Schweitzer Fachinformationen
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An jenem Abend fiel ein feiner, flüsternder Herbstregen. Ich stellte den Kragen meines Mantels auf und ging mit zügigen Schritten auf die Freitreppe des Rudolfinums zu. Die Nacht legte sich einer Decke gleich über Prag. Der gewaltige Bau schimmerte elfenbeinfarben im Licht vieler kleiner Laternen. Hier und da glühten Zigaretten wie Glühwürmchen im Dunkeln. Der Regen wurde stärker, die Feuchtigkeit drang durch den Stoff meiner Hose und ließ sie unangenehm an meinen Beinen kleben. Ein Windstoß wirbelte nasses Laub auf. Eine Dame im schwarzen Pelzmantel, die einige Schritte vor mir auf die erleuchteten Bögen am oberen Ende der Treppe zueilte, schrie leise auf, als der Wind an ihrem Schirm riss und ihn umstülpte. Von links und rechts strebten weitere Gäste mit gesenkten Köpfen auf den Eingang zu. Die Männer hielten ihre Offiziersmützen fest, die Damen ihre mit Federn geschmückten Filzhüte, die ihnen der Wind zu entreißen versuchte. Durch das Rascheln des Luftzugs in den ordentlich gestutzten Hecken drangen leise Klänge von Geigen und Hörnern.
An diesem Abend war ich erschöpft von den Strapazen der vergangenen Wochen und hinter meinen Schläfen pochte ein unangenehmer dumpfer Schmerz. Wenn es so weiterging, würde uns ein langer und mühseliger Winter bevorstehen. Ich erreichte die Freitreppe und verharrte trotz des Regens für einen Augenblick, um nach oben zu sehen. Der wuchtige Bau erhob sich drei Stockwerke hoch über den kleinen Park am Ufer der Moldau. Ein steinernes Geländer umgab eine ausladende Dachterrasse, von der riesige rote Fahnen hingen, die sich mit Regenwasser vollsaugten. In der Mitte der Fahnen prangte ein großes schwarzes Hakenkreuz auf weißem Grund. Oben auf der Dachterrasse waren schattenhafte Gestalten zu erkennen, überlebensgroße Statuen bedeutender Musiker. Zwanzig Jahre lang war dieses Gebäude als Abgeordnetenhaus der tschechoslowakischen Regierung in Prag zweckentfremdet worden, bis es an diesem Abend wieder seiner ursprünglichen, vom Schirmherrn Prinz Rudolf vorgesehenen Bestimmung zugeführt werden sollte. Der österreichische Kronprinz hatte nicht lange Freude an seinem Prachtbau gehabt, denn ein paar Jahre nach der Vollendung hatte er zuerst seiner minderjährigen Mätresse und dann sich selbst eine Kugel in den Kopf geschossen. Zwei weibliche Gottheiten aus Bronze flankierten den Eingang und führten mit ihren wuchtigen Leiern den Pragern vor Augen, wozu das imposante Gebäude wirklich erbaut worden war: als Musentempel und Kulturstätte, die einige der größten deutschen Komponisten der heutigen Zeit hervorgebracht hatte. Einer von ihnen war Anton Bruckner, dessen Adagio der siebten Sinfonie nach draußen drang und dessen steinernes Abbild auf der Dachterrasse hoch über meinem Kopf stand. Auf Anweisung des neuen Reichsprotektors, so erzählte man im Büro, hatte eine der Statuen dort oben entfernt werden sollen, denn der Komponist Mendelssohn, bekanntlich jüdischer Herkunft, störte den Reigen der arischen Musiker um ihn herum. Die Arbeiter hatten allerdings nicht die geringste Ahnung gehabt, wie Mendelssohn aussah, und so kurzerhand die Büste mit der größten Nase entfernt - verständlich, denn sie suchten schließlich einen Juden. Jedoch handelte es sich bei dem Komponisten mit der großen Nase um den Lieblingskomponisten des Führers, Richard Wagner, und die peinliche Verwechslung war erst in letzter Sekunde erkannt und berichtigt worden. Ich hatte allerdings meine Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser burlesken Anekdote.
Beim Anblick des cremefarbenen Rudolfinums erklang ein fast vergessener Akkord in meinem Gedächtnis. Ich war damals zehn Jahre alt gewesen und der große Krieg war gerade zu Ende gegangen. Meine Mutter hatte am Küchentisch über die »Berliner Zeitung« gebeugt gesessen, die mageren Schultern verkrampft, Röte auf den sonst blassen Wangen. Ihre sehnigen Hände hatten das Tischtuch geknetet. Sie war Klavierlehrerin und brachte uns beide mit ihrem schmalen Lohn allein durch, einen Vater hatte ich nie gehabt. Zumindest keinen, den ich gekannt hätte. Ich schaute ihr über die Schulter und betrachtete die grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Haufens von Trümmerholz. Meine Mutter deutete auf das Bild und seufzte mit einem Schmerz, der aus dem tiefsten Graben ihrer Seele zu kommen schien.
»Weißt du, was das ist?«
»Ein Haufen Brennholz, Mutter.«
Meine Mutter lachte auf, aber es war ein beunruhigender Laut. »Das ist es jetzt wohl.«
Sie hatte die Zeitung ordentlich zusammengefaltet, war aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Ich hatte die Fotografie des Trümmerholzhaufens herausgesucht. Die Bildunterschrift hatte gelautet: »Bruckners Spieltisch im ehemaligen Rudolfinum mit Axt zertrümmert. Die historische Orgel muss Masaryk-Büste weichen.«
Kaum zwanzig Jahre lang hatte der neue tschechoslowakische Staat überlebt, Tomás Masaryk, sein erster Präsident, war tot und sein Sohn und Nachfolger Jan saß bekanntlich in einem britischen Sanatorium für Geisteskranke. England, Frankreich und Italien hatten vier Jahre zuvor nicht nur das deutschsprachige Sudetenland, sondern den ganzen Rumpf der Tschechei an Deutschland verkauft. Die tschechische Regierung war zu den Verhandlungen über die Zukunft ihres Landes gar nicht erst eingeladen worden und konnte lediglich zusehen, wie auf der Prager Burg die Hakenkreuzfahne gehisst wurde. Nun hörte man aus dem Rudolfinum wieder die Klänge einer Bruckner-Sinfonie, während die Masaryk-Büste in einem Abstellraum verstaubte.
Der Regen legte erneut zu und stach mir mit eisigen Nadeln ins Gesicht. Ich sprang die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal und flüchtete mich in die hell erleuchtete Wärme des Konzerthauses.
Die Pracht der Eingangshalle verschlug mir den Atem. Die hellen stuckverzierten Wände strebten in schwindelerregende Höhen, wo sie in goldenen Fresken unter einem gläsernen Dach abschlossen. Zahllose Blendbögen und Ziersäulen verliehen dem wuchtigen Bau spielerische Leichtigkeit. Girlanden von Eichenlaub säumten das Marmorgeländer der Flügeltreppe, die hinauf zum Konzertsaal führte, und von der Galerie hing ein gewaltiger Wandteppich herab, auf dem ein gestickter Reichsadler das Hakenkreuz so fest in den Klauen hielt, als fürchte er, jemand könnte es ihm entreißen.
Unter dem Blick des Adlers flanierten zahlreiche Gäste durch die Eingangshalle oder standen in kleinen Gruppen beisammen, die Männer in eleganten zweireihigen Gesellschaftsuniformen und glänzend polierten schwarzen Stiefeln, die Frauen in knielangen, hochgeschlossenen Kostümen und federgeschmückten Hüten. Der Kriegsbeginn hatte es notwendig gemacht, die Stoffproduktion für Damenmode zu rationalisieren, sodass man bei offiziellen Anlässen keine Ballkleider mehr sah. Eine Sinfonie aus Stimmen und Gläserklirren erhob sich und bildete den Kontrapunkt zu Bruckners kühnen Harmonien, die aus dem Konzertsaal drangen.
Mir brach der Schweiß aus. Diensteifrige Hände halfen mir aus dem nassen Mantel, ein livrierter Ober bot ein Silbertablett mit schlanken Sektgläsern dar.
»Kommissar Pannwitz, welche Freude, Sie hier zu treffen«, sagte eine Stimme hinter mir mit wenig Begeisterung, »Heil Hitler!«
Ich drehte mich um und sah in das ausdruckslose Gesicht Dr. Hans-Ulrich Geschkes. Geschke war keine fünf Jahre älter als ich, aber bereits Oberregierungsrat und Leiter der Gestapo in Prag. Den Schädel hatte er an beiden Seiten rasiert, durch das dünne blonde Haar oben auf dem Kopf schimmerte blassrosa die Kopfhaut.
Ich deutete eine kurze Verbeugung an. »Heil Hitler, Standartenführer.«
Geschke sah mich mit seinen blassblauen Augen an. »Sie sind sich hoffentlich der Bedeutung dieses Abends bewusst. Er wird weit über die Grenzen des Protektorats als Markstein der Entwicklung deutschen Kulturlebens in die Geschichte eingehen.« Er machte eine sparsame Geste mit der rechten Hand. »Traurig, dass von Neurath heute nicht hier sein kann, finden Sie nicht?«
Ich machte eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, um Zeit zu gewinnen. Eben hatte mir die Wärme in der Halle noch den Schweiß auf die Stirn getrieben, jetzt wurde mir unangenehm bewusst, wie klamm mir die Hose an den Beinen klebte. Mein Kopf begann wieder zu pochen.
Konstantin Freiherr von Neurath war der offizielle Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, der im vergangenen Jahr den Rückbau des Rudolfinums zum Konzertsaal angeordnet hatte. Er war unter Hindenburg Außenminister gewesen und unterhielt als ehemaliger Diplomat des Deutschen Reiches in London hervorragende Beziehungen zur britischen Regierung. Vom Ministerposten hatte er 1938 zurücktreten müssen, weil er die Kriegspläne des Führers nicht mittragen wollte. Es hatte nichts genützt, der Krieg war gekommen und Neurath hatte sich bereits vorher unversehens als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren wiedergefunden. Diese großzügige Geste Hitlers war notwendig gewesen, um es sich nicht völlig mit den Briten zu verderben. In meiner Funktion als Leiter des für Sabotagefälle zuständigen Referats der Prager Gestapo hatte ich keinen Grund zur Klage über Neuraths Politik. Der aktive Widerstand im Protektorat war kaum von Bedeutung gewesen. Von Sabotage, die den Verkehr, die Rüstungs- und andere Industrie, das öffentliche Leben oder die deutschen Kriegsinteressen getroffen hätte, war im Verhältnis zur Größe des Landes fast gar nichts zu spüren gewesen. Konstantin von Neurath war es gelungen, alle Ambitionen der tschechischen Exilregierung unter Edvard Benes, die in London Unterschlupf gefunden hatte, mithilfe seiner alten britischen Freunde im Zaum zu halten. Im Protektorat wollte er die Bevölkerung...
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