2. Kapitel
Die Nummer auf dem Display ist mir nicht bekannt. Einen Augenblick lang zögere ich, dann melde ich mich doch: »Hallo?« Es klingt tonlos, ich weiß.
Einen Moment lang ist es still.
»Lee Kramer?« Eine männliche Stimme.
Samuel? Vielleicht. Angst kriecht mir den Rücken hinauf und greift nach meinem Nacken, der ganz steif wird. Ich muss schlucken, aber eigentlich ist es ein Würgen in meinem Hals.
»Ja«, höre ich mich sagen, obwohl ich das eigentlich gar nicht will.
»Hier ist Detective John Ferguson vom 19. Revier.«
Ich schließe die Augen. Eine Welle der Erleichterung überrollt mich. Ja, jetzt erkenne ich seine Stimme.
»Mr McKellan hat mir erzählt, dass Sie glauben, Samuel Stratford hätte Sie beinahe überfahren? Ist das richtig?«
»Ja, sehr richtig.«
»Ms Kramer, könnten Sie heute Nachmittag vielleicht aufs Revier kommen?«
Das Revier ist sehr viel weiter von mir entfernt als Dr. Sherman. Der Weg dorthin erscheint mir wie ein finsterer Tunnel. Vielleicht mit Brady zusammen. Aber Brady ist nicht da.
»Bedaure. Mein Gesundheitszustand lässt dies nicht zu.« Diplomatisch.
»Würde es Ihnen dann etwas ausmachen, wenn ich zu Ihnen käme? Vielleicht später, so gegen Mittag?«
Ich denke kurz nach. »Natürlich. Vielleicht so gegen eins?« Früher wäre mir lieber, aber er hat Mittag gesagt und der beginnt nicht vor zwölf. Zwölf mag ich immer nicht sagen - das klingt nach einem schlechten Western. High Noon, Detective Ferguson, bei der Verrückten, wenn Sie sich trauen!
»Gern«, sagt er kurz angebunden und legt auf.
Vor dem Fenster meines Schlafzimmers hängt eine dichte weiße Wolkendecke am Himmel, die wie zerfaserte Watte an manchen Stellen bis auf den East River reicht und auch die Spitze des Leuchtturms auf Roosevelt Island einhüllt.
Früher bin ich gern dort spazieren gegangen, vor allem bei Sturm, wenn die Wellen an den Mauern der Uferbegrenzung um den Leuchtturm klatschten. Heute erscheint es mir sehr weit weg. Unerreichbar.
Nachdenklich lege ich mein Smartphone zur Seite, und dann fällt mein Blick wieder auf das Polaroid. Die Angst kommt zurück und schwappt über mir zusammen wie eine Welle in der Brandung.
Denk nach, Lee, logisch denken. Auf dem Polaroid schlafe ich. Aber die Wohnungstür ist fest verschlossen, und durch das Fenster kommt in dieser Höhe wohl auch niemand herein. Ein Geist? Ein Geist mit einer Polaroidkamera?
Nein. Die einfache Erklärung? Das Foto existiert nicht wirklich, sondern einzig allein in meiner Einbildung.
Vielleicht sollte ich Dr. Sherman doch noch einmal nach Medikamenten fragen. Niemand weiß besser als ich, dass eine posttraumatische Belastungsstörung, wie ich sie habe, alle möglichen Symptome mit sich bringen kann. Halluzinationen gehören auch dazu. Ich hebe das Polaroid noch einmal auf und lege es dann in die Schublade meines Nachtschrankes.
Bevor ich mir die Zähne im Bad putze, vergewissere ich mich allerdings, dass meine Wohnungstür wirklich abgeschlossen ist.
Nicht nachdenken, Lee, sonst wirst du wahnsinnig! Und ebenso wie ich das Polaroid in eine Schublade sortiert und damit aus meinem unmittelbaren Zugriff entfernt habe, versuche ich, es aus meinem Gehirn zu werfen.
Später packe ich alle Küchenkisten aus. Mein bisschen Geschirr und die paar Pfannen und Töpfe, die ich besitze, wirken verloren in all den Schränken.
Ebenso geht es mir mit meinen Büchern im Arbeitszimmer.
Bis zum Mittag sind fast alle Kisten leer, bis auf ein paar Kisten mit Winterkleidung, die ich in die hinterste Ecke meiner Kleiderkammer räume. Es wird Frühling. Ich hoffe nicht, dass ich in den nächsten Monaten noch meine Daunenjacke und die Skistiefel brauche.
Trotz meiner Sachen sieht die Wohnung seltsam kahl aus, fast leer. Vielleicht fehlen ein paar Bilder an den Wänden, denke ich, aber ich spüre nach all der körperlichen Anstrengung wieder den Schmerz in meiner Schulter.
Pause, Lee. Das hat auch Dr. Anand gesagt. Pausen.
Brady ruft an, als ich mich gerade mit einer Tasse Kaffee auf die breite Fensterbank im Wohnzimmer gesetzt habe.
Inzwischen ist die Wolkendecke aufgerissen und schickt hier und da Sonnenstrahlen auf das Parkett. Und in ebendiesem Licht glaube ich, nein, bin ich mir sicher, dass das Polaroid nur der Überhang eines Albtraumes ist. Nichts weiter als ein Streich meines aufgewühlten Unterbewusstseins. Ich wette, wenn ich meine Nachttischschublade aufziehen würde, sie wäre leer.
»Wie ist es in Buffalo?«, frage ich und puste in meine Tasse. Am liebsten trinke ich meinen Kaffee lauwarm oder kalt.
»Du wirst es nicht glauben, aber letzte Nacht hat es hier echt noch mal geschneit.« Brady klingt heiter, und davon lasse ich mich sogar ein klein wenig anstecken.
März und Schnee. New York State halt.
»Was macht dein Mandant?«
Brady seufzt. »Verwickelte Erbschaftsangelegenheit. Und bei dir?«
»Detective Ferguson kommt gleich vorbei. Er will mit mir sprechen. Danke, dass du ihn angerufen hast.«
»Selbstverständlich, Lee, ruf später an, ja?«
Ich verspreche es ihm und lege auf. Dann greife ich nach dem Karton mit meinem neuen WLAN-Router. Verdammte Technik. Dafür war ich noch nie sonderlich begabt. Aus dem Diagramm darauf werde ich nicht schlau. Ich soll irgendwas mit meiner Telefonbuchse verbinden. Ratlos schüttele ich den Kopf und starre auf die Kabel in meiner Hand, gerade als es an der Tür klingelt. Erleichtert werfe ich Karton und Kabel auf den Tisch und erlaube George, meinen Besucher nach oben zu schicken.
Detective Ferguson ist ein kräftiger Mann Mitte fünfzig mit Bauchansatz und schütterem Haar. Er hat etwas von einer freundlichen Bulldogge, aber reizen möchte ich ihn nicht.
»Kaffee?«, biete ich ihm an, doch er schüttelt den Kopf, setzt sich an den Tisch und holt einen Laptop aus der Tasche.
Erwartungsvoll nehme ich ihm gegenüber Platz, und er holt tief Luft.
»Und Sie sind sicher, dass es Samuel Stratford war?«
Ich nicke. »Ja.« Wobei, sagt eine kleine Stimme in mir, ganz sicher bist du dir eigentlich nicht, Lee!
Detective Ferguson macht eine ungeduldige Handbewegung, dann klappt er den Laptop auf. Vielleicht hat er den Zweifel in meiner Stimme gehört. Auf jeden Fall lässt er sich den Vorfall von mir noch einmal in allen Details schildern. Trotzdem sehe ich es in seinem Blick: Skepsis.
»Wissen Sie, Lee, gegen Samuel Stratford liegt nichts vor. Wir haben keinerlei Beweise dafür, dass er seinem Bruder Simon in irgendeiner Weise dabei geholfen hat, den Anschlag auf Sie und Ihren Vater zu planen, oder daran beteiligt war. Stratfords letzter bekannter Aufenthaltsort ist in Colorado, und die Adresse stimmt schon länger nicht mehr. Wir haben das überprüft. Wir denken eigentlich eher, dass er tot ist. Vielleicht hat er sich umgebracht.«
»Sie glauben mir nicht.« Resignation schwingt in meiner Stimme mit. Ich kann es nicht verbergen.
»Es geht nicht nur um das, was ich glaube, es geht um Realitäten und Wahrscheinlichkeiten. Und es gibt einfach keinen Hinweis darauf, dass er Sie umbringen will.«
»Den gab es bei Simon auch nicht«, sage ich düster.
Ein fast trauriger, vielleicht eher mitleidiger Blick trifft mich aus seinen blauen Augen mit den hängenden Lidern. »Ich glaube nicht, dass Sie in Gefahr sind, Lee. Versuchen Sie, Ihr Leben zu leben.«
Ein kleiner Teil in mir will ihm sogar zustimmen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht bilde ich mir Samuel Stratford ein, damit ich mich der Realität nicht stellen muss?
Nachdem Detective Ferguson gegangen ist, lehne ich mich gegen die Tür und wähle Bradys Nummer. Als sich nur seine Mailbox meldet, lege ich auf.
Mein Blick fällt wieder auf den Router, dann drehe ich mich zum Spiegel über der Flurkommode. Ja, ich bin blass, und meine Nase sieht etwas spitz aus. Ich löse das Haarband und fahre mir mit den Händen durch die Locken, dann hole ich Box und Kabel, atme tief durch und öffne meine Wohnungstür.
Vor Garlands Tür bleibe ich stehen und klopfe. Es ist still. Sehr still. Vielleicht ist er gar nicht zu Hause.
Warum mein Herz auf einmal schneller schlägt, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht ist es der Kaffee.
Gerade als ich mich umdrehen und wieder gehen will, höre ich, wie ein Riegel zurückgeschoben wird.
Garland trägt nur einen Bademantel, und sein Haar ist feucht. »Oh!«, macht er überrascht, nachdem er mich eine Sekunde lang angestarrt hat, dann überzieht seine Wangen eine feine Röte, und ich muss lächeln.
Mit beiden Händen zieht er den Frotteestoff fester um seinen Körper. »Ich dachte, es wäre George. Ich dachte . ja, ich weiß nicht, ich dachte, er bringt mir ein Päckchen oder so.«
»Tut mir leid«, beeile ich mich zu sagen. »Es ist kein guter Zeitpunkt. Ich komme später wieder.«
»Nein, nein«, sagt Garland hastig. »Ich war gerade im Pool, Bahnen schwimmen. Kann ich etwas . Ist etwas?« Jetzt erst fällt ihm der Karton mit dem Router in meiner Hand auf. »Brauchen Sie Hilfe damit?«
»Ja, ich weiß nicht, wie man das Ding anschließt.« Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen. »Aber es eilt nicht. Wenn Sie keine Zeit -«
Er unterbricht mich: »Nein, schon gut. Wenn Sie einen Moment warten, komme ich gleich mit. Ich -« Er lacht. »Ich wollte mich eh gerade anziehen.«
Er lässt die Tür einfach offen und verschwindet im Flur, der...