III.
Inhaltsverzeichnis Hermann Heideck wohnte in einem Dak Bungalo, einem jener von der Regierung unterhaltenen Gasthäuser, die dem Reisenden zwar Unterkunft aber weder Betten noch Verpflegung bieten. Als er aus dem Camp dahin zurückkehrte, stand sein indischer Diener Morar Gopal in der Tür, um den Herrn zu empfangen und teilte ihm mit, daß ein neuer Gast mit zwei Dienern angekommen wäre. Da dieses Dak Bungalo geräumiger war als die meisten anderen, so hatten die Neuangekommenen Platz, und Heideck brauchte nicht, wie sonst üblich, als älterer Gast dem später eingetroffenen zu weichen.
"Was für ein Landsmann ist der Herr?" fragte er.
"Ein Engländer, Sahib!"
Heideck trat in sein Zimmer und ließ sich am Tische nieder, auf dem neben den beiden mattleuchtenden Kerzen eine Whiskyflasche, einige Flaschen Sodawasser und das Zigarettenkistchen standen. Er war nachdenklich und übel gelaunt. Die aufregende Szene in der Offiziersmesse war ihm persönlich nahe gegangen. Nicht um des Kapitän Irwin willen, der ihm seit dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft in hohem Maße unsympathisch gewesen war, sondern einzig wegen der schönen jungen Frau des leichtsinnigen Offiziers, an die er sich von ihren wiederholten gesellschaftlichen Begegnungen her gut genug erinnerte. Keine der anderen Offiziersdamen - und es waren sehr hübsche und liebenswürdige unter ihnen - hatte einen so tiefen und nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht, wie Mrs. Edith Irwin, deren persönlicher Liebreiz ihn in ebenso hohem Maße gefesselt hatte, wie ihre ungewöhnliche Klugheit ihn in Erstaunen setzte. Die Vorstellung, daß dieses anmutige Wesen mit unzerreißbaren Ketten an einen brutalen und ausschweifenden Menschen vom Schlage Irwins gefesselt war, und daß ihr Mann sie vielleicht eines Tages mit sich hinabriß in sein unausbleibliches Verderben, bereitete ihm eine schmerzhafte Empfindung. Er hätte so gern irgend etwas für die unglückliche junge Frau getan. Aber er mußte sich sagen, daß es dazu für ihn, den Fremden, der ihr nichts als eine oberflächliche Bekanntschaft war, keine Möglichkeit gab. Der Kapitän wäre vollkommen berechtigt gewesen, jede unberufene Einmischung als eine unerhörte Dreistigkeit zurückzuweisen. Und auf welche Art hätte er hier helfend eingreifen können?
Ein Lärm, der sich plötzlich im Nebenzimmer erhob, riß Heideck aus seinen unerfreulichen Grübeleien. Er hörte lautes Schelten und ein klatschendes Geräusch, wie wenn Peitschenhiebe auf einen nackten menschlichen Körper fallen. Eine Minute später wurde die Verbindungstür aufgerissen und ein nur mit Hüftschurz und Turban bekleideter Inder stürzte in das Zimmer, als ob er hier Schutz vor seinem Peiniger suchen wollte. Ein lang gewachsener, ganz in weißen Flanell gekleideter Europäer war ihm auf den Fersen und ließ unbarmherzig seine Reitgerte auf den bloßen Rücken des wehklagenden Mannes niedersausen. Die Anwesenheit Heidecks genierte ihn dabei offenbar nicht im mindesten.
Auf den ersten Blick hatte der junge Deutsche erkannt, daß sein Nachbar nicht, wie der Diener ihm gesagt hatte, ein Engländer sein konnte. Sein auffallend schmales, fein geschnittenes Gesicht, seine eigentümlich geschlitzten schwarzen Augen und sein weicher dunkler Bart hatten viel mehr von dem sarmatischen als von dem charakteristisch angelsächsischen Typus.
Der Mann gefiel ihm seinem Aeußeren nach nicht übel, sein Betragen aber konnte er unmöglich ruhig hinnehmen. Indem er zwischen ihn und den Mißhandelten trat, fragte er sehr energisch, was dieser Auftritt bedeuten solle.
Lachend ließ der andere den eben wieder zum Schlage erhobenen Arm sinken.
"Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr," sagte er in fremdartig klingendem Englisch, "ein sehr guter Boy, aber er stiehlt wie ein Rabe und muß von Zeit zu Zeit seine Prügel haben. Ich weiß, daß er irgendwo an seinem Leibe die fünf Rupien versteckt haben muß, die mir heute wieder fehlen."
Damit packte er, als hielte er die gegebene Auskunft für vollkommen ausreichend, seine Handlungsweise zu erklären, den braunen Burschen von neuem und riß ihm mit raschem Griffe den Turban vom Kopfe. Aus dem weißen, rotgesäumten Tuche rollten klirrend ein paar Silberstücke über die Steinplatten hin. Zugleich aber war auch ein größerer Gegenstand vor Heidecks Füße niedergefallen. Er hob ihn auf und hielt ein goldenes Zigarettenetui in der Hand, auf dessen Deckel ein Wappen mit einer Fürstenkrone eingraviert war. Als er es dem Fremden überreichte, verbeugte sich dieser dankend und entschuldigte sich wie ein Mann von der besten Gesellschaft. Der Inder aber nahm die Gelegenheit wahr, sich mit einigen affenartigen Sprüngen aus dem Staube zu machen.
Der Anblick des Wappens auf dem Zigarettenetui hatte in Heideck das Verlangen geweckt, diesen gewalttätigen Nachbar näher kennen zu lernen. Als hätte er die sonderbare Art seines Eintritts ganz vergessen, fragte er artig, ob er den ihm vom Zufall bescherten Hausgenossen zu einer Zigarre und einem Abendtrunk einladen dürfe.
Mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit nahm der andere die Aufforderung an.
"Sie reisen auch in Geschäften, mein Herr?" fragte Heideck. Und da er eine bejahende Antwort erhielt, fügte er hinzu:
"Wir wären also Kollegen. Sind Sie mit Ihren hiesigen Erfolgen zufrieden?"
"O, es könnte besser gehen. Man hat zuviel Konkurrenz!"
"Baumwolle?"
"Nein. Bronzewaren und Seide. Habe von Delhi auch wunderbare Goldarbeit mitgebracht."
"Dann stammt Ihr Zigarettenetui vermutlich auch aus Delhi?"
Die geschlitzten Augen des anderen streiften ihn mit einem forschenden Blick.
"Mein Zigarettenetui? Nein! - Arbeiten Sie vielleicht in Fellen, Herr Kollege? Haben Sie Kaschmirziegen?"
"Ich habe alles. Mein Haus arbeitet in allem."
"Sie kommen nicht von Kalkutta?"
"Nein, nicht von Kalkutta."
"Schlechtes Wetter da. All mein Leder ist verdorben."
"Ist es so feucht dort?"
"Dampfbad, sage ich Ihnen, veritables Dampfbad."
Heideck war längst überzeugt, einen Russen vor sich zu haben. Aber um seiner Sache ganz sicher zu sein, machte er eine scherzhafte Bemerkung in russischer Sprache. Verwundert blickte sein neuer Bekannter auf.
"Sie sprechen russisch, mein Herr?"
"Ein wenig."
"Sie sind aber kein Russe?"
"Nein, ich bin ein Deutscher, der sich während eines vorübergehenden Aufenthaltes in Rußland einige Sprachkenntnisse angeeignet hat. Wir Kaufleute kommen ja weit herum."
Der Herr, der seiner Angabe nach in Seide und Bronzewaren reiste, war sichtlich erfreut, hier, wo er es gewiß am wenigsten erwartet hatte, die anheimelnden Laute seiner Muttersprache zu vernehmen. Und Heideck bemühte sich mit einem fast befremdlichen Eifer, ihn bei guter Laune zu erhalten. Er rief seinen Diener und befahl ihm, heißes Wasser zu bereiten.
"Es ist sehr kühl diese Nacht," wandte er sich an seinen Gast. "Ein Brandy mit heißem Wasser ist da nicht zu verachten."
"Ah," sagte der Russe, "warten Sie einen Augenblick. Es ist besser, das Wasser wegzulassen und es durch etwas Schmackhafteres zu ersetzen."
Er ging in sein Zimmer und kehrte alsbald mit einer Flasche Sherry und zwei Flaschen Champagner zurück.
"Ich werde mit Ihrer Erlaubnis hier in diesem Kessel einmal eine Bowle nach russischem Geschmack mischen. Zucker muß auch hinein. Dieser für englische Zungen berechnete Champagner ist so trocken, daß er gesüßt werden muß, um für unsereinen genießbar zu werden."
Er goß die Flasche Kognak, die der Diener gebracht hatte, ebenso wie den Sherry zu dem Champagner und füllte die Gläser.
Nach deutscher Sitte stießen die beiden Herren mit einander an. Noch einmal betrachtete Heideck dabei aufmerksam seinen neuen Bekannten. Der lauernde Ausdruck, mit dem er die Augen des anderen auf sich gerichtet fühlte, machte ihn einen Moment stutzig. Sollte der Russe etwa die gleiche Absicht haben, wie er selbst, und ihm mit dem Sekt nur die Zunge lösen wollen? Jedenfalls war er jetzt auf seiner Hut.
"Darf ich Sie bitten, eine meiner Havannazigarren zu versuchen?" fragte der Russe, indem er ihm sein Etui darreichte. "Die indischen Zigarren sind nicht schlecht und sehr billig. Die Beaconsfield ist meine Lieblingssorte. Hier und da muß man aber zur Abwechslung doch etwas anderes rauchen."
Heideck nahm dankend an und es begann jetzt ein ziemlich scharfes Zechen, zu welchem der Russe das Tempo angab. Aber er war der Wirkung des ebenso wohlschmeckenden wie starken Getränkes offenbar viel weniger gewachsen, als der Deutsche. Von Minute zu Minute gesprächiger werdend, fing er bald an, seinen neuen Freund Brüderchen zu nennen und allerlei mehr oder weniger verfängliche Geschichten zu erzählen. Auch auf seine heimischen Familienverhältnisse kam er, durch einige geschickte Fragen Heidecks veranlaßt, zu sprechen. Er lachte über eine alte Tante, die ihr Haar mit Rosen zu schmücken pflege, um kahle Stellen zu verdecken, und fügte hinzu, daß diese Tante wegen ihrer unvergleichlichen Klatschgeschichten am Zarenhofe ganz besonders beliebt sei. Daß solche Familienbeziehungen bei einem Geschäftsreisenden etwas verwunderlich wären, kam ihm augenscheinlich nicht in den Sinn.
Im Verlauf der Unterhaltung erwähnte er auch, daß er vor nicht langer Zeit in China gewesen wäre.
"Wir sind zu langsam, Brüderchen, viel zu langsam," versicherte er, "mit fünfzigtausend Mann konnten wir uns alles nehmen, was wir haben wollten, und die Japaner hätten wir unsererseits schon längst angreifen sollen."
"Sagen Sie doch," fragte Heideck anscheinend...