Kapitel 1
Sie ließ das Öl langsam auf seinen nackten Rücken tropfen. Stimulating oil stand auf dem Etikett. Versonnen sah sie zu, wie das Öl über seine Wirbelsäule floss. Sanft berührte sie ihn mit den Händen. Dann begannen ihre Fingerspitzen, wie von selbst über seine gebräunte Haut zu tanzen, um das stimulierende, duftende Öl auf seinem Rücken zu verteilen.
Für knapp eine Stunde zählte nichts außer ihnen beiden. Es gab keinen Grund zur Eile, und sie hatte auch nicht vor, irgendetwas zu überstürzen. Sie nahm sich Zeit, seine Haut, seine Muskeln, seine Schultern, jeden einzelnen seiner Wirbel zu erkunden. Mit den Händen wanderte sie an seinem Rückgrat hinab, bis sie die Wölbung seines Pos spüren konnte. Er seufzte leise. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie war ein Profi.
Konzentriert bearbeitete sie den nackten Körper, der vor ihr lag. Nach und nach verstärkte sie den Druck und massierte seine Muskeln immer fester. Ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. An seinem Atem konnte sie hören, dass sie auf der richtigen Spur war, während sie sich weiter über seinen Körper bewegte. Auch ihr Atem ging nun schneller.
»Ja, genau so, da ist es«, stöhnte eine tiefe Stimme, die zu dem Körper gehörte, mit dem Kristina gerade so hingebungsvoll beschäftigt war. »Fester, ja, noch mehr.«
Halt die Klappe, Blödmann, dachte sie und packte noch fester zu. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper. Es war erst Ende Mai, aber seit zwei Tagen herrschten Temperaturen wie im Hochsommer. Heute kam ihr diese ungewohnte Hitze unerträglich vor.
Um die feuchte Schwüle während der Arbeit aushalten zu können, hatte sie am Morgen den Ventilator aus dem Keller geholt. Das Gerät lief auf Hochtouren. Sie genoss den leichten Windzug, den der kleine Quirl ihr ins Gesicht blies. Mit geschlossenen Augen träumte sich Kristina an einen Traumstrand. Eine sanfte Brise wehte übers Meer, spielte mit ihrem Haar und liebkoste ihre Haut. Salz auf meiner Haut, schoss es ihr durch den Kopf, während sie einem Schweißtropfen nachspürte, der ihr den Rücken hinunterlief.
»Sie können ruhig etwas fester massieren«, sagte die tiefe Stimme. Der dazugehörige Körper kam unter ihren Händen in Bewegung. Der Oberkörper richtete sich auf, und der Kopf drehte sich zu ihr.
Kristina blickte in ein von der Sonne gegerbtes Gesicht, dessen Besitzer mit einem Waran verwandt sein musste. Guten Morgen, Matula, knurrte Kristina innerlich. So hatte sie ihn getauft. Menschen andere Namen zu geben, das war eine Marotte von ihr.
Wo bist du nur mit deinen Gedanken?, mahnte sie sich im Stillen und atmete tief durch. Daran war nur diese elende Hitze schuld. Da musste man ja auf dumme Ideen kommen. Ob das wohl schon die Wechseljahre mit dieser fliegenden Hitze waren? Quatsch! Schließlich war sie erst 45.
Kristina zwinkerte ihrem Patienten freundlich zu und drückte dessen Oberkörper energisch zurück auf die Liege. Justus Claussen kam seit gut einem Monat wegen seiner Verspannungen in Nacken und Rücken zu ihr in die Praxis. Sie wunderte sich nicht über seine diversen Wehwehchen. Der Jurist betätigte sich privat als Extremsportler. Mountainbiking, Klettern, Drachenfliegen, Kajakfahren - was auch immer eine Herausforderung darstellte, er nahm sie an. Zurzeit frönte er seinem neuesten Hobby, dem Fallschirmspringen. Und er ließ nichts unversucht, um sie zu einem gemeinsamen Sprung zu überreden.
»Besser als jeder Orgasmus«, meinte er nun - wie jedes Mal.
Dann hast du was verpasst, du Alpha-Männchen, dachte Kristina. Was konnte an einem Sprung aus dem Flugzeug so gigantisch sein, dass es guten Sex in den Schatten stellte? Vielleicht fehlte es dem Waran einfach an der dazu notwendigen Feinmotorik. Sie jedenfalls würde weder das eine noch das andere mit ihm ausprobieren, sondern schön auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Besser als jeder Orgasmus? Kristina seufzte leise. Orgasmus - was war das? Sie musste schon tief in ihrem Gedächtnis kramen, um sich an ihren letzten zu erinnern. Das Leben konnte ganz schön gemein sein.
Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass sie zum Ende kommen konnte. Nach ein paar letzten Handgriffen deckte sie den nackten Rücken mit einem flauschigen Handtuch zu und verließ auf Zehenspitzen den Behandlungsraum. Matula schnarchte inzwischen leise vor sich hin. Sie wollte ihn jetzt nicht wecken.
Ihr erster Weg führte sie ins Badezimmer, wo sie sich das Öl von den Händen wusch. Dann tupfte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und studierte ihr Spiegelbild.
»Was ist bloß los mit dir?«, fragte sie die Frau, die ihr im Spiegel entgegenblickte.
Schon zum zweiten Mal in dieser Woche war sie während einer Behandlung in einen erotischen Tagtraum geglitten. Natürlich herrschte ein gewisser Notstand. Aber es war nicht so, dass sie sich nicht mehr im Griff hatte. Da stand sie nun also, eine Frau im besten Alter, mit einer immer noch passablen Figur, glatter Haut und keinem einzigen grauen Haar. Und was geschah?
»Nichts. Null Komma nix«, antwortete sie sich selbst. »Na ja, es gibt Wichtigeres.«
Viel wichtiger ist doch die Liebe, überlegte sie. Aber auch da sah es eher düster aus. Gab es denn nirgendwo einen Seelenverwandten für sie? Ja, das Leben konnte ziemlich gemein sein.
»Aber ich will mich nicht beschweren«, sagte sie wie immer zu sich, wenn sie Gedanken wie diesen nachhing, »ich habe ja alles, was ich brauche. Bloß nicht undankbar sein.«
Wie hatte Sophie diesen Zustand kürzlich genannt? Notgeil. »Oh, mein Gott«, seufzte sie. Ob ihre Tochter das auch bei ihr so nennen würde? Kristina fixierte ihr Spiegelbild. »Schau den Tatsachen ins Gesicht: Du bist jetzt eine notgeile Alte.«
In dem Moment klopfte es an der Tür. »Sprichst du wieder mit dir selbst?«
Kristina ignorierte die Frage und zog eine Grimasse. Dass sie zuletzt einen Mann im Arm gehalten hatte, lag schon Wochen, nein, Monate zurück. Eine Verschwendung hatte Rita es genannt. Und Kristina wusste, dass sie jetzt draußen vor der Tür stand. »Rita, du sollst nicht an der Tür lauschen!«, rief sie.
Rita. Das war die Frau, die ihr ständig vorhielt, dass sie das Beste im Leben einfach verpasste. Erst vor kurzem hatte sie zu Kristina gesagt: »Du bist eine Frau in den besten Jahren. Du stehst in der Blüte deines Lebens, und du lebst wie eine Nonne. Wann hast du deinen letzten Orgasmus gehabt?«
»Orgasmus? Was ist das?«
Rita hatte nicht glauben können, dass es weit und breit keinen Kerl geben sollte, der zu Kristina passte. »Krristina, des is fei aweng zum Färrrchdn«, hatte sie mit rollendem R geschimpft.
Zum Fürchten fand Rita die Abstinenz ihrer Freundin. Und wenn Rita sich über irgendetwas aufregte, verfiel sie ins Fränkische. Wenn es um Männer oder ums Älterwerden ging, schnellte ihr Blutdruck blitzartig in die Höhe, und ihr Heimatdialekt brach unwillkürlich durch. Und das geschah eigentlich laufend. Dabei hatte Rita sich den Dialekt mit großer Mühe abgewöhnt. Ihrer Ansicht nach passte er so gar nicht zu ihrer gepflegten Erscheinung.
Jaja, Rita. Die hatte leicht reden. Sie war wieder mal frisch verliebt, was kein besonderes Ereignis war. Schließlich war sie dauernd in irgendeinen Kerl verliebt. Für gewöhnlich hielt dieser Ausnahmezustand ein paar Wochen lang an. Dann hatte sie genug und schaltete ohne großes Zaudern zurück in den Single-Modus. Dieses Spielchen praktizierte sie seit ihrer Scheidung von Hubert vor acht Jahren, und sie schien damit glücklich zu sein. Rita pflegte nicht nur ein freundschaftliches Verhältnis zu Hubert, sondern hatte ihn auch zu ihrem Part-Time-Lover gemacht. »Für Notsituationen, denn Hausmannskost hat hin und wieder auch ihren Reiz«, hatte sie erklärt.
Kristina hatte das überhaupt nicht nachvollziehen können. Allein bei der Vorstellung, Peter nach der Scheidung noch mal näher zu kommen, überfiel sie auch jetzt das kalte Grauen.
»Du nimmst das alles viel zu ernst«, hatte Rita erwidert. »Solange du nach der großen Liebe suchst, übersiehst du all die vielen hübschen Möglichkeiten, die es sonst noch gibt. Die Männer warten doch nur darauf. Neun von zehn haben praktisch einen Henkel zum Mitnehmen. Da musst du nur zugreifen.«
Kristina wusste, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte. Auch Justus Claussen hatte diesen Henkel. Aber was sollte sie denn machen, wenn bei ihm ihre Libido einfach nicht reagierte?
Offenbar hatte Rita es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kristina zu verkuppeln. Sie hatte unerschöpfliche Ideen für Kontaktbörsen, die Kristina nur aufsuchen musste. Speed-Dating, Fitnessklub, Golfkurs, Fußballstadien, Kneipen, Internet. »Männer haben ihre festen Plätze«, hatte Rita ihr erklärt. »Und genau da musst du hingehen. Die findest du nicht beim meditativen Tanz, beim Pilates oder in der Damenabteilung eines Kaufhauses, sondern beim Schafkopfspielen, beim Joggen im Englischen Garten oder in der Sport- und Computerabteilung.«
Vielleicht hat sie ja recht, überlegte Kristina. Vielleicht verpasse ich bei meiner Warterei auf den Richtigen viele gute Gelegenheiten. Vielleicht bin ich überheblich, stelle zu hohe Ansprüche und benehme mich wie eine Zicke . Andererseits kam Kristina das, was sich ihr aktuell so anbot, eben tödlich langweilig vor.
Klar, da gab es ihren Nachbarn Hugo Drechsel, der nur ein paar Häuser weiter wohnte und der ein Auge auf sie geworfen hatte. Aber er war nun einmal überhaupt nicht ihr Typ: Der Kerl war schmächtig, kahlköpfig, reichte ihr gerade so bis zum Kinn und hatte noch dazu eine feuchte Aussprache. Oder Stefan Wagner, ebenfalls ein Patient, der...