Schweitzer Fachinformationen
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II.Konzepte, Theorien, Kontroversen: Revolutionsforschung im Überblick
1.Entwicklungen und Konjunkturen
Im Prinzip ist es nicht unproblematisch, einen Überblick über Modelle und Konzepte der Revolutionsforschung einer Betrachtung der frühneuzeitlichen Revolutionen voranzustellen und damit zu suggerieren, dass sich Theorien und Konzepte losgelöst von Ereignissen und ihren zeitgenössischen Deutungen und Legitimationen erörtern ließen. Es werden zudem zwangsläufig Zäsuren gesetzt, indem eine systematische Revolutionsforschung erst der Moderne seit etwa 1800 zugeordnet wird. Damit wird aber letztlich nur jene Zäsur 1789 fortgeschrieben, die jeder teleologischen Fortschrittsgeschichte der Moderne zugrunde liegt und die es eben deshalb kritisch zu hinterfragen gilt, die also gerade nicht a priori gesetzt werden sollte.
Im Folgenden wird trotz dieser Problematik ein solcher Weg eingeschlagen, der sich einerseits aus pragmatischen Gründen anbietet, aber auch analytische Vorteile bereithält. Denn erstens erleichtert uns diese Vorgehensweise die Trennung zwischen Betrachtungszeitraum und dem Zeitraum wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Phänomenen der Frühen Neuzeit. Das heißt, alles, was vor 1850 liegt, kann grob als Gegenstand dieses Buchs betrachtet werden, alles danach als wissenschaftliche Analyse. Das fällt zudem zusammen mit der Herausbildung moderner akademischer Disziplinen. Zweitens lässt sich nur auf diese Weise der Anspruch der Reihe einlösen, wissenschaftliche Modelle und Konzepte vorab zu behandeln und als "Werkzeugkasten" für die weitere Beschäftigung mit der Thematik bereitzustellen, während sich die jeweils zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster nur im Kontext der je aktuellen Debatten und Konfliktkonstellationen beschreiben lassen.
Das heißt freilich nicht, dass nicht auch die moderne Revolutionsforschung in ihren jeweiligen zeitgenössischen Kontexten zu verorten wäre. Schaut man sich die Konjunkturen der Revolutionsforschung an, so wird deutlich, dass das Interesse der jeweiligen Gegenwart immer mitschwingt. Zeithistorische Darstellungen einzelner revolutionärer Ereignisse gab es schon früh. Sie waren eingebettet in die Aushandlungsprozesse über die Geschehnisse selbst und damit Teil einer unmittelbar einsetzenden Erinnerungskultur. Alexis de Tocquevilles "L'Ancien Régime et la Révolution" von 1856 ist Teil einer solchen Erinnerungskultur und einer anhaltenden gesellschaftlichen Debatte über die Französische Revolution, gilt aber zugleich als eine der ersten umfassenden und systematischen Abhandlungen über das Thema. In diesem Sinne markiert der Text vielfach den Beginn der modernen Revolutionsforschung.1 Auch die Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels stellen Analysen vergangener Revolutionen dar und sind zugleich Überlegungen zu der prognostizierten kommenden Revolution und somit Teil einer laufenden gesellschaftlich-politischen Debatte. Die Russische Revolution, die Erfahrungen mit dem NS-Regime in Deutschland, mit dem Stalinismus und dem beginnenden Kalten Krieg hielten das Thema im Bewusstsein und waren ein wesentlicher Impetus für die frühe sozialwissenschaftliche Protest- und Revolutionsforschung in den USA in den 1950er Jahren. Forschende der Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und Medienwissenschaft begannen, sich mit Massenbewegungen zu beschäftigen. Der Eindruck der studentischen Protestbewegungen um 1968 trug in der Folge wesentlich zum Wiederaufleben, aber auch zur Transformation der Protest- und Revolutionsforschung bei. Eine Reihe von bis heute vielzitierten 'Klassikern' der systematischen sozialwissenschaftlichen Revolutionsforschung wurde in dieser Phase erarbeitet. Als Ende der 1980er Jahre, insbesondere mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Osteuropa die Rede vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) die Runde machte und sich die Vorstellung etablierte, dass Revolutionen obsolet geworden seien und der Vergangenheit angehörten, tat dies auch der Revolutionsforschung Abbruch. In denselben Kontext gehört die Diagnose, mit dem Verschwinden der 'realsozialistischen' Systeme sei das Ende der Utopie gekommen.2 Erst die in den 2000er Jahren aufgekommenen neuen Protestbewegungen der Globalisierungskritik sowie seit 2010/11 die Umstürze des sogenannten Arabischen Frühlings, der mit den Maidan-Protesten von 2013/14 assoziierte demokratische Aufbruch in der Ukraine und die Klimaproteste der Gegenwart scheinen zu einem neuen Interesse am Thema Revolution geführt zu haben. Jedenfalls hat in den letzten Jahren die Diskussion über Revolutionen wieder zugenommen und neue Impulse erhalten.
Auch innerhalb der Geschichtswissenschaft spielten die Debatten der jeweiligen Gegenwart stets eine wichtige Rolle. Gleichwohl blieben einzelne Revolutionen im Zentrum des Interesses, und die Konjunkturen waren nicht nur von politischgesellschaftlichen Aktualitäten bestimmt, sondern auch vom Zyklus der Jubiläen. Lange überwogen dabei narrative Darstellungen, die Revolten und Revolutionen geradezu in die Nähe von Naturereignissen rückten. Leopold von Ranke hatte etwa den Bauernkrieg von 1525 in seiner "Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839) als "größte[s] Naturereignis des deutschen Staates" bezeichnet, als "Ungewitter der Tiefe". Es seien die "elementaren Kräfte" gewesen, die sich erhoben hätten.3 Der Aufstand der Bauern erschien hier als eine Art Naturkatastrophe, als kontingentes, nicht vorhersagbares und nur schwer aus den allgemeinen Entwicklungen heraus erklärbares Ereignis. Zugleich verband sich eine solche Wahrnehmung aber oft auch mit einer dezidierten Akteursperspektive. Je nach Sichtweise waren Aufstände und Revolten das fehlgeleitete Machwerk einzelner Rädelsführer oder auch das heroische Handeln individueller Akteure. Solche Zuspitzungen auf einzelne Handlungsträger finden sich in Revolutionsdarstellungen immer wieder. Lange galt insbesondere Oliver Cromwell als Prototyp des machtgierigen Verschwörers, der um seiner eigenen Interessen willen ein ganzes Land ins Chaos gestürzt habe. Umgekehrt konnten Akteure wie George Washington als selbstlose Retter und Helden inszeniert werden. Mit Blick auf die Französische Revolution überwogen vielfach die Konspirationsthesen, die insbesondere die Verfechter der Aufklärung für den Ausbruch der Revolution verantwortlich machten. Auch Edmund Burke entfaltete in seiner Kritik an der Französischen Revolution eine solche Perspektive, indem er Irreligiosität, lockeren Moralvorstellungen sowie einer 'falschen Philosophie' und ihren Verfechtern die Schuld für die Revolution gab.4 Zumeist dienten solche Zuschreibungen einer Verurteilung der jeweiligen Ereignisse. Sie waren entweder Katastrophen, die plötzlich über die Menschen hereinbrachen oder das Werk einzelner Verschwörer, die ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl nur ihre eigenen sinistren Interessen verfolgten. Auf der anderen Seite stand die 'romantische Schule' mit Historikern wie Jules Michelet, die die Revolution als heroisches Handeln des 'Volkes' glorifizierte.5
Eine systematische und vergleichende Revolutionsforschung hat sich in den historischen Disziplinen hingegen relativ spät entwickelt. Der Fokus lag hier - entsprechend dem traditionellen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft - zumeist stärker auf der Erforschung einzelner revolutionärer Ereignisse, allen voran der Französischen Revolution. Aber auch die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, die Amerikanische Revolution, die 1848er Revolutionen, die Russische Oktober- respektive Novemberrevolution6 sowie die Chinesische Revolution fanden vielfache Aufmerksamkeit der historischen Fachdisziplinen. Dabei lieferte die Geschichtswissenschaft einerseits das empirische Datenmaterial für die generalisierende sozial- und politikwissenschaftliche Forschung, andererseits übernahm sie mehr oder weniger gründlich die theoretischen Modelle aus den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, um ihre konkreten Einzelbefunde zu interpretieren. Die Arbeitsteilung schien also klar zu sein: Die Politik- und Sozialwissenschaften waren für die systematische und generalisierende Revolutionsforschung zuständig, die Geschichtswissenschaft konzentrierte sich auf Einzelereignisse oder einzelne Zeitabschnitte. Dagegen gibt es gute Gründe, auch aus einer historischen, insbesondere kulturhistorischen Sicht das Phänomen des Revolutionären übergreifend in den Blick zu nehmen und dabei die spezifischen Kompetenzen der historischen Wissenschaften einzubringen. Zu den großen generalisierenden Entwürfen wird man dabei vielleicht nicht gelangen, und hier ist möglicherweise ohnehin Skepsis angebracht. Aber Theorien mittlerer Reichweite lassen sich durchaus aus einer dezidiert historischen Perspektive gewinnen.
Um dies zu erreichen, ist es jedoch notwendig, sich zunächst einmal die Ansätze, Theorien und Modelle der systematischen Revolutionsforschung wie auch der geschichtswissenschaftlichen Einzelforschung anzuschauen. Erst auf...
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