Schweitzer Fachinformationen
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New York, Lower East Side.
Das Steinchen würde haften bleiben, er wusste es, noch bevor er die Lücke sah. Zach löste das blaue Quadrat von der Sohle seines Schuhs und setzte es zurück an seinen Platz im Fußboden. Er trat erneut fest auf, wartete einen Moment und sah unter die Sohle, unter der jetzt ein gelber Stein hing. Irgendetwas stimmte da nicht. Das Mosaik sollte eigentlich bombenfest halten, aber seit ein paar Tagen gab es Probleme. Zuerst hatten sich nur ganz vereinzelt kleine Quadrate gelockert, mal eins vor dem Tresen, mal ein anderes gleich hinter der Tür. Mittlerweile lösten sie sich überall im Raum. Und manche Steinchen saßen eben so lose, dass sie an den Kreppsohlen der Arbeitsschuhe kleben blieben. Ging man einmal quer durch den Raum, hatte man einen verdammten Steinbruch unter den Schuhen.
»Die blöden Steinchen halten nicht, was, Boss?« Serg hatte Zach zugesehen.
»Ach ja? Hast du das auch schon festgestellt? Du bist ja ein ganz Schneller! Ich habe gerade noch überlegt, ob die Steinchen möglicherweise nicht halten.«
Zum wiederholten Mal fragte sich Zach, wieso er solche Mitarbeiter angeheuert hatte. Der eine besaß einen IQ, der nur knapp über der Raumtemperatur lag. Der andere war auch nicht viel smarter und außerdem langsamer als eine altersschwache Weinbergschnecke. Er sah zu Razzo hinüber, der seit gefühlten zwei Stunden an der Platte eines Tisches herumwischte. Insgesamt gab es davon etwa dreißig. Wenn Razzo in diesem Tempo weitermachte, würde er in etwa sieben Wochen fertig sein. Und damit knapp sieben Wochen nach der Eröffnung des San Pio. Die war für Sonntag geplant. Und Sonntag war morgen.
»Razzo? Kannst du dein Gewiener mal kurz unterbrechen?« Zach hatte beschlossen, etwas zu unternehmen. Und zwar sofort. Wenn Frank sah, dass sich sein heißgeliebtes Mosaik am Eröffnungsabend unter den Füßen seiner Gäste auflöste, wäre der Teufel los. Mit Frank musste man aufpassen. Frank war Mafioso. Ein Capo, einer aus der zweiten Führungsebene, in der Hierarchie gleich unter den großen Bossen. Er hatte zwar keinen Tropfen italienisches Blut in den Adern, tat aber so, als reiche sein Stammbaum zurück bis in die Zeit der Medici. Ständig philosophierte er über Renaissance-Kunst, zitierte Petrarca und schwärmte von Pasta und Pizza. Neulich hatte er eine Reise nach Rom unternommen, mit Vatikan-Abstecher und allem Pipapo. Sogar eine Antiquität hatte er mitgebracht, einen Ring, der angeblich irgendeinem alten Römer gehört hatte und um den Frank ein Bohei machte, als handele es sich um einen Dreikaräter. Das Ding sah aus wie etwas, das man aus einem Kaugummiautomaten ziehen konnte. Frank hatte es in Kunstharz gießen lassen und in eine Art Schrein hinter der Bar des neuen Restaurants platziert.
Zach arbeitete seit etlichen Jahren für Frank. Er wusste, wie unberechenbar der Typ sein konnte. Ein Choleriker. Zach hatte mehrmals mitbekommen, wie Frank seine Handlanger auf Leute losgelassen hatte, die ihm quergekommen waren. Oder etwas nicht so erledigt hatten, wie gewünscht. Meistens passten die Opferbeschreibungen in den Polizeiberichten der New York Post ein paar Tage später exakt auf diese Leute. Auch deswegen mussten sie sich um die Steinchen kümmern. Frank hatte einen Mosaikfußboden in seinem neuen Restaurant gewollt, und sie hatten ihn verlegt. Zwei endlos heiße Monate lang hatten sie ihn verlegt. Drei Mann auf Knien, mit Putzeimern voller Steinchen. Die sich jetzt lösten.
»Ja, Boss?« Razzo reagierte mit der für ihn üblichen Verzögerung. In seinem schwarzen Vollbart hingen noch Reste des Sandwichs vom Frühstück. Eigentlich hieß er Dwight, Dwight Durham, wurde aber überall nur Razzo genannt. Was die Abkürzung für Abrazzo war, Abrazzo wie der dunkle Schwamm, mit dem man Töpfe säubern konnte. Das, was Razzo im Gesicht trug, sah sehr ähnlich aus.
»Ich will, dass du Kleber kaufen gehst. Keramikkleber. Ein paar Tuben.«
Razzo faltete sein Poliertuch zusammen, als bastele er eine Origamifigur. »Ist ok, Boss. Mach ich. Mach ich sofort.«
Was immer sofort bei dir heißt, dachte Zach. Bei Razzo konnte er sich immerhin darauf verlassen, dass keine grenzdebilen Nachfragen kamen wie bei Serg. Razzo tat, was man ihm auftrug. Er machte es halt nur langsamer als andere.
»Boss?«
»Ja, was ist?«
»Wo bekomm ich den denn? Da muss ich rüber nach Brooklyn, oder?«
»Ja.« Zach ahnte, dass das mit dem Kleber eine längere Sache werden würde. Wenn es ums Einkaufen ging, war Manhattans Lower East Side verlorenes Terrain. Natürlich gab es Geschäfte - aber lediglich solche, in denen man T-Shirts für hundert Dollar kaufen konnte oder Kapuzenpullis, auf denen Dinge wie »Get high on the Low Side« gedruckt waren. Wenn man wusste, wo man suchen musste, konnte man auch noch einen oder zwei kleine Lebensmittelläden in diesem Teil New Yorks finden. Die alteingesessenen Handwerksläden aber, die es früher hier an jeder Ecke gegeben hatte, waren längst verschwunden.
»Ja, Brooklyn. Fahr raus zu Workman Pro. Die haben so was.« Zach überlegte. »Und nimm die Subway. Die F. Bis zum Fort Hamilton Parkway. Taxi dauert zu lange.« Zach holte drei zerknitterte Zwanzig-Dollar-Noten aus seiner Hosentasche und gab sie Razzo.
»Ist gut, Boss. Ich beeile mich.« Razzo schlurfte Richtung Ausgang.
Besser wär's, dachte Zach, besser wär's. Er drückte seinen rechten Fuß auf den Boden und hob ihn nach einigen Sekunden wieder hoch. An der Sohle hing ein grünes Mosaiksteinchen.
Dass die Subway-Station am East Broadway geschlossen war, konnte man schon von weitem an den heruntergelassenen Gittern sehen: Bauarbeiten, Umleitungen, das komplette Wochenende lang, bis Montag. Razzo studierte die ausgehängten Hinweiszettel. Es schien, als würden die Gleise repariert, irgendwo auf der Strecke unter dem East River. Er betrachtete den Streckennetzplan. Wenn da »bis Montag« stand - würde die Subway dann tatsächlich schon kurz nach Mitternacht wieder fahren? Also unmittelbar nach Sonntag? Musste wohl so sein, dachte er, sonst würde da ja »bis Montag 6:00 Uhr« stehen oder so etwas. Aber warum schrieben die Leute von der U-Bahn dann nicht »bis Montag, 0:01 Uhr«? So war das ziemlich verwirrend, befand Razzo. Er fischte einen Kaugummi aus der Tasche seines Overalls, wickelte ihn aus dem Papier und sah sich nach einem Abfalleimer um. Sein Handy klingelte. Razzo unterbrach die Suche nach einem Abfalleimer und versuchte, die Nummer auf dem Display des Telefons zuzuordnen: Zach. Wahrscheinlich wollte der Boss fragen, ob er den Kleber schon hatte. Der Boss wusste ja auch nichts von den Subway-Reparaturen. Razzo drückte den Anruf weg.
Als Nächstes überlegte er, was ein Taxi hinüber nach Brooklyn kosten würde: 30 Dollar? 35? Auf jeden Fall würde er dann nicht mehr genug Geld für den Kleber haben, und wieder zur Baustelle musste er ja auch noch. Razzo ging zurück zum Eingang der Subway und betrachtete den Plan mit dem Streckennetz. Die nächste Station für die Linie F war an der Delancey Street: Das waren zwanzig Minuten zu Fuß, mindestens. Und wahrscheinlich würde die Station dort ebenfalls gesperrt sein. Blöd, dachte Razzo. Er kaute seinen Kaugummi. Und sah sich um.
Die Lower East Side an einem Samstagvormittag war der reinste Horror. Seit die Uptown-Typen glaubten, so ein kleiner Ausflug hinunter in den Süden der Insel sei genau das Richtige für den Auftakt ins Wochenende, wimmelte es hier von diesen Schnöseln und ihren Familien. Razzo beobachtete zwei Frauen, die ein paar Schritte entfernt mit ihren Kinderwagen den kompletten Bürgersteig blockierten. Während die anderen Passanten versuchten, irgendwie an dieser Barriere vorbeizukommen, unterhielten sich die beiden lautstark über irgendwelche neue Läden auf der West Side, und wie toll man dort Strampelanzüge kaufen könne, »ganz ohne Schadstoffe, weißt du? Und von Nokita Nokino, der entwirft ja jetzt auch Kinderkollektionen!« Herr im Himmel, dachte Razzo. Schadstofffreie Strampelanzüge! Von irgend so einem Modefuzzi! Bei ihm oben in der Bronx wussten die Leute nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollten, und ein paar Meilen weiter südlich wurde über schadstofffreie Strampelanzüge diskutiert.
Razzo mochte diesen Teil Manhattans nicht. Alles, was südlich der 241. Straße lag, war ihm suspekt. Es machte ihn nervös. In der Bronx war die Welt zumindest noch halbwegs in Ordnung, dachte er, da würden Tussen wie die beiden da vorne aus dem Weg geschoben. Und die Subway-Stationen wurden auch nicht einfach so an einem Samstag geschlossen. Jenn würde denen gehörig die Meinung sagen. Razzos Laune verdüsterte sich, als er an seine Freundin dachte. In den letzten Wochen hatten sie sich kaum gesehen. Jenn arbeitete im Bronx Zoo, als Magnetbahnführerin. Sie saß vorne in einer Art Zug, mit dem die Besucher über die großen Gehege fahren konnten, um Giraffen und Zebras und solchen Viechern auf die Köpfe zu gucken. Jenn fuhr mit ihnen hin und her und erzählte über eine Lautsprecheranlage, was man gerade sehen konnte. Jetzt im Sommer machte sie ständig Überstunden. Wenn sie im Zoo fertig war, ging sie nach Hause an ihren Computer und studierte Geschichte, an einer dieser Online-Universitäten. Jeden Abend. Sagte sie. Razzo vermutete, dass Jenn ihm etwas verheimlichte. Er hatte keine Beweise. Aber so ein Gefühl.
Sein Telefon klingelte. Razzo drückte Zachs Anruf erneut weg. Er überlegte gerade, ob er zu Fuß über die Brücke rüber nach Brooklyn gehen und dort in die Subway steigen sollte, als er den großen Zettel an der Haustür auf der anderen Straßenseite entdeckte. Er wartete, bis sich eine Lücke zwischen...
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