Six Feet Under: Das Ende
01 - Der Überfall
Die Apokalypse hatte die Form der Augen eines Zehnjährigen. Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, es wären die üblichen Dinge gewesen - der Krieg, die Sandstürme, die Zerstörung und natürlich die Regierung mit ihren Lügen und falschen Versprechungen. Aber diese Dinge waren vor meiner Geburt schon da gewesen - sie hatten mich höchstens geprägt, aber nicht verändert. Deshalb hatte meine ganz persönliche Apokalypse die Form der Augen eines Zehnjährigen.
Der Junge stand bloß dort wie zur Salzsäule erstarrt, als ich vom Heulen der Sirenen begleitet und mit der Pistole im Anschlag durch die Gänge des Gefängnisses schlich. Er stand bloß dort, und er war kein Teil meiner Mission.
Ich konnte die Worte meiner Mitstreiter förmlich hören. Lass ihn, Arianna. Der macht uns bloß Probleme. Kleine Jungs aufnehmen sendet keine Signale an Faherty und ihre Regierung. Und vielleicht hatten sie Recht - er war rein zufällig zusammen mit allen anderen befreit worden, als meine Leute in der Zentrale die Generalverriegelungen aller Zellen geöffnet hatten. Die Präsidentin interessierte nicht, ob jemand diesen Jungen aufnahm, sondern es interessierte sie, dass die Rebellen das Gefängnis in Schutt und Asche gelegt und sämtliche einst verhafteten Gleichgesinnten zurück in ihre Reihen geholt hatten.
Ich nahm den Jungen an die Hand und führte ihn in den Innenhof des Gefängnisses. Man mochte mir nachsagen, was man wollte. Rebellin. Mörderin. Verräterin. Monster. Damit konnte ich leben. Aber ich würde ganz sicher nicht die Person sein, die ein Kind in den Händen der Regierung ließ.
Es war Mittag, als wir in den Innenhof traten - schutzlos unter der gnadenlosen Wüstensonne. Das Heulen der Sirenen war hier allerdings erträglicher als in den Fluren. Leise genug, dass man ein kurzes Gespräch führen konnte.
Ich führte den Jungen vorbei an aus Beton Kübeln, in denen vor fünfzig Jahren vielleicht mal Blumen gewachsen waren. Der blaue Himmel über mir war nur ein kleines Rechteck; die Mauern des Gefängnisses waren so hoch, dass sie beinahe auf mich hinunterzukippen schienen. Einige Fenster waren zerbrochen und auf dem Boden lagen Scherben - meine Einheit hatte es wohl mal wieder übertrieben und Teile des Gebäudes gesprengt. War das wirklich nötig gewesen?
»Wie heißt du?«, fragte ich den Jungen, nachdem ich ihm bedeutet hatte, sich auf eine ebenfalls aus Beton gegossene Bank zu setzen.
Er hatte bislang kein Wort gesprochen. Weder, als ich ihn an der Hand genommen hatte, noch, als ich ihn durch die Flure geführt hatte. Vermutlich hatte er einfach Angst vor mir - mit einer Größe von einem Meter dreiundachtzig, meiner Uniform und dem Helm, der mein Gesicht verdeckte, war ich nicht gerade der Typ von Mensch, dem man bedingungslos vertraute.
Jetzt öffnete er den Mund, zögerlich. »Ich weiß es nicht.«
»Du weißt deinen Namen nicht?«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
Verdammter Staat. Was hatten sie ihm angetan? Ich kniete mich vor ihm hin und legte meine Hände auf seine schmalen Schultern. »Hör zu, Junge ohne Namen. Ich hole dich hier raus, aber dafür musst du dich noch ein paar Minuten gedulden. Bleib im Innenhof, bis ich wieder da bin. Hock dich am besten unter die Bank, falls nochmal jemand oben randaliert.« Ich zeigte auf die Scherben am Boden. »Alles wird gut, okay? Keiner wird dir etwas antun.« Weil keiner mehr übrig ist. »Ich bin in fünfzehn Minuten wieder da. Spätestens.«
Er sah mich aus großen blauen Augen an und nickte.
In all den Jahren, die ich bei den Rebellen verbracht hatte, hatte ich mich noch nie so schlecht gefühlt wie in diesem Moment, als ich den Jungen zurücklassen musste. Aber ich war nicht bloß irgendwer, ich war eine von drei Sergeants auf dieser Mission und ich hatte die Verantwortung dafür, dass meine Leute und die Leute aus dem Knast es sicher in die Fahrzeuge schafften.
Es war eigentlich bis auf wenige Ausnahmen nur noch ein Kontrollgang. Die meisten der Gefangenen hatten den Weg zum Ausgang schon gefunden oder waren hingebracht worden - nur wenige waren zu alt oder zu verletzt und brauchten meine Hilfe. Diejenigen, die ich von früher kannte, gehörten leider zumeist der letzteren Kategorie an. Ein schmerzhafter Anblick.
Und trotzdem: Lag die Zukunft unseres Landes nicht eher in den Kindern als in den Alten, die wir zum Ausgang schleppten? Klar, niemand sollte im Knast versauern, aber ich wusste genau, dass jeder einzelne von ihnen den Jungen hierlassen würde, und das erfüllte mich mit einer lebendigen Wut, die ich lange nicht mehr gespürt hatte.
Meinen Ruf hatte ich mir damit nicht verdient. Sergeant Arianna Travino war keine hektische, wütende Rebellin, sondern eine bedachte, geduldige. Eine, die sich Zeit für jede einzelne Person nahm und selbst im Angesicht des Todes immer ruhig und kontrolliert blieb. Ich war selbst in der Planung des Überfalls auf das Gefängnis beteiligt gewesen. Wir setzen ein Zeichen, indem wir unsere Leute befreien. Wir sind Rebellen. Wir halten zusammen. Wir lassen niemanden sterben.
Es war verdammt scheinheilig, so wie alles, was wir taten.
Nach nur fünfzehn Minuten, die sich wie Stunden zogen, kehrte ich in den Innenhof zurück.
»Hey, Junge ohne Namen, ich bin wieder da!« Ich zwang mich, ein gewisses Maß an Fröhlichkeit vorzuspielen.
Der Junge kroch unter der Bank hervor. Er hatte sich Dreck ins Gesicht und in die Haare geschmiert, um sich in der tristen Umgebung zu tarnen. »Du bist zurückgekommen.« Er klang überrascht und irgendwie abweisend.
»Natürlich«, bestätigte ich. In Gedanken war ich schon einen Schritt weiter: Wie würde ich ihn ins Hauptquartier bekommen? Die Tragelast der Helikopter und Wüstenvans war genaustens beschränkt und man würde ihm stets die Erwachsenen vorziehen. Es geht um das Zeichen. Wir haben genug Nachwuchs. Ich konnte die Worte bereits förmlich hören. Da ist es ein Junge mehr oder weniger nicht wert, unseren Plan über den Haufen zu werfen.
»Komm mit«, sagte ich. »Wir müssen hier raus.«
Er machte vorsichtig einen Schritt auf mich zu, dann einen weiteren, in stummem Einverständnis.
Über unseren Köpfen lärmten die abhebenden Helikopter und ich zählte stumm mit, als sie vorbeiflogen. Zwölf. Wenn alles nach Plan gelaufen war, waren zeitgleich auch sechzehn Minivans auf ihren Weg durch die Wüste aufgebrochen. Ich hätte in einem davon sitzen sollen, aber da ich nicht um Punkt eins am Treffpunkt gewesen war, hatten sie wohl vermutet, ich wäre tot.
Beinahe hätte ich gelacht bei dem Gedanken. So einfach konnte mich keiner töten, nicht mit der Vorbereitung, die ich in all den Jahren bekommen hatte. Und nicht mit der kugelsicheren Weste und dem Helm. Es gab letztendlich nur eine Person in der Welt, die die Macht dazu hatte, aber wer das war, daran wollte ich in diesem Moment nicht denken.
Der Junge und ich machten uns auf den Weg durch die Flure. Ich warf immer wieder einen Blick nach hinten. Man wusste nie, wo sich noch jemand versteckt haben konnte, der uns jetzt hinterrücks erschießen wollte. Es war ein Gefühl, das ich seit Beginn unserer Mission kein einziges Mal verspürt hatte: Angst.
»Bleib immer vor mir, ja?«, wies ich den Jungen an. Wenn jemand vor uns auftauchen würde, konnte ich schnell eingreifen. Wenn wir von hinten angegriffen würden, war der Junge schutzlos.
Er nickte stumm.
Ich blickte erneut über meine Schulter zurück. Ein Schatten huschte hinter die nächste Wand, aber ich hatte ihn gerade so noch gesehen. Bloß der Lauf seiner Waffe lugte noch um die Ecke, und im nächsten Moment knallte auch schon der Schuss.
Ich warf mich zu Boden und riss den Jungen mit. Ein dumpfer Schmerz breitete sich an meiner rechten Seite aus - das würde auf jeden Fall einen blauen Fleck geben, aber immerhin steckte keine Kugel zwischen meinen Rippen.
Der Soldat des Staats stand mir jetzt offen gegenüber und natürlich trug auch er schusssichere Kleidung, aber letztendlich waren er und ich gleichermaßen trainiert worden. Wir kannten die Schwachstellen des jeweils anderen.
Der Junge gab ein Wimmern von sich, aber ich ließ mich nicht ablenken. Waffe ziehen, zielen, schießen, bevor der andere es tat.
Blut spritzte gegen die Wand hinter dem Soldaten, als er am Boden zusammensackte. Ich wandte mich hastig ab, rappelte mich auf und zog den Jungen hoch. »Komm, weiter, schnell!«
Wir hasteten nach draußen und standen endlich im Sand vor dem Gefängnis. Hinter uns die Ruinen, vor uns unendliche Weiten der Wüste.
Es war heiß, viel zu heiß. Kurz wägte ich ab, wie wahrscheinlich es war, dass sich jetzt noch lebendige Soldaten im Gefängnis befanden, dann entledigte ich mich meines Helmes und der schusssicheren Weste. Das Tuch, das ich wie eine Art Sturmmaske unter dem Helm getragen hatte, war schweißnass und...