichtbar war.
»Alles und nichts«, hatte Erna gesagt. Was sollte er jetzt mit Erna an der Ecke Mommsenstraße?
»Ist das dein Ernst?«
»Aber hallo!« So etwas konnte nur Erna sagen. Es begann zu schneien. Er sah im Spiegel, wie sich die leichten Flocken an seinem Mantel festsetzten. Gut, dachte er, dann sehe ich weniger wie aus der Werbung aus.
»Red doch keinen Stuß.« Auch das würde Erna sagen. Dieses Thema hatten sie schon öfter durchgekaut.
»Wenn du meinst, du siehst wie aus der Werbung aus, dann mußt du eben andere Klamotten kaufen. Keinen Armani.«
»Das ist kein Armani.«
»Aber es sieht aus wie Armani.«
»Genau das mein ich ja. Ich weiß nicht mal, was für eine Marke das ist, war irgendwo runtergesetzt. Hat nichts gekostet.«
»Dir steht einfach alles.«
»Sag ich ja, ich seh aus wie aus der Werbung.«
»Du kannst dich selbst nicht leiden, das ist alles. Das ist das Alter. Kommt öfter vor bei Männern.«
»Nein, das ist es nicht. Ich sehe einfach nicht aus, wie ich denke, daß ich bin.«
»Du meinst, du überlegst dir alles mögliche, worüber du nie sprichst, und wir können das nicht sehen?«
»So ungefähr.«
»Dann mußt du dir die Haare anders schneiden lassen. Das ist keine Frisur, das ist ’ne Krankheit.«
»Also doch.«
Erna war seine älteste Freundin. Durch sie hatte er seine Frau kennengelernt, und sie war die einzige, mit der er noch über Roelfje sprach. Andere Männer hatten Freunde. Die hatte er auch, aber sein bester Freund war Erna.
»Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment betrachten soll.«
Manchmal rief er sie an, mitten in der Nacht, von irgendeinem gottverlassenen Ort am Ende der Welt. Sie war immer da. Die Männer kamen und gingen in ihrem Leben, zogen bei ihr ein, waren eifersüchtig auf ihn. »So ein Blender, dieser Daane. Ein paar läppische Dokumentarfilme, und läuft durch die Stadt, als sei er Claude Lanzmann persönlich.« Das war dann meist das Ende einer Beziehung. Von diesen Männern waren ihr drei Kinder geblieben, die alle aussahen wie sie.
»Das kommt davon, wenn du dir immer nur solche nichtssagenden Typen aussuchst. Wirklich eine lächerliche Zuchtwahl. All diese Weicheier. Dann hättest du noch besser mich nehmen können.«
»Du bist meine verbotene Frucht.«
»Von der Liebe, die Freundschaft heißt.«
»Genau.«
Er drehte sich um. Das bedeutete: Kurfürstendamm – nein, Savignyplatz – ja. Es bedeutete auch, daß er wieder an der Buchhandlung Schoeller vorbeikam. Was war das nur für eine Nische, nis, in der Sprache? Bekümmernis, Ereignis, Bekenntnis, Finsternis. Es begann stärker zu schneien. Es kam durch die Arbeit mit Kameras, dachte er, daß man sich ständig selbst gehen sah. Nicht als Form von Eitelkeit, eher so etwas wie Staunen, gemischt mit, na ja … Auch darüber hatte er einmal mit Erna gesprochen.
»Warum sagst du’s nicht einfach?«
»Weil ich es nicht weiß.«
»Quatsch. Du weißt es ganz genau. Wenn ich es weiß, dann weißt du es auch. Du kannst es bloß nicht sagen.«
»Welches Wort kommt dann?«
»Angst. Bestürzung.«
Er entschied sich für Bestürzung.
Jetzt nahm die Kamera mit einem langen Schwenk die verschneite Knesebeckstraße auf, die grauen, so mächtigen Berliner Häuser, die wenigen Passanten, die gebeugt in die Flocken hineinliefen. Und er war einer von ihnen. Darum ging es, die absolute Zufälligkeit dieses Augenblicks. Der eine, der da geht, ganz in der Nähe der Buchhandlung Schoeller, an der Fotogalerie vorbei, das bist du. Warum war das immer normal und manchmal, plötzlich, eine bestürzende Sekunde lang, nicht auszuhalten? Daran mußte man doch gewöhnt sein? Außer, man war eine Art ewig pubertierender Teenager.
»Damit hat es nichts zu tun. Manche...
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