Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es war so heiß, dass Martha das Gefühl hatte, Glut zu atmen. Einen Fuß setzte sie vor den anderen auf dem brandheißen Pflaster, aber sosehr sie sich auch mühte, sie kam kaum voran, nicht einmal hier, im Schatten der Marktbuden. Schillernde Fliegen umsirrten die Rinderhälften am Stand der Metzgerin. Später würde sie das alles zeichnen, beschloss sie: die Brummer am schwärenden Fleisch, das Limonadenmädchen, das seine Ware selbst trank, und dort die runde Frau mit den großen Gesten, die behauptete, dass ihre Kühe keine Milch mehr gaben, sondern dass Käse aus ihren Eutern quoll.
Ein Schatten tauchte zwischen den Marktbesuchern auf, und einen Moment lang fürchtete Martha, es könnte Mutti sein, aber dann konnte sie wieder aufatmen. Die Frau trug Muttis Lieblingskleid, rot mit weißen Punkten, das Martha so gut kannte. Sie hatte Mutti darin gezeichnet, vergangenes Jahr, als sie noch zu Hause gewohnt hatte. Bevor das alles passiert war. Bevor Vati seine Arbeit verloren hatte und der Krieg ausgebrochen war. Vor Paul.
Der Rhein flimmerte vor ihr in der Sonne. Sie beschloss, sich ans Ufer zu setzen und diesen Tag zu zeichnen, an dem nichts an Krieg erinnerte, nichts an Westoffensive und Tote. Es gab hier keine bellenden Stimmen und keine Bilder, die sie in ihrem Kopf ausradieren musste, es gab nur diese sengende Sonne und ein Köln, das fast nur noch aus Frauen bestand. Mädchen, kaum älter als sie selbst, lagen in Badeanzügen auf Liegestühlen und reckten ihre Gesichter dem Himmel entgegen. Kinder sprangen jubelnd von den Steinen ins Wasser, und bei jedem Sprung schoss eine Fontäne in den Himmel.
Es geschah, als sie ihren Stift hervorzog. Ein Schmerz schnitt ihr in die Eingeweide, so stark, dass sie vornüberkippte. Der Krampf dauerte nur kurz, sie hörte einen Kinderruf und das Platschen im Wasser, und dann verschwamm das Gefühl wieder, aber sie wusste, dass der Moment gekommen war. So ruhig sie konnte, strich sie ihre Zöpfe zurück und richtete sich auf. Als sie aufblickte, glaubte sie erneut, das gepunktete Kleid ihrer Mutter zu sehen, aber diesmal war es kein Anblick, vor dem sie sich verstecken wollte. Der Schmerz kehrte zurück in ihr Innerstes, und sie schloss die Augen. Das Gefühl zerrte mit einer Macht an ihr, dass sie am liebsten geweint hätte. Sie wünschte sich, Mutti wäre da.
Die alte Frau Bolze in der Loreleystraße wurde nicht müde zu betonen, dass sie sich während ihrer Schwangerschaften immer wie ein Seelöwe gefühlt habe - eine Bemerkung, die Martha und Paul dazu verleitet hatte, in den Kölner Zoo zu gehen und sich die Bolze'sche Inkarnation einmal persönlich anzusehen. Sie hatten so heftig gelacht, dass irgendwann ein Wärter kam und sie vom Seelöwengehege wegjagte. Martha war erst im vierten Monat gewesen und hatte sich nicht vorstellen können, jemals auch ein Seelöwe zu werden.
Frau Bolze führte das Wohnhaus mit strenger Hand, seit ihr Heinz eingezogen worden war, aber sie wusste, wann sie gebraucht wurde. «Boasses, Mädche!», stieß sie hervor, als Martha ihr entgegenwankte. «Ich sach rappzapp der Hanne Bescheid!»
Martha klammerte sich ans Treppengeländer. Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um zu antworten. «Die Hanne ist übers Wochenende zu ihrer Mutter gefahren.»
Frau Bolze schlug ihren Wischmopp gegen das Geländer.Aus dem ersten Stock starrten Martha die blassen Gesichter der Mahler-Töchter entgegen. «Verdöllt noch mal, der werd ich aber Vertellekes machen! Jetz türmt die Hebamme? Jetz wo dat Mädche ihr Kleines kritt?» In einer Geschwindigkeit, die Martha ihr nicht zugetraut hätte, war Frau Bolze die Treppe heruntergekommen und hinter sie getreten. Martha spürte zwei kräftige Hände an ihren Flanken, und dann wurde sie von hinten hinaufgeschoben, vorbei an den Mahler-Mädchen, vorbei an der Wohnungstür von Mutter und Tochter Beurich, weiter die Treppe herauf, und dann zerrte die Bolze einen Schlüssel an ihrem mächtigen Bund hervor.
Erneut schoss Martha der Schmerz in den Bauch. Diesmal war die Wehe so stark, dass sie in die Knie ging. Frau Bolze drängte Martha den Flur entlang in das kleine Zimmer, das sie sich mit Paul teilte. Sie strich Martha über die schweißnasse Stirn. «Et hätt noch immer jot jejange.»
Augenblicklich spürte Martha die nächste Wehe heranrollen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Paris, die prächtigen Häuser, das herrlich duftende Brot. Die Eltern. Die Bilder, eine Explosion von Farben. Riesige Wände, Farben, die in den Raum barsten, dass Martha eine Gänsehaut bekam. In dem Raum mit den Bildern hatte sie zum ersten Mal gewusst, was sie werden wollte, später. Wenn sie so groß wie die Eltern war.
Und auf einmal stand es ihr klar vor Augen: Sie musste Mutti suchen, sie musste sich mit ihr aussprechen, ihre Stimme hören und ihre Hände fühlen. Hände, die sie beruhigten, die ihr die Furcht aus der Stirn strichen und das Weh aus ihrem Bauch.
Sie rollte sich auf die Seite, um sich auf den Unterarm zu stützen, so wie es ihr die Hebamme gezeigt hatte. Aber in dem Augenblick, in dem sie sich aufrichten wollte, stürzten die Schmerzen mit neuer Wucht auf sie ein.
Sie hatte nicht gewusst, dass man sich so erschrecken konnte. Ein Schrei gellte durch die Wohnung, und dann spürte sie, dass sie selbst es war, die so schrie, und dass es ihre Angst vor einem Weh war, das man nicht in Worte fassen konnte. Für das es keine Worte gab.
Der Nebel lichtete sich allmählich, und sie erkannte, dass Paul auf dem Fußboden hockte und ihre Hand hielt und dass er vollkommen aufgelöst war. «Wir müssen einen Wagen rufen, der sie ins Krankenhaus fährt, Frau Bolze!», rief er mit seiner schönen Bühnenstimme.
«Häs de Bubbelwasser jedrunke?» Frau Bolze krempelte sich die Ärmel hoch und packte Marthas Beine. «Spar dir der Monologe förn Film!»
«Was machen Sie, Frau Bolze?», fragte Martha panisch.
Frau Bolze stieß statt einer Antwort einen Pfiff aus, während sie mit der Inspektion von Marthas Innerem begann.
«Papperlapapp, nix, wat ich nit allt jesenn hätte.»
Die nächste Wehe brach über Martha zusammen, und diesmal war der Schmerz so stark, dass sie das Bewusstsein verlor.
Als sie wieder erwachte, hatte sich der Raum verändert. Die Helligkeit war fort. Im Fenster erkannte sie das Abendblau und darin eine Mondsichel. Sie versank in Schmerzen. Und jetzt verlor sie die Kontrolle über sie. Keine Ohnmacht half, kein Schreien, kein Fluchen, nicht einmal Luft holen gelang ihr. Frau Bolze und Paul wurden plötzlich lauter, und im Schein der Nachttischlampe sah sie die Angst in Pauls Gesicht. Und dann brach etwas aus ihr, und ein großes Gefühl von Erleichterung durchströmte ihren Körper, und Paul weinte, und Frau Bolze fluchte. Plötzlich waren die Schmerzen verflogen, fast so, als wären sie nie da gewesen, und dann hielt Martha ein kleines Mädchen im Arm.
«A Mädche.» Frau Bolze wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht und war gleich wieder die Alte. «Han ich ja jesaat!»
Martha blickte zu dem kleinen Wesen hinunter, das in ihrem Arm lag und mit seinem Mund ihre Brust suchte. Wie hilflos und winzig es war! Und woher dieses winzige Wesen wohl wusste, dass es rasch Milch trinken musste, um zu überleben? Die Kehle wurde ihr eng, und wieder kam es ihr vor, als ob sie weinen müsste, aber sie tat es nicht. Alles wird jetzt anders, dachte sie.
Der Morgen war angebrochen, und alles war anders geworden. Gestern war Martha noch ein achtzehnjähriges Mädchen gewesen, ein halbes Kind noch, so hatte es Mutti bis zum Schluss gesagt. Und heute war sie selbst eine Mutter. Von jetzt an, dachte sie und steckte ihre Nase in den Flaum auf dem Kopf des Babys, musste sie sich um einen anderen Menschen kümmern. Sie war dafür verantwortlich, dass dieses kleine Wesen niemals hungern musste, keine Schmerzen litt, nicht fror.
Das Baby öffnete seine Augen und verzog das Gesicht, dass es wie ein Lächeln aussah. Martha spürte ihr Herz klopfen. Bis in die Fingerspitzen pochte ihr die Zärtlichkeit. Sie wollte dieses lächelnde, kleine Wesen beschützen und halten, für immer. Sie beugte sich noch einmal zu seinem Kopf hinunter. Wie süß es roch! Eine Erinnerung leuchtete in ihr auf: wie Mutti auch an ihrem Kopf gerochen hatte, als sie klein war. Muttis Stimme, wenn sie ihr eines ihrer französischen Kinderlieder vorsang, während sie ihr die Zöpfe flocht.
«Du kleine Sonne.» Martha streichelte vorsichtig über ein Grübchen in der Wange des Babys. «Du sonniges kleines Juni-Kind!»
Sie nahm den Teddy, den sie mitgebracht hatte, als sie zu Paul gezogen war. Teddy sah ein bisschen ramponiert aus, so viel hatte er schon mitgemacht. Auf dem Bauch, dort, wo sie ihn als Kind immer festgehalten hatte, war er schon ganz kahl. Ob ihr Baby das Kuscheltier auch so lieben würde? Vorsichtig streckte sie ihm den Teddy entgegen. Das Baby gluckste.
«Ich würde sie gern Charlotte nennen», sagte Paul. «Nach meiner Mutter.»
Martha sah Paul in die Augen. «Du hast gesagt, deine Mutter hieß Louise.» Sie hörte selbst, wie hart ihre Stimme auf einmal klang.
Kein Muskel zuckte in Pauls Schauspielergesicht. «Das war ihr erster Name. Aber mein Vater hat sie immer Charlotte genannt.»
Martha betrachtete Pauls Mund und seine Wangenknochen und die himmelblauen Augen. So, als sähe sie das ganze Schöne an ihm zum letzten Mal. Wie wenig sie über den Mann wusste, mit dem sie sich vor einem halben Jahr verlobt hatte. Seit sie ihre Eltern verlassen hatte, lebten sie in der Wohnung von Pauls Vater, aber sie war dem alten Mann noch nie begegnet. Paul hatte ihr erklärt, dass...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.