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Der 185. Geburtstag
Eigil Tvibur schloss die Friedhofspforte hinter sich, und wie so oft, wenn er in den Schatten der großen Ahornbäume trat, kam sein Geist zur Ruhe. Diese Bäume gehörten zu den ältesten Lebewesen der Stadt, und dank ihres Alters und ihrer Schönheit genossen sie allergrößten Respekt. Als die Gemeinde Anfang der sechziger Jahre an der Dr. Jakobsensgøta Abwasserrohre verlegt und in Bürgersteige investiert hatte, musste die steinerne Einfriedung an der Südseite ein Stück versetzt werden. Zwei Bäume standen seitdem vor der Mauer, und um diese Bäume zu schützen, hatte man die Stämme mit einem hübschen Eisengitter versehen.
Die Tannen auf dem Friedhof waren ebenfalls eine Freude fürs Auge. Vor gut hundert Jahren hatte Gerd, die mit dem Unternehmer Obram aus Oyndarjørdur verheiratet war, einige Setzlinge auf die Färöer mitgebracht. Sie hatte ihre Familie in Bergen besucht, und während der ganzen Rückreise den Zuber an Deck des Schiffes festbinden müssen. Vielleicht hatte sich damals schon, als sie dem Sturm und Meer trotzten, etwas Heiteres und Stolzes in den Seelen der Bäume festgesetzt. Zumindest hatte Eigil das Gefühl, dass die Bäume eines schönen Tages ein Lied anstimmen würden, die norwegische Nationalhymne: Ja, wir lieben dieses Land .
Die Ebereschen waren klapperdürr, sie gediehen am besten im westlichen Teil des Friedhofs. Auch außerhalb des Friedhofsgeländes hatte man einige gepflanzt. Tatsächlich waren in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg in diesem Teil von Tórshavn die merkwürdigsten Anpflanzungen ausprobiert worden. Die Bäume waren rasch zu Kräften gekommen, und die hübschen Kronen mit ihren auffälligen hellgrünen Blättern hatten bald vier Generationen von Einwohnern der Weststadt erfreut - und selbstverständlich auch eine Unzahl von Staren und Spatzen, die in all diesen Jahren in den Zweigen gepfiffen oder gezwitschert hatten. Nun wuchsen die Bäume nicht mehr, man sah es am deutlichsten an den obersten Ästen, die keine Blätter und Borke mehr hatten und leicht abbrachen. Hellgrüne und rötliche Moosteppiche zogen sich die Stämme hoch, und wenn die Sonne schien, fielen goldene Lichtströme durch die schütteren Wipfel. Tatsächlich glichen die Bäume allmählich den Menschen, über die sie wachten. Und warum auch nicht? Längst hatten die Wurzeln das, was von den Verstorbenen in der Erde übrig geblieben war, in sich aufgesogen.
Der Kies knirschte unter den Stiefelsohlen, und wie immer, wenn Eigil zu den Gräbern der namenlosen Kinder kam, hielt er inne. Er wusste nichts über deren Geschichte. Vermutlich waren es Totgeburten, oder sie waren als Babys am plötzlichen Kindstod gestorben. Die Gräber waren so groß wie die Zinkwannen, in denen die Frauen früher Wäsche gewaschen hatten. Nur hatten sie keine Böden. Es stand auch kein Kreuz am Kopfende. Im Juni und Juli wuchsen darauf Butterblumen und Knabenkraut, und es sah dann so aus, als wehten gelbe und rotblaue Sommerfahnen auf den dünnen Pflanzenstielen.
Eigil ging zum Grab des ehemaligen Landeschirurgen Napoleon Nolsøe. Sein Widerwille gegen diesen Mann war so gewaltig gewesen, dass er 1980 in der Silvesternacht dessen Grab geschändet hatte. Er war der Überzeugung, dass es sich bei Napoleon Nolsøe um die Inkarnation eines durchtriebenen färöischen Nationalisten gehandelt hatte. Vor allem ihm war es zu verdanken, dass sich nationalistische Strömungen wie eine Epidemie ausgebreitet hatten.
Hätte er die Grabschändung bloß verschwiegen, dann wäre auch nichts geschehen.
Aber als Eigil sich im Dezember 1992 erneut als Stadtrat in Tórshavn aufstellen ließ, berichtete die Tageszeitung Sosialurin über sein Vergehen. Er, der er die Selbstverwaltungspartei vier Jahre im Stadtrat vertreten hatte, wurde als Grabpisser bloßgestellt. Das Blatt schrieb, er habe ganz bewusst die letzte Ruhestätte eines Ehrenmannes geschändet und sei nicht viel besser als die Neonazis und Antisemiten, die die Grabsteine von Juden beschmierten. Ja schlimmer noch: Während die Farbe der Antisemiten aus einer Dose kam, hatte die Sache mit dem Urin etwas weitaus Persönlicheres.
Wenn nur die Wandlampe im Flur eingeschaltet war und Eigil mit dem Spiegel sprach, der vom Boden bis zur Decke reichte, hatte er sich bisweilen damit verteidigt, dass der Gelehrte Ole Jacobsen ihn überhaupt auf den Gedanken gebracht hatte. In Band 6 der Schriftenreihe Von den Färöern - Úr Føroyum, die 1971 von der Dänisch-Färöischen Gesellschaft herausgegeben und von ebenjenem Ole Jacobsen verfasst worden war, war es diesem gelungen, die Leser - zumindest Eigil Tvibur - davon zu überzeugen, dass Napoleon Nolsøe 1846 als Arzt den hippokratischen Eid gebrochen hatte. Und eine derartige Anklage war nicht nur hart, sie war schwerwiegend genug, den Nachruhm des Mannes zu ruinieren.
1846 hatten auf den Färöern die Masern gewütet, und allein in Tórshavn waren ungefähr fünfzig der achthundert Einwohner gestorben. Doktor Napoleon, der damals eine eigene Praxis in Nólsoyarstova hatte, wurde vom Amtmann Pløyen gebeten, sich auf die Insel Suduroy zu begeben, um den Notleidenden zu helfen. Er sollte fünfzig Reichstaler Lohn im Monat bekommen. Und doch weigerte Nolsøe sich, die Reise anzutreten.
Einige Jahre, nachdem Eigil Ole Jacobsens Artikel gelesen hatte, erschien das Buch Literaturgeschichte I von Árni Dahl. Es war nicht zu übersehen, dass Árni Dahl den Arzt sehr schätzte. Auf Seite 75 des Buches hatte er eine große Fotografie des Mannes drucken lassen, unter dem Bild fand sich eine kurze Biographie, dazu lieferte Dahl einige Kostproben, die der Candidatus med. & chir. N. Nolsøe auf Färöisch verfasst hatte.
Eigils Wut war entfacht. Schon immer hatte er jene Nationalisten verabscheut, die behaupteten, die heimatliche Dichtung zu lieben, sich aber für die Einwohner des Landes nicht interessierten. Regin Dahl hatte sogar in einem Gedicht geschrieben: Ich liebe das Land und hasse das Volk. Vielleicht war es auch umgekehrt. Jedenfalls konnte Eigil solche Worthülsen nicht ausstehen. Aber genau so wurde Napoleon Nolsøe in Ole Jacobsens Abhandlung beschrieben. Er liebte die färöischen Lieder und Weisen, doch seine sterbenden Landsleute interessierten ihn 1846 nicht.
Wäre es nach Eigil gegangen, hätte ein Mann wie Napoleon Nolsøe gar nicht erst in die Literaturgeschichte aufgenommen werden dürfen. Er hatte dort nichts zu suchen. Nicht weil Eigil dagegen war, schreibenden Schurken einen Platz in der Geschichte oder in Nachschlagewerken einzuräumen oder sogar Straßen und Schiffe nach ihnen zu benennen. Ganz und gar nicht. Einer seiner großen Helden war der Nazi-Anhänger Knut Hamsun, und ohne Autoren wie den Marquis de Sade, Céline und Jean Genet hätten der französischen Literatur einige bissige Stimmen gefehlt.
Doch Doktor Napoleon war kein Genet, und noch weniger hatte er sich durch irgendwelche literarische Großtaten ausgezeichnet. Vielleicht hatte er seinen Teil zur Entwicklung der färöischen Rechtschreibregeln beigetragen, mehr aber auch nicht. Der Mann hatte eine Menge Lieder zu Papier gebracht, allerdings nicht eins davon selbst gedichtet; die Texte, die er niederschrieb, waren bereits von anderen gesammelt und aufgezeichnet worden. Er hatte Abschriften angefertigt, das war seine große Leistung, und die Literaturgeschichte mit Abschreibern zu füllen, war so unpassend wie lächerlich.
Bei einem Treffen des Schriftstellerverbandes hatte Eigil verkündet, die in Dahls Literaturgeschichte aufgenommenen Namen wären ebenso zufällig ausgewählt wie die Namen, die auf der Mitgliederliste des Verbands standen. Einer war mit dabei, weil er vor einem Vierteljahrhundert zwei, drei absolut unbedeutende Kinderbücher übersetzt hatte. Ein anderer hatte an einem Kurzgeschichtenwettbewerb teilgenommen, den wohlmeinende Pädagogen vor ebenso vielen Jahren initiiert hatten und dessen Resultat vollkommen sentimentaler Mist gewesen war. Und ein dritter hatte vermutlich die Festschrift für einen alkoholisierten Schlafwandler der Akademie redigiert. So verhielt es sich mit den meisten Mitgliedern des Verbandes. Die wenigen Autoren, die es wirklich verdienten, in diesen Kreis aufgenommen zu werden, wurden in den Medien als Kulturmafia bezeichnet.
Sollte ein anderer Árni Dahl in fünfzig Jahren eine neue Literaturgeschichte schreiben wollen, bestand die Gefahr, dass er in der Mitgliederliste des Schriftstellerverbandes nach passenden Beispielen suchen würde. Leute, die bestimmt gut mit Kopiergeräten umgehen konnten, würden dann als bedeutende färöische Kulturträger angeführt.
Eigil hatte nur einen einzigen Grund gesehen, warum Doktor Napoleon einen Platz unter den färöischen Göttern und Halbgöttern zugeteilt bekommen hatte. Er hatte das richtige DNA-Profil. Der Arzt war der Sohn des alten Handelsverwalters Jákup Nolsøe gewesen und damit der Neffe des Dichters und Nationalhelden Nólsoyar-Páll. Einzig und allein aus diesem Grund hatte Árni Dahl ihn durch die Hintertür in seine Literaturgeschichte geschmuggelt.
Als Eigil das Grab des Arztes erreichte, stellte er seine Tasche ab. Man schrieb den 26. November, bis zu diesem Tag waren exakt einhundertfünfundachtzig Jahre seit Napoleon Nolsøes Geburt vergangen. Eigil legte die Hände auf den Stein und beglückwünschte Napoleon zu dem Tag, und wie schon so oft, bat er ihn um Vergebung, dass er seine Gebeine besudelt hatte.
Auf der anderen Seite des Friedhofwegs stand ein Betonwaschbecken mit einem Wasserhahn. Er füllte ein bisschen Wasser in eine Schale, schraubte den Deckel von einem Kanister mit Steinreiniger und goss die ätzende...
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