Schweitzer Fachinformationen
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In dem kleinen Lietzow mit seinen etwa 300 Einwohnern war ein unerwarteter Zuzug einer Ortsfremden wie Tina Ohlrogge ein tagesfüllendes Ereignis; auch die Wahl ihrer neuen Behausung ließ die Spekulationen wild ins Kraut schießen. Das Reet-gedeckte, einstöckige Fachwerkhaus, das sich oberhalb des Strandbades flach an den Hang zu schmiegen schien als ob es nicht auffallen wollte, gehörte dem Hören-Sagen nach dem Eigentümer vom Schloßgut Semper, einem in Lietzow wenig bekannten Herrn von Brünning und hatte die letzten Jahre unbewohnt leer gestanden; daß die "Neue" ausgerechnet dieses Haus bezog, machte sie für die alteingesessenen Lietzower sehr suspekt oder wie man hier sagt "nich to vertrauen". Ist es schon an sich schwierig, unter Rüganern heimisch zu werden, so ist eine solche voreilige Zuschreibung mehr als nur hinderlich.
Die Zugezogene war eine große, hagere, flachbrüstige Frau von über 60 Jahren mit auffallend langen weiß-grauen Haaren und nannte sich Tina Ohlrogge. Für die einheimischen Lietzower nahm das ihr schon jetzt anhängende Odium noch mehr an befremdlichen Aversionen zu, als ihnen auf einem mit großem heraldischen Geschick gestaltetem Schild über der Tür des alten Fachwerkhauses eine Praxis für Naturheilkunde und Homöopathie angekündigt wurde. Weil sich die Meisten nicht recht vorstellen konnten, was und wie in dieser Praxis geheilt werden sollte, erwuchs aus diesem Nichtwissen weiteres Mißtrauen gegenüber der neuen Einwohnerin von Lietzow. Das zum Teil mißgünstige Gerede über die Lietzower Neubürgerin unter den Erwachsenen blieb den Jugendlichen nicht verborgen und "färbte" auf ihre Einstellung zu dieser Tina Ohlrogge ab; bei den Jüngeren tat die Nähe des Hexenwaldes zu ihrem einsam liegenden Fachwerkhaus ein Übriges, um das unerklärliche Erscheinungsbild dieser alten, unauffälligen und zugleich seltsam anmutenden Frau noch mehr zu mystifizieren.
Leider blieb es nicht aus, daß sich ein Klüngel von Jugendlichen zusammenfand, der aus Mangel an anderem Zeitvertreib auf die unglückliche Idee kam, "die Hexe zu besuchen". Sei es nun, daß die Ohlrogge eine umsichtige Person war, der nicht daran gelegen war, nach Einbruch der Dunkelheit als allein lebende Frau noch unerwarteten Gästen Einlaß zu gewähren - ihre Praxis konnte man nur nach vorheriger Anmeldung in Anspruch nehmen - , oder sei es, daß sie schlicht mißtrauisch war, jedenfalls waren zu dieser späten Abendzeit ihre Fenster durch schwere Fensterläden dicht verschlossen, die sich von außen nicht öffnen ließen. So stand der Klüngel etwas rat- und tatlos vor dem dunklen verschlossenen Haus, von dem nicht nur ein eigentümlicher Geruch ausging, sonder auch eine seltsam beklemmende Aura von irritierender Intensität. Hannes, der Älteste von dem Klüngel und der gern den mutigen Anführer mimte, näherte sich mit großspurig wiegenden Schritten der Haustür, packte einen kräftigen Knüttel, der neben ihr an der Hauswand lehnte, holte mit ihm weit aus und verharrte in dieser Pose. Der Klüngel hinter Hannes hielt den Atem an und fieberte darauf, was passieren würde, wenn ihr Anführer endlich den Knüttel gegen die Haustür krachen ließe. Doch weit gefehlt! Dazu sollte ihr Anführer gar nicht mehr kommen. Er stand immer noch wie seltsam erstarrt in dieser zum Zuschlagen bereiten Pose, als plötzlich oben vom bemoosten Reetdach ein markerschütterndes Kreischen und Fachen ertönte und ein mächtiger schwarzer Kater, sich mehrmals überschlagend, das Dach heruntergerast kam und mangels eines anderen Fluchtpunktes Hannes fauchend für einen Augenblick auf die Schulter sprang. Vor Schreck und weil der Kater ihm offenbar seine Krallen in die Schulter geschlagen hatte, ließ er mit einem aufheulenden Schrei den Knüttel wie ein zu heißes Eisen fallen, versuchte den sich festkrallenden Kater los zu werden und strebte zurück zu seinen verdutzten Kumpanen. Ein wüstes Geschepper im Innern des Hauses und ein wildes Keifen ließ den Kater von der blutenden Schulter springen und kläglich miauend um die Hausecke verschwinden. Der ganze Klüngel zog sich düpiert langsam zurück und wurde umso lauter und mutiger, je weiter er das Haus der Ohlrogge hinter sich ließ.
Nach und nach verbreitete sich eine aufgebauschte Version dieses "Ereignisses" unter den Lietzowern und trug nicht unbedingt zur Wertschätzung der zugezogenen alten Frau bei; aber nicht Alle ließen sich von dem Gerede beeinflußen. Immerhin lief Hannes noch tagelang mit dick bandagierter Schulter und Arm in der Schlinge herum wie ein Kriegsheimkehrer und erzählte nur gar zu gern, auch wenn er nicht danach gefragt wurde, von dem schwarzen, gefährlichen Untier der alten Ohlrogge.
Zu ihrem Glück beruhigten sich die Gemüter allmählich wieder; unter Anderem auch, weil die Sommersaison mit dem jährlichen Touristenzustrom begonnen hatte und damit auch täglich zu besprechende Neuigkeiten brachte. An Tina Ohlrogge begann man sich zu gewöhnen. Mit der Zeit fand es niemand mehr ungewöhnlich, wenn sie wieder einmal vorn auf der Halbinsel mit der Straße Spitzer Ort im Lotossitz starr auf den Kleinen Jasmunder Bodden hinaus blickte und meditierte. Es war eigenartig, daß sich niemand daran erinnern konnte, sie jemals dabei gesehen zu haben, wie sie von ihrem Haus dorthin gegangen oder in der Dämmerung von dort zurückgekommen war. Es mag sein, daß ihre Vorliebe für weite, immer scheinbar wehende Kleidung um ihren hageren Körper Schuld daran war, daß vor allem im abendlichen Dämmerlicht in den vom Bodden aufsteigendem Nebel bei flüchtigem Blick keine Kontur von ihr in Erinnerung haften bleiben wollte.
Das Schicksal aber sorgte für ein Ereignis, das den Ruf der Ohlrogge in Lietzow grundlegend ändern sollte. Hier in diesem Ort war es eine kleine Katastrophe, ernstlich krank zu werden; die nächsten Arztpraxen waren in Bergen, Sassnitz oder Sagard, mithin nicht ohne Schwierigkeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Insbesondere wenn es sich nur um kleine lässliche Wehwehchen handelte, geschah es oft, dass es lieber still ertragen wurde, als sich dem Umstand eines Arztbesuches zu unterziehen. Dies war auch der Fall bei Dagmar Hilscher, die eines Morgens vor dem Spiegel im Badezimmer eine kapitale Warze an ihrem Hals entdeckte. Dies war ein äußerst misslicher Umstand für sie, da sie es liebte, zum Beispiel Blusen am Hals nie zuzuknöpfen und Kleider mit großen Ausschnitten zu tragen; diese Warze verdarb ihr das Dekollete' und mußte daher unbedingt schleunigst weg. So kam Tina Ohlrogge zu ihrer ersten Patientin in Lietzow.
Dagmar Hilscher war eigentlich eine resolute Frau, die nichts von Esoterik und solch übernatürlichen Kram hielt (oder vielleicht halten wollte; so ganz sicher war sie sich da nicht!) So folgte sie Tina Ohlrogge mit sehr gemischten Gefühlen in einen abgedunkelten Raum, der durch eine Vielzahl kleiner Parafinlichter in eine eigenartige flackernde Unruhe versetzt wurde. Von mehreren Räucherstövchen wirbelten weiße Schwaden auf, deren Aromen aufdringlich in Mund und Nase einzudringen schienen. Im Dämmerlicht glotzten präparierten Balge von Füchsen, Mardern und Wölfen mit aufgerissenen Mäulern und gefletschten Zähnen von den Wänden herab. In der Mitte des Raums. Zwischen diesen Bestien hingen dicke Bündel getrockneter Kräuter von der Decke herab. Völlig deplatziert in diesem Konglomerat wirkte eine doppelläufige Flinte, die quer geradezu wie drapiert an der Wand hing.
Ohne sich dessen richtig bewußt zu werden, war Dagmar von dem ganzen Hokuspokus wider Willen schon jetzt beeindruckt. So folgte sie auch Tinas Geste, sich auf eine Art Ottomane1 zu legen, was sie - im wahrsten Sinne des Wortes "bei Licht besehen" - nie so ohne Weiteres getan hätte. Aber Tinas Ritual unterminierte auf geheimnisvolle Weise Dagmars Willen. Tina setzte sich in einer fließenden Bewegung auf ein Kissen neben der Ottomane, so daß sie mit ihrem Gesicht mit dem ihrer "Patientin" genau vis-a-vis saß. Trotz des Dämmerlichts schauderte es Dagmar unter dem starren Blick dieser seltsamen Frau. Dagmars Wohlbefinden wurde noch mehr getrübt, als jetzt auch noch dieser ominöse schwarze Kater fauchend auftauchte und sich mit gewaltigen Sprung Tinas Schoß eroberte. Dort rollte er sich zusammen, fixierte Dagmar mit halb geschlossenen gelben Augen und begann zu schnurren, derweil ihn die knochigen, weißen Finger seiner Herrin kraulten. Dagmar fühlte sich zusehends hier fehl am Platz und dachte mit Sorge daran, dass sie heute noch die Gardinen abnehmen und waschen wollte. Außerdem begann die Ottomane, auf der sie liegen mußte, an, eigenartig zu müffeln.
Ich weiß es nicht, ob Tina Ohlrogge ein Gespür dafür besaß, dass ihr ihre "Patientin"...
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