Das amerikanische Tagebuch eines japanischen Mädchens
Übersetzte Ausgabe
2022 Dr. André Hoffmann
Dammweg 16, 46535 Dinslaken, Germany
ATHENEMEDIA ist ein Markenzeichen von André Hoffmann
Jede Verwertung von urheberrechtlich Geschütztem außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
www.athene-media.de
Gezeichnet von Genjiro Yeto
Der Ehrengast
Das amerikanische Tagebuch
eines japanischen Mädchens
Von Miss Morning Glory
Illustaruion: Genjiro Yeto
An Ihre Majestät
HARUKO
Kaiserin von Japan
Januar, 1902
Seit meiner Kindheit ist deine souveräne Schönheit für mich alles an Wohlwollen und Inspiration gewesen.
Wie oft habe ich mit freudigem Erstaunen deine erhabene Gegenwart beobachtet, wenn du durch unsere Straßen in Tokio gingst! Welch trauriges Gefühl durchfuhr mich, wenn du gerade außer Sichtweite warst! Wenn du nur wüsstest, so betete ich, dass ich eine deiner Töchter bin! Ich habe mir schon vor langer Zeit vorgenommen, alles, was ich tue, unserer Mutter zu schenken. Wie sehr wünschte ich, ich könnte meine eigene Mutter sagen! Mutter bist du, himmlische Frau!
Ich werde nun mein einfaches Tagebuch über meine Reise nach Amerika veröffentlichen.
Und ich widme es demütig dir, unserer geliebten Kaiserin, in der Bitte, dass du dich herablassen mögest, anzuerkennen, dass eine deiner Töchter sogar in einem fremden Land einige reizvolle Stunden hatte.
BEVOR ICH SEGELTE
Tokio, 23. Sept.
Meine neue Seite des Lebens bricht an.
Eine Reise jenseits der Meere ? Meriken Kenbutsu ? ist kein gewöhnliches Ereignis.
Es ist wirklich das erste Ereignis in unserer Familiengeschichte, das ich über sechs Jahrhunderte zurückverfolgen konnte.
Mein heutiger Traum von Amerika ? der Traum von einem Schmetterling, der am goldenen Tau nippt ? wurde durch das kunstlose Gezwitscher von hundert Spatzen in meinem Garten jäh unterbrochen.
"Chui, chui! Chui, chui, chui!"
Böse Spatzen!
Mein Traum war albern, aber herrlich.
Ein Traum ist kein Traum ohne Albernheit, die der Poesie ähnlich ist.
Wenn mein Traum jemals wahr wird!
24. Der Gesang der fröhlichen Kinder, die über die Straße verstreut waren, war verstummt. Der Erntemond leuchtete wie ein gelber Heiligenschein von "Nono Sama". Alle Dinge im gesegneten Mitsuho No Kuni ? auch die kleinste Ameise ? badeten in süßen, inspirierenden Strahlen der Schönheit. Das sanfte Lied, das man nicht hören, aber fühlen kann, lag in der Luft.
Es war ein Verbrechen, so urteilte ich, eine so anmutige Stunde in der Tür zu vergeuden.
Ich schlenderte mit meiner Zofe zum Konpira-Schrein.
Ihre roten, dicken Finger ? wie Süßkartoffeln ? sahen heute Abend gar nicht so schlecht aus, denn der Mond verschönerte jede Hässlichkeit.
Unser Kaiser sollte verkünden, dass es den Frauen verboten ist, sich zu jeder Zeit im Freien aufzuhalten, außer bei Mondschein.
Ohne Schönheit ist die Frau nichts. Das Gesicht ist die ganze Seele. Ich ziehe den Tod vor, wenn mir nicht ein Paar dunkle, samtige Augen gegeben werden.
Wie schade, dass auch Frauen alt werden müssen!
Eine dumme Falte in meinem Gesicht würde ausreichen, um mich zu betäuben.
Mein Stolz sind meine schlanken Finger aus satinierter Haut.
Ich werde meine rosafarbenen Fingernägel sorgfältig reinigen, bevor ich in Amerika lande.
Unsere Holzschuhe klangen melodiös, wie ein rhythmisches Gebet an den Himmel. Die Japaner sind sogar mit ihrem Schuhwerk in der Lage, Musik zu machen. Jedes Haus mit einer Laterne am Eingang sah aus wie ein Schrein, der tausend Götzen beherbergte.
Ich kniete vor dem Gott der Konpira nieder.
Ich wusste nicht genau, wie ich ihn ansprechen sollte, da ich nicht wusste, was für ein Gott er war.
Als ich zu Hause ankam, war ich durstig. Bevor ich einen Eimer aus dem Brunnen holte, spähte ich hinein. Die Mondstrahlen stahlen sich wunderschön in das Wasser.
Mein Schildpattkamm von meinem Kopf fiel in den Brunnen.
Das Wasser von weit unten lächelte und beglückwünschte mich herzlich zu meiner Reise nach Amerikey.
25. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie ich in einem amerikanischen Kleid aussehen werde.
26. Meine Schuhe und sechs Paar Seidenstrümpfe sind angekommen.
Wie sehr hatte ich gehofft, dass sie aus Nippon-Seide sind!
Der Wert eines Paares beträgt 4 Yen.
Extravaganz! Wie lieb!
Ich sehe kaum einen Grund, der gegen Barfußlaufen spricht.
Nun, das hängt natürlich davon ab, wie sie gestaltet sind.
Die Füße eines japanischen Mädchens sind ein süßes kleines Stück. Ihre Flachheit und Wölbungslosigkeit manifestieren ihre erbärmliche Weiblichkeit.
Die Füße verraten genauso viel wie die Handflächen.
Ich habe meinen Füßen die gleiche mühsame Pflege angedeihen lassen wie meinen Händen. Jetzt müssen sie sich in die schweren, engen Schuhe Amerikas zurückziehen.
Es ist aber gar nicht so schlecht, mit den Füßen in so schöne Seide zu schlüpfen.
Meine Schuhe sind von hervorragender Form. Sie haben einen kleinen hohen Absatz.
Ich bin froh, dass sie mich viel größer machen.
Ein Bambus, den ich vor etwa drei Sommern gesetzt hatte, warf seinen ungewöhnlich melancholischen Schatten auf das runde Papierfenster meines Zimmers und flüsterte: "Sara! Sara! Sara!"
Es hörte sich für mich wie eine blasse Stimme des Abschieds an.
(Übrigens sind die üppigen Spitzen meines Bambus wie die Straußenfedern meines neuen amerikanischen Hutes).
"Sayonara" klang noch nie so traurig, so aufregend.
In zehn Tagen heißt es Abschied nehmen von der "trauten Heimat" inmitten von Kamelien und weißen Chrysanthemen. Der Dampfer "Belgic" verlässt Yokohama am sechsten des nächsten Monats. Mein geliebter Onkel ist Anstandsdame während meiner Amerikareise.
27. Ich habe die Bilder aus den amerikanischen Magazinen herausgeschnitten.
(Die Zeitschriften waren alle müde aussehende Rückennummern. Die neuen sind in ihrem eigenen Haus brauchbar. Vergessene alte Schauspieler verirren sich auf eine unrühmliche Tournee in die Dörfer. So ist es auch mit den Zeitschriften. Nur die unbrauchbaren Nummern kommen nach Japan, nehme ich an.)
Die Bilder ? Meriken ist ein Land der Frauen; deshalb sind die Bilder wohl hauptsächlich von Frauen ? haben mir gezeigt, wie man den langen Rock aufhebt. Dieser eine Akt ist das ganze "Geschäft", um auf der Straße charmant auszusehen. Ich glaube, die Anmut der amerikanischen Damen liegt in den schlangenförmigen Kurven der Figur, in der schmalen Taille.
Die Frau ist die Sklavin der Schönheit.
Ich legte mir mein neues Korsett an. Ich zog es so fest.
Es tat mir weh.
28. ? Mein Herz war eine Lerche.
Ich habe gesungen, aber nicht mit zitternder Stimme wie eine Lerche, sondern ein Stück Schullied.
Ich hüpfte durch meinen Garten.
Weil mir endlich klar geworden ist, dass ich in meinem neuen Kostüm schön aussehen werde.
Ich lächelte glücklich in das Sonnenlicht, dessen herbstlich gelbe Flocken ? wie gelb sie waren ? auf meinen Arm fielen, den ich ausstreckte, um eine Chrysantheme zu pflücken.
Ich gebe zu, dass mein Arm braun ist.
Aber es ist wohlgeformt.
29. Das Englisch Amerikas ? Sir, es ist leicht, rückhaltlos und zugänglich ? wurde mir wieder lieb. Meine Liebe zu ihr kehrte zurück wie die Glut in einem Kohlenbecken, das ich leidenschaftlich beobachtet hatte, dann alle Sommertage verließ und dem ich mit den nahenden Schritten des Winters mein entschuldigendes Gesicht zuwandte.
Oya, oya, mein Buch von Longfellow unter dem schweren Staubmantel!
Ich staubte das Buch mit Sorgfalt und Verehrung ab, wie ich es vor einem Monat mit einem kleinen Bild des Herrn tat.
Dasselbe alte, sanfte Gesicht des amerikanischen Dichters ? ein Dichter muss nicht immer von tragischem Wehklagen und vom "Jenseits" singen ? starrte mich von seinem Titelbild an. Ich fragte mich, ob er jemals davon geträumt hatte, dass sein Buch auf den kleinen braunen Palmen eines japanischen Mädchens aufgeschlagen werden würde. Plötzlich kam mir der Gedanke, als ob er ? der Geist seines Bildes ? seine kritischen, beeindruckenden Augen auf meinen kunstvollen Queue mit Korallenkopfnadel oder auf mein Gesicht werfen würde.
Bin ich nicht eine reizende junge Dame?
Ich hatte Longfellow vor vielen Monaten auf das oberste Regal geworfen, wo eine Grabspinne lagerte, und dem schweigsamen, fleißigen, silberhaarigen Gentleman Mr. Moth alle Freiheiten gegeben, um in der "Arcadie" herumzustreifen.
Mr. Moth lief hinaus, ohne seinen eigenen "ehrenvollen" Eindruck von dem beliebten Dichter zu geben, als ich die Seiten flattern ließ.
Ein großer väterlicher Dichter ist er, aber nicht...