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Im Winter erzählte mir meine Tochter Nora, einige Wochen nach den Abitur-Prüfungen werde ein Fest stattfinden, ein Ball, zu dem auch die Eltern und Verwandten eingeladen seien. Ein paar aus ihrer Schule seien auf diese Idee gekommen, hätten ein Organisationskomitee gegründet und bereits einen Saal in einer ehemaligen Maschinenfabrik gemietet. Es solle etwas Besonderes werden, die Damen im langen Schwarzen, die Herren mit Krawatte, ein Glas Sekt zum Empfang. Danach gemeinsames Essen der Schüler mit ihren Eltern und Verwandten. Hinterher Verabschiedung der Eltern und Tanz der Abiturienten in die Morgendämmerung.
Ich fand es eine schöne Idee, dass die Schüler, die so viele Jahre miteinander verbracht hatten, zum Abschied, bevor sie sich in alle Winde zerstreuten, noch einmal gemeinsam ein Fest feierten und dass sie diesen Moment der Freude, aber auch des Abschiedsschmerzes und der Bangigkeit vor der Zukunft mit ihren Eltern teilen wollten.
Nora kam nun auf die Tischordnung zu sprechen: Es gebe in dem Saal nur große Tische à maximal zwölf Personen, und das Komitee habe darum gebeten, dass jeder Schüler bis Ende Februar mitteile, mit wem er oder sie an einem Tisch sitzen wolle.
»Na mit wem wohl?«, sagte ich.
Nach meiner Scheidung von Bea vor sechs Jahren war ich von Basel nach Hamburg gezogen, vom Rhein an die Alster - ich wechselte die Flüsse, wie es ein Freund von mir nannte. Das klang besser als Frau und Kinder verlassen. Nora und Alex, mein Sohn, zwei Jahre älter als Nora, blieben bei Bea in Basel, was nicht mein Wunsch war, aber alles andere wäre unrealistisch gewesen, aus schulischen Gründen und wegen ihrer Freunde, sie wollten nicht aus ihrem Leben herausgerissen werden, nur weil der Vater die Flüsse wechselte. Bea und ich verhandelten über die Besuchszeiten, bei dem Wort sah ich jedes Mal weiße Kacheln vor mir, einen Wärter in Filzpantoffeln und eine Luke, die mein Kind öffnete, damit ich mit ihm sprechen konnte. Ich sollte monatlich für zwei Tage nach Basel kommen, um die Kinder zu sehen. Allerdings wollte Bea nicht, dass ich in der ehemaligen gemeinsamen Wohnung übernachtete. Das machte meine Besuche kompliziert und unbequem. Ich übernachtete bei Freunden auf dem Schlafsofa oder auf einem Futon in deren Arbeitszimmer. Ich fragte mich, warum sie eigentlich alle kein Gästezimmer hatten, und sie fragten sich, wann ich endlich wieder ging.
Meine ersten zwei Besuche verliefen so, dass Nora sich irrsinnig freute, mich zu sehen, während Alex mir nur kurz die Hand schüttelte und dann irgendetwas vorhatte, Fußball mit Freunden, Hausaufgaben, für den Nachbarn Kaminholz hacken. Bea behandelte mich zunächst freundlich, sozusagen mit der Restwärme, die von unserer Beziehung übrig geblieben war. Wenn ich Nora besuchte, überließ sie uns das Wohnzimmer und ging längere Zeit in die Stadt, um einzukaufen oder sich mit ihrer Freundin zu treffen, damit Nora und ich allein sein konnten. Nora war zwölf, und sie versuchte, mich in der kurzen Zeit, die uns blieb, mit ihrem Leben und den Veränderungen, die sie durchlief, vertraut zu machen. Aber es war schwierig und bald sogar quälend, mit Nora auf dem Sofa zu sitzen, auf dem wir früher als Vater und Tochter gesessen hatten und jetzt als Besucher und Besuchte, stets saß der Wärter mit den Filzpantoffeln zwischen uns und horchte. Über allem lag eine Traurigkeit, die stärker wurde, je näher der Abschied rückte.
Gleichzeitig versuchte ich, Alex aus seinem Zimmer zu locken, denn er verbat mir den Zutritt. Einmal, im Sommer, saß er mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen im Garten auf einem roten Klappstuhl und drehte den Kopf weg, als ich ihm alles zu erklären versuchte. Je länger ich redete, desto hartnäckiger schwieg er, und in dieses Schweigen hüllte er sich bald vollständig ein, es wurde sein Zaubermantel, mit dem er sich unsichtbar machte.
Bei meinem dritten Besuch bekam ich ihn nicht zu Gesicht. Bea fand es nun plötzlich nicht mehr ideal, dass ich mich mit Nora in der Wohnung traf, wegen Alex, wie sie sagte. Ja, und auch für sie sei es eine Belastung. Es sei ihr lieber, wenn ich Nora irgendwo in der Stadt treffe.
Es trat also der denkbar schlimmste Fall ein: Nora besuchte mich im trostlosen Zimmer eines Businesshotels. Wir tranken Orangensaft aus der Minibar und verließen das Zimmer, um den Tag im Kino, im Wald bei Spaziergängen, in Restaurants zu verbringen; wir saßen bis spät in die Nacht auf dem Rand eines städtischen Brunnens.
Dass beide Kinder, wie anfänglich geplant, mich in den Ferien jeweils in Hamburg besuchten, wurde noch vor den ersten Ferien illusorisch. Nora kam, aber Alex nicht. Ich zeigte Nora die schönsten Plätze Hamburgs, aber die Stadt war ihr egal, sie wollte mit mir zusammen sein. Inzwischen hatte ich mich in eine Hamburgerin verliebt, in Johanna, die gleichfalls geschieden war und zwei Kinder hatte, den kleinen Max, der damals erst drei Jahre alt war, und Tobias, altersgleich mit Nora. Es kam aber noch zu keinem Treffen der Kinder. Johanna hatte mir ihre Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgestellt und ich ihr Nora nicht. Wir wollten zuerst sicher sein, dass das zwischen uns etwas Festes war. Als wir uns eines Tages sogar sehr sicher waren, lud Johanna mich und Nora zum Kuchen ein, und so lernten alle sich kennen. Es war eine freundliche, helle, heitere Begegnung. Die Kinder mochten sich auf Anhieb. Nora fand Johanna hübsch und nett, so wie sie Hamburg interessant fand - es war ihr im Grunde egal, dass und in wen ich mich verliebt hatte, Hauptsache wir beide hatten es schön.
Johanna und ich atmeten auf. Es hätte ja leicht anders kommen können: dass die Kinder sich nicht verstehen, dass ihre Kinder mich ablehnen und Nora sie. Wir planten nun eine gemeinsame Ferienreise, die uns nach Australien führen sollte. Diese Reise mit Kind und Kegel, also mit eigenen und fremden Kindern und Kegeln, schmiedete uns zu einer Art Familie zusammen, zu einer Ferien- und Freizeitfamilie - mehr strebten Johanna und ich nicht an. Zusammenziehen und dann zu fünft in einer Wohnung zu leben war uns zu riskant, es barg zu viele Anlässe für Schwierigkeiten, während wir andererseits in der Gründung einer Flickenfamilie keine Vorteile sahen. Doch das waren ohnehin nur theoretische Überlegungen, denn Nora wohnte ja noch in Basel.
Es brach mir jedes Mal das Herz, wenn sie sich beim Abschied auf dem Hamburger Flughafen mit Tränen in den Augen noch einmal zu mir umdrehte und tapfer winkte. Danach fuhr ich allein in meine Wohnung, sah, dass im Waschbecken ein lilafarbenes Haarband von ihr lag, und weinte.
So gern ich sie bei mir gehabt hätte: Wir sprachen nie über die Möglichkeit, dass sie zu mir zog. Nora liebte ihre Mutter und Alex, sie wollte nicht vor eine schmerzliche Entscheidung gestellt werden. Aber ihre Gefühle veränderten sich mit den Umständen. Wenn sie nach einem Besuch bei mir wieder in Basel war und die langen Wochen bis zum nächsten Wiedersehen vor ihr lagen, genügte die kleinste Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, um ihren Wunsch, bei mir zu leben, größer werden zu lassen als ihre Angst davor, ihre Lieben zu verlassen. Als sie dreizehn wurde, nahmen naturgemäß ihre Querelen mit der Mutter zu. Bea beklagte sich in Mails bei mir, dass sie die täglichen Schwierigkeiten mit einer Pubertierenden zu bewältigen habe und in Noras Augen deshalb als Elternteil unattraktiver werde, während in den Ferien in Hamburg für Nora alles neu und aufregend sei und ich es mir leisten könne, beide Augen zuzudrücken, wenn sie Schwierigkeiten mache. Tatsächlich war dies für Bea eine Situation, in der sie nur verlieren konnte. Ich versicherte ihr, Nora nicht nach Hamburg locken zu wollen. Bei ihrem nächsten Ferienbesuch, als wir bei einem Italiener an der Kennedybrücke Pilzpizza aßen, sprach Nora es zum ersten Mal aus: Sie wolle zu mir ziehen. Sie begründete es damit, die Pizzas seien hier einfach besser. Ich versuchte nicht, es ihr auszureden.
Es begannen die Verhandlungen mit Bea über die endgültige Teilung der Familie, wie sie es nannte. Doch sie willigte ein. Ich glaube nicht, dass sie dies getan hätte, wenn Nora und mir nicht ein Glücksfall zu Hilfe gekommen wäre: Nora bestand nämlich das Probesemester im Gymnasium in Basel nicht. Bea war es wichtig, dass Nora das Abitur machte. Noras Leistungen, schrieb sie mir, seien natürlich auch aufgrund der familiären Situation so schlecht gewesen. Damit hatte sie sicher recht, und ich beeilte mich, Bea eine gute Schule in Hamburg zu präsentieren, die Lichtenberg-Schule. Da der Lehrplan deutscher Gymnasien weniger straff ist als der schweizerischer, konnte Bea in Noras Wegzug trotzdem etwas Gutes sehen: In Deutschland würde Nora das Gymnasium schaffen.
Ich mietete eine größere Wohnung, kaufte eine Saftpresse, damit das Kind Vitamine bekam, und dann fuhr ich zum Flughafen, und die Milchglastür öffnete sich, und heraus kam Nora mit ihrem roten Koffer.
Von nun an aßen Johanna, der kleine Max und Tobias immer dienstagabends bei uns, jeden Montag aßen wir bei ihnen. Wir nannten sie die Anderen. Diese Essen war ungezwungen in dem Sinn, dass wir nicht Familie sein wollten. Nora und ich waren wir zwei, und sie waren eben die Anderen. Wenn Grübchen, wie Max genannt wurde, frech war, wies Johanna ihn zurecht, und wenn Nora beim Tischabräumen nur so tat also ob, wies ich sie zurecht. Außer...
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