- DER BLUTIGE WALD -
"Dass ihr mir ja nicht im Dunkeln nach Hause kommt, Bernard, Nicolas, Olivier! Hört ihr? Und kommt erst gar nicht auf die Idee, im Wald herumzulaufen!" rief die Großmutter mit einer Mischung aus Sorge und Strenge in ihrer Stimme. Aus der Ferne antworteten die Kinder mit einem kichernden "Ja, Grand-mère, wir werden nicht weit gehen". Die Großmutter seufzte und murmelte leise vor sich hin: "Als ob ich euch nicht kennen würde", und schob dabei die Katze weg, die neugierig um den Topf mit frisch gemolkener Milch schlich. "Still, still, kleine Katze, du könntest später etwas verpassen, aber leg dich jetzt nicht mit mir an", sagte sie zu dem Tier, während sie den Topf sicherheitshalber mit einem Stück Stoff zudeckte. Die Hühner im Hof gackerten laut, als ob sie ihre Aufmerksamkeit forderten. "Ich komme ja schon, mit euch hat man wirklich keine Ruhe.", rief die Großmutter und machte sich mit eiligen Schritten und einer Schüssel voller Maiskörner auf den Weg, um das ungeduldige Federvieh zu füttern.
Hinter dem Haus graste eine Kuh auf der Wiese, während ein weißer Schäferhund mit einem kleinen schwarzen Fleck am Ohr spielerisch einem Schwarm bunter Schmetterlinge nachjagte. Es war ein Tag wie jeder andere im Hochsommer. Die goldenen Strahlen der Mittagssonne legten sich sanft und schläfrig über das Blockhaus, über den weiten Hof und die umliegenden Maisfelder, deren volle Körner vom flüsternden Wind gestreichelt wurden. Nichts deutete auf das nahende Unheil hin, das sich hinter dem blendend hellen Horizont zusammenbraute. Niemand ahnte, dass in wenigen Stunden ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus zusammenbrechen und nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Eine Insektenschwarm stieg aus dem hohen Gras auf und begann, hungrig an deren verschwitzten Gliedmaßen zu saugen. "Mir reichts", knurrte Olivier unzufrieden, während sich auf seiner sommersprossigen Nase kleine Schweißperlen bildeten. "Ich gehe zurück", sagte er und fasst sich nervös an den Nacken, um die Insekten zu verscheuchen. "Euer blutiger Wald und das verfluchte Haus sind nur ein Märchen, um kleine Kinder zu erschrecken", fügte er hinzu, als plötzlich ein Holzschwert vor seinen Augen erschien. "Na los, du Feigling, Nicolas und ich schaffen das auch ohne dich!", rief Bernard, während er das Schwert vor dem Gesicht seines Freundes hin und her schwang. "Na gut, dann gehe ich eben", murmelte der Junge und machte sich auf den Rückweg.
Nicolas schaute auf den sich entfernenden Rücken ihres Freundes, dann ließ er seinen Blick über die dunklen Schatten des Waldes gleiten, der sich bedrohlich vor ihnen ausbreitete. Das Laub der Bäume wirkte düster, und das Knacken der Äste sowie das Rascheln der Blätter schienen sie vor einem Vorhaben zu warnen, das vor wenigen Stunden noch ein aufregendes Abenteuer war, jetzt aber ein mulmiges Gefühl in Nicolas' Magen auslöste. Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto stärker wurde sein Unbehagen. Er glaubte, seltsame Geräusche zu hören, etwas, das mehr war als nur das Flüstern des Windes. Diese Geräusche verwandelten sich in leise, unheimliche Stimmen, die in seinen Ohren flüsterten. Doch Bernard, der fest entschlossen war, die Wahrheit über den Spuk aus der Geschichte ihrer Großmutter herauszufinden, dachte nicht ans Umkehren. Stattdessen führte er seinen Bruder mit unerschütterlicher Entschlossenheit weiter in die finstersten Ecken des Waldes, fest entschlossen, seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen.
Nicolas zuckte zusammen, als das hartnäckige Picken einer kleinen Drossel in den hohen Tannen über ihnen erklang. "Sei doch nicht so ein Angsthase", spottete sein älterer Bruder, obwohl ein Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme mitschwang. "Ich habe keine Angst, Bern, aber Großmutter wird uns sicher die Ohren langziehen, wenn sie erfährt, wo wir waren", sagte Nicolas und kratzte sich am Ohr, als könne er bereits die strenge Berührung ihrer Finger spüren. "Nur noch einen kleinen Moment", flüsterte Bernard und tippte sich mit dem Zeigefinger an die rechte Schläfe. "Wir sind nicht mehr weit weg, ich spüre es."
Nicolas kniff die Augen zusammen und verscheuchte eine Mücke, die hartnäckig vor seinem Gesicht herumschwirrte. "Ich weiß nicht, Bern..." Doch plötzlich hielt Bernard abrupt an, und Nicolas stieß gegen ihn. "Was ist?", fragte er, seine Stimme vor Anspannung leicht zitternd. "Wir haben es gefunden", flüsterte Bernard, seine Stimme aus der Dunkelheit vor ihnen kommend.
Nicolas lugte vorsichtig hinter Bernards Rücken hervor, und sofort stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf, als hätte ein eisiger Finger ihn berührt. Vor ihnen erstreckte sich eine große Lichtung, in deren Mitte ein dreistöckiges Haus thronte. Der Boden war mit Laub bedeckt, das die Farbe von getrocknetem Blut hatte. "Was zum Teufel soll das bedeuten?", stammelte Bernard, sein Mund weit aufgerissen, während Schweißperlen über seine Stirn liefen. "Was meinst du?", entgegnet Nicolas, der vergeblich versuchte, so erwachsen zu klingen wie sein älterer Bruder. Ein schweres Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn, und seine Füße folgten automatisch den Schritten seines Bruders, als sie auf das kleine Metalltor zugingen, das dicht mit Ranken bewachsen war.
"Wir haben doch Sommer, da sollten Blätter nicht so aussehen", sagte Bernard und deutete auf den schweren Teppich aus Laub, der sich von der Lichtung bis zur Haustür zog. "Und das Haus..." Er hielt inne und runzelte die Stirn. "Es ist nicht annähernd so alt, wie Großmutter es erzählt hat, oder?"
"Bern, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, noch näher heranzugehen." Der zierliche Körper des Jungen zitterte. "Was, wenn das Haus jemandem gehört, oder..."
"Oder es wird von dunklen Mächten bewohnt, wie in der Geschichte", vollendete Bernard grimmig den Satz und schwang sein Holzschwert gegen die verdorrten Grashalme. "Ja", flüsterte Nicolas. "Wir sollten nicht hier sein. Lass uns nach Hause gehen." Er griff nach der Hand seines Bruders, in der Hoffnung, dass Bernard ihm folgen würde, sich umdrehen und mit ihm einfach zurückgehen würde - so weit weg von diesem unheimlichen Haus wie nur möglich.
Doch Bernard löste sich von ihm. "Das ist doch nur eine Geschichte, Nicolas. So etwas gibt es nicht. Du bist ein Feigling wie Olivier, aber ich nicht", sagte er und warf seinem Bruder einen verächtlichen Blick zu, während er den Griff seines Holzschwertes fester packte. Entschlossen schritt er auf das Tor zu. Trotz der warnenden Stimmen in seinem Kopf folgte Nicolas seinem Bruder, er hatte keine andere Wahl. Sein Herz klopfte warnend, und seine Stirn war feucht von kaltem Schweiß. Je näher sie dem Haus kamen, desto stärker spürte Nicolas eine seltsame Anziehungskraft, die sie zum Eingang zog.
Gemeinsam gelang es ihnen, das überwucherte Tor zu öffnen. Der Himmel schien sich trotz der Lichtung weiter zu verdunkeln, und der Wald um sie herum wurde auf eine unheimliche Weise still. Die Jungen spürten, wie eine seltsame, ungewohnte Energie um sie herum entstand. Sie sahen sich unsicher an. "Bern, bitte", flehte Nicolas ein letztes Mal, seinen Bruder an. Doch dann hörten sie ein leises Flüstern in der Luft. Es klang wie eine Aufforderung. Bernard erschrak, seine Sicht verschwamm, und das Holzschwert glitt ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen, raschelnden Plumpsen auf dem Boden. "Komm näher, zu mir", flüsterte die Stimme leise, aber eindringlich.
Auch Nicolas spürte ein unheimliches Ziehen in seinem Kopf, als ob jemand versuchte, in sein Bewusstsein einzudringen und die Kontrolle über ihn zu übernehmen. Seine Muskeln zitterten, während er sich verzweifelt gegen dieses fremde, unerwünschte Gefühl wehrte. Doch er wusste, dass er den Kampf verlor, als er unwillkürlich einen Fuß vor den anderen setzte und sie unaufhaltsam in Richtung des Hauses gingen. Mit aller Kraft starrte Nicolas seinen Bruder an, der wie eine mechanische Marionette ohne eigenen Willen vorwärtsging. "Wir hätten auf Großmutter hören sollen", murmelte Nicolas bitter und richtete seinen Blick auf das, was vor ihnen lag: das große, bedrohliche Haus, das sich dunkel und mächtig vor ihnen erhob.
Das Haus war majestätisch, so etwas hatte Nicolas noch nie gesehen. Ihr kleines Holzhäuschen wirkte daneben wie eine verblasste Erinnerung, schwach und gebrechlich im Vergleich zu diesem eindrucksvollen Bauwerk. Der Boden, eine Mischung aus Holz und Stein, schien fast unberührt, wären da nicht die Pflanzen, die ihn bis zur Höhe des dritten Stocks fest umklammerten. Die Fenster im ersten Stock waren hoch und schmal. Nur die verwitterte weiße Farbe der Fensterrahmen verriet, dass das Haus schon seit langer Zeit dort stand und den Elementen ausgesetzt war. Dennoch ging eine unheimliche Macht von ihm aus - voller Geheimnisse, die sich hinter seiner Fassade verbargen. Ein hartnäckiger Gedanke drängte sich in Nicolas' Bewusstsein: "Dieses Haus ist alt, sehr alt."
Doch ehe sie es sich versahen, wurde alles um sie herum plötzlich dunkler ... und stiller ... als ob das überhaupt möglich wäre. Diese unnatürliche Stille überkam sie in dem Moment, als sie das Tor öffneten und die Lichtung betraten. Doch diese Stille war anders, sie war durchdrungen von einer unheilvollen Vorfreude. Die Luft um sie herum zitterte leicht und erfüllte ihre Nasen mit einem schrecklichen Geruch - dem Geruch von Verwesung, dem Geruch des Todes. Die Jungen spürten, wie eine geheimnisvolle Energie durch ihre Körper strömte, die ihnen plötzlich jede Kraft raubte. Es war, als...