Schweitzer Fachinformationen
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Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, aber nie einen Mann berühren, sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben würde, nie im Leben, wie erregend verworfen die Vorstellung auch sei. Der scheue Junge, dieser hübsche, scheue Junge mit den feinen Zügen, den großen Augen und der großen Angst, vor dem Krieg und vor Krankheiten, vor dem Körper, dem Geschlecht und dem Tod.
Es beginnt mit einem Jungen, einem scheuen Jungen, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Dieser Junge, so hübsch, so zart, so rein, so scheu, spielt Gitarre in einer Band. Sie spielen auf einem Fest vor einer Menge junger Leute, die sie nicht kennen, und von denen auch sie keiner kennt, es ist ihr erstes Konzert, und es ist dieser Abend. (Und später kommt erst das Mädchen, und dann, doch nur wie ein flüchtiger Streif, als Schatten, ein blendender Schatten, ein Schatten aus Licht, die Mutter, dann die zwei kleinen Brüder, die an den Wänden, Regalen und auf den Schränken in den dunklen Kellerzimmern unter dem Haupthaus des Hofs herumklettern, wohin das Mädchen sich zurückgezogen hat, um dem Blick des Stiefvaters zu entgehen, seiner kränklichen, näselnden Stimme, seinem Gewehr, seinem Minderwertigkeitsgefühl und seinem Hass auf Frauen, der Angst, die er als Verachtung maskiert, und wo das Mädchen jetzt wohnt, im Keller, die Wände gepflastert mit Postern von Paul Young, der auf den Bildern jung und schön und verträumt aussieht, aber später, sehr bald schon, fett und versoffen sein und nach einem rasanten, unerbittlichen Abstieg sterben wird, und dann, wie eine Epiphanie, ein blendendes Licht, die Mutter, ihre aristokratische Gestalt mit den langen, graziösen Gliedern und kräftigen Knochen, dem glatten elfenbeinblonden Haar, das ihr bis zur Hüfte reicht, und der Hengst, auf dem sie im Sommer durch den Morgendunst reitet, der von den Feldern aufsteigt, betrachtet durch eins der schmutzigen Fensterchen im Keller, wo er gerade aufgewacht ist und sich unter der Bettdecke aufgestützt hat, in der feuchten Wärme des Mädchens, das noch träge neben ihm schläft, das dunkle, runde, sanfte Mädchen mit den schmalen Knochen und den vollen, weichen Brüsten, die ewig müßige Genießerin, und die aristokratische, nordische Mutter, ihr ranker Rücken und der Dampf aus den schleimfeuchten Nüstern des Pferdes, und dann, ohne Warnung, der Stiefvater, eines Vormittags, allein in der geräumigen Landküche, der schmale, scheue Junge und der Stiefvater, der sich ihm gegenüber hinsetzt und anfängt, von Waffen zu erzählen, von Gewehren, Pistolen und nicht zuletzt von Kugeln, besonders von Dumdumgeschossen und ihrem magischen Effekt, das kaum sichtbare Loch in der Haut, hier, mitten im Solarplexus, wo die Kugel fast spurlos eintritt und dann, sowie sie ins Dunkel vordringt, hinten herausexplodiert und vom Rücken, oder dem, was einmal ein Rücken war, nichts übrig lässt als einen blutigen, fransigen Krater, die Geschichte des Stiefvaters von den Kugeln und die des Mädchens von den Detektiven, denen der Stiefvater dafür, dass sie der Mutter überallhin folgen, sobald sie am Ende der Allee abbiegt und außer Sicht (und außer Reichweite seines Gewehrs) ist, so viel Geld bezahlt, dass sie ihn ruinieren und er, der erst vor wenigen Jahren mit seinem älteren Bruder Buller den Vater beerbt und, über Nacht Millionär geworden, einen Gutshof in Jütland gekauft hat, einen prächtigen Gutshof mit sechzehn Toiletten und Badezimmern, sich kaum das Benzin für seinen Gebrauchtwagen leisten kann, ebenjene Detektive, die er, der scheue Junge, nie zu Gesicht bekommt, obwohl ihre Schatten um ihn durch die verlassenen Zimmer huschen, wenn er allein durchs Haus geht, und über die nie ein Wort fällt, auch wenn bis auf die zwei kleinen Brüder alle im Haus von ihrer Existenz wissen, ganz unverhohlen, wie ein religiöses Tabu, das alle mit größter Selbstverständlichkeit akzeptieren, die Mutter, ihre Tochter und der Stiefvater, der weiß, dass sie wissen, sich davon aber nicht anfechten lässt, auch gar kein Geheimnis daraus macht, als würde der Schrecken dadurch, dass er unverhohlen und unaussprechlich ist, noch lähmender, und als würde die aristokratische Aura der Mutter, ihre Unantastbarkeit dadurch, dass sie mit ihrem Leben, ihrem Alltag fortfährt, als wäre nichts, nur noch erhabener, was den Hass und die Verzweiflung, das Gefühl von Minderwertigkeit und die Besessenheit, die den Stiefvater verzehren, ins Groteske steigert, er wird von Tag zu Tag blasser, magerer, verbissener und verbitterter und noch fester entschlossen, diese Frau niemals gehen zu lassen, sie nie freizugeben, und wenn es ihn ganz verzehren sollte, und das wird es, aber noch nicht jetzt, erst verschwindet er einfach, eines Tages ist er plötzlich weg, und der Sommer fängt an, ein endloser Sommer, in dem nichts geschieht und in dem er, der schmale Junge, aus der Welt fällt, der Welt, aus der er kommt, hinein in jene andere Welt, die eine Welt für sich ist, wo Zeit und Licht stillstehen und der Staub in der Luft schwebt und flimmert und niemand irgendetwas tut, außer leben, als befänden sie sich in einer anderen Zeit und an einem völlig anderen Ort auf der Welt, als wäre der weiße Hof ein Gouverneurspalais auf St. Croix in den letzten Tagen des Kolonialreichs, wo alles zu spät ist und mit einem Mal alles endlich erst möglich. Die Mutter verbringt die Tage auf dem Rücken ihres Hengstes, erst bei Einbruch der Dunkelheit kommt sie zurück und sitzt von Kerzen umringt mit einem Glas Wein in der Küche, und das Mädchen und der Junge bleiben bis spät in den Nachmittag im Bett und stehen nie richtig auf, sondern spazieren in den Kleidern des anderen durchs Haus, der scheue Junge angezogen wie ein Torero, noch ohne Geschlecht, oder eine Jungfrau, und sitzen in der Küche und trinken Milchkaffee und backen Brot von dem letzten Rest Mehl, füllen es mit allem, was sie an Käse, Zwiebeln und Gewürzen finden, verschlingen die dampfenden Scheiben und Brocken und lassen sich lachend auf ihr großes Eisenbett fallen, das jetzt oben in der kleineren der beiden Stuben steht, und lieben sich stundenlang, ohne zu wissen, wer wer ist, ob es ein Geschlecht gibt oder viele, und er für eine Weile seine Angst vor dem Körper vergisst, vor dem Tod, der kommen wird, er kommt, nur mit der Ruhe, er kommt, in jeder Geschichte wie dieser kommt schließlich der Tod, zu guter Letzt vielleicht, oder im Gegenteil jäh wie ein Dumdumgeschoss, das mitten ins Leben trifft und es in Fetzen zurücklässt, über die Erde verstreut.
Doch vorher kommt der Tag, an dem die Tante, die große Schwester der Mutter, aus Amerika heimkehrt. Eines Tages also, als das Mädchen und der scheue Junge zu Besuch in der kleinen Wohnung der Großmutter in der nächsten Stadt sind - was heißt Stadt, eine Ansammlung von Häusern an der Küste, eine Schule, ein Supermarkt, eine Kreuzung und eine Kneipe am Waldrand, wo sich die Jugend in den Sommernächten zum Trinken und Tanzen trifft und hinter der Kneipenküche in dem Lichtkeil, der aus der offenen Küchentür fällt, auf dem Waldboden liegt und rumknutscht und vögelt und sich prügelt - kommt die Mutter mit ihrer großen Schwester aus Amerika die Treppe hoch. Wie jedes weibliche Mitglied einer adligen Familie in einer Zeit, da die Aristokratie als solche nicht mehr existiert, sondern lediglich als verarmtes Relikt überlebt und allein in der Körperhaltung, dem Blick und nicht zuletzt im Bewusstsein der Überlegenheit überdauert, hat auch die Tante einen Kosenamen; so wie die Mutter nicht Benedikte genannt wird, sondern Ditte, und keiner die Großmutter Rigmor nennt, sondern Pip, heißt die Tante in dieser Geschichte nicht Marianne, sondern Tante Janne aus Amerika. Zusammen mit ihrem großen Bruder, dem Rechtsanwalt, der am anderen Ende des Landes wohnt (ganz im Norden in Vendsyssel), ist sie Oberhaupt und Autoritätsperson der Familie. Da sie aber nun mal in Amerika lebt und ihre Autorität nicht tagtäglich ausüben kann, muss sie dies umso effektiver an den wenigen Tagen bewerkstelligen, die sie »daheim in Dänemark« zu Besuch ist. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß, kennt bis jetzt nur die Erzählungen von dieser Tante, die im Staat Massachusetts an der amerikanischen Ostküste wohnt, zusammen mit ihrem amerikanischen Mann, einem Philosophieprofessor an der Eliteuniversität MIT. Die beiden haben sich in Rom kennengelernt, wo sie auf einer Bildungsreise war und er der jüngste Priester des Vatikans, dazu ausersehen, einmal einer der Kardinäle zu sein, die eines Tages vielleicht einmal Papst werden können, aber von dem Augenblick an, als er sie sieht - und sie sieht, wie er sie sieht - ist es zu spät, noch ehe die Woche um ist, hat er dem Priestergelübde entsagt, seine Klosterzelle und den Vatikan verlassen und sogar seinen Austritt aus der Kirche erklärt, um sein Leben stattdessen der Liebe und jener jungen Frau zu weihen, die nun Tante Janne ist und just in diesem Augenblick aus dem Flur der Wohnung der Großmutter im Obergeschoss eines fantasielosen Häuserblocks in dem kleinen Kaff Bogense über die Türschwelle des kleinen Wohnzimmers schreitet, wo er, der scheue Junge, tief ins Polster des Sofas gedrückt mit einer Mischung aus Neugierde und Schrecken wartet. Sie ist hochgewachsen und schlank wie ihre kleine Schwester, aber dunkler vom Typ her und völlig bar jener Aura der Unergründlichkeit und jenes Glanzes, derentwegen der Junge nie müde wird, die Mutter anzuschauen, weil er immer, wenn er auch nur für einen Augenblick wegsieht, das Gefühl...
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