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Sechs Monate zuvor
Der Muff des Vortages schlug Otto entgegen, als er die Tür seines Raumes in der Musikschule öffnete. Der Lehrer, der tags zuvor darin Unterricht gegeben hatte, hielt es offenbar nicht für nötig, die Instrumente an die dafür vorgesehenen Plätze zurückzustellen. Oder sein halbgegessenes Baguettebrötchen in den Müll zu werfen. Das lag stattdessen auf der Klappe des Klaviers und versuchte Fliegen zu produzieren. Mit spitzen Fingern fasste Otto es an und warf es in den Müll. Dann öffnete er die Balkontür, um etwas frische Luft in den Raum zu lassen.
Er arbeitete nun schon seit fast sieben Jahren an der Musikschule und hatte Höhen und Tiefen mitgemacht. Zu den Tiefen gehörten sicherlich Dinge wie das halbgegessene Baguettebrötchen, aber auch übervorsorgliche Eltern und absolut desinteressierte Schüler, sodass sich übervorsorgliche Eltern bei ihm beschwerten, warum er sie denn partout nicht dazu bringen konnte, interessiert zu sein. Sicher war meistens nur, dass er irgendwie Schuld hatte. Die Bezahlung reichte zum Leben auch nicht wirklich. Aber zu den Höhen zählte auf jeden Fall, wenn wirklich talentierte Schüler bei ihm anfingen oder er Kindern alte Rock-Klassiker beibringen konnte, an denen sie Spaß hatten. Und das Allergrößte war, wenn Schüler tatsächlich Bands gründeten. Dann hatte er das Gefühl, dass er der Welt etwas bewahrte, was ansonsten vom Aussterben bedroht war: Rockbands.
Immer wieder ertappte er sich bei dem Gedanken, dass die vergangenen zehn Jahre keine große Rockband mehr hervorgebracht hatten. Es gab nur noch Hip-Hop, Electronic Dance und Popmusik. Oder irgendwelche Singer-Songwriter mit ihrem weichgespülten Kram. Bis zu einem gewissen Grad bewunderte er diese sogar, denn immerhin schrieben sie - wie er selbst - eigene Songs, aber er hatte das Gefühl, dass nichts davon mehr richtig Biss hatte.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er aus den beiden Nachbarräumen die Versuche der Schüler vernahm, ihre aktuellen Stücke zu perfektionieren. »Massakrieren« hätte wohl eher gepasst.
Schräg links gegenüber unterrichtete die russischstämmige Lehrerin Anastasia Gesang. Die Schülerin, die seit drei Wochen die Arie der Königin der Nacht probte, war der Aufgabe schlichtweg nicht gewachsen. Wie er aus Gesprächen mit Anastasia wusste, hatte sie der Schülerin mehrmals gesagt, sie wäre noch nicht so weit, eines der schwersten Gesangsstücke aller Zeiten anzugehen. Aber die Mittzwanzigerin hatte daraufhin einen solchen Trotzanfall bekommen, dass man annehmen musste, es käme zu einem Amoklauf, wenn sie nicht entsprechend unterrichtet wurde. Die Folge war nun, dass Otto regelmäßig zusammenzuckte, wenn die Schülerin statt des hohen F etwas sang, was nur irgendwo in der Nähe lag. Vielleicht wäre es erträglich, wenn es nicht so ein Krächzen gewesen wäre. Interessanterweise schien das Anastasia aber nie die Laune zu verderben. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und organisierte trotz zum Teil fragwürdiger Leistungen ihrer Schützlinge Vorspiele und Konzerte. Sie gehörte wohl zu der Art von Lehrern, denen die große Karriere versagt geblieben war, die aber Erfüllung darin fanden, ihr Wissen weiterzugeben. Otto bewunderte das und fragte sich manchmal, ob er auch so werden könnte. Aber so richtig wollte er den Traum des Rockstars noch nicht aufgeben.
Im anderen Zimmer, genau gegenüber von Ottos Raum, probte der amerikanische Lehrer Dave mit zwei Mädchen im Teenageralter das Stück »Probier's mal mit Gemütlichkeit« aus dem Film »Das Dschungelbuch« auf dem Saxophon. Otto hätte nicht erkannt, dass es sich um dieses Stück handelte, hätte sein Kollege es ihm nicht vor Wochen verraten, nachdem Otto ihn gefragt hatte, ob die beiden Mädchen sich denn wirklich für Free Jazz interessierten. Nach einem großen Seufzer gab Dave zu, um welches Musikstück es sich handelte und dass die Mädchen es zur Übung viel langsamer und obendrein falsch spielten. Otto fiel auf, dass Daves Augenlid dabei zuckte. Aber das war vielleicht nur Zufall. Dave schien eher zur zweiten Gruppe Musiklehrer zu gehören, nämlich denen, welchen die große Karriere versagt geblieben war und die darüber verzweifelten. Der Amerikaner war zweifelsohne ein guter Jazz-Musiker, aber das Problem mit Jazz-Musik war: Die hörten noch weniger Leute als Rock. Und noch weniger Kinder und Jugendliche hatten Interesse daran, sich dahingehend zu entwickeln. Diese nicht sonderlich guten Aussichten hatten bei etlichen bekannten Leuten des Genres dazu geführt, dass sie sich entweder durch Alkohol oder Drogen das Leben ruinierten. Otto hoffte inständig, dass Dave dies erspart blieb.
Er räumte das Zimmer auf und holte seine Gitarre aus dem Koffer, als die Mutter seines aktuellen Schülers ihr Kind durch die Tür schob.
»Entschuldigen Sie, aber die Parkplatzsituation«, sagte sie gehetzt, als sie ihrem Sohn noch einmal übers Haar strich, während dieser versuchte, sich unter ihr wegzuducken.
»Hallo, Matteo«, sagte Otto zu dem Jungen, der seinen Gitarrenkoffer in die Ecke stellte und die Jacke auszog. »Na, wie geht's?«
»Ganz gut«, sagte der zwölfjährige Junge. Wie es seinem Lehrer ging, interessierte ihn offenbar nicht.
»Ich warte hier draußen«, sagte die Mutter, als wäre das in den drei Jahren, die Matteo zu ihm kam, jemals anders gewesen. Sie drehte sich um und setzte sich draußen auf einen der Stühle.
Otto hatte noch nie verstanden, weshalb die Mutter ihren Jungen, der bereits an die weiterführende Schule ging, noch immer mit dem Auto zum Gitarrenunterricht brachte, zumal die Musikschule nicht einmal einen Kilometer davon entfernt lag. Allerdings hatte er auch gelernt, dass er solche Dinge lieber nicht ansprach, weil die meisten Eltern darauf sehr empfindlich reagierten. Helikoptereltern wollten in der Regel nicht hören, dass sie Helikoptereltern waren.
Natürlich hatte die Mutter nicht die Tür geschlossen. Für sie war das die Aufgabe des Lehrers, der damit den Unterricht einläutete. Otto ging also zur Tür, während Matteo begann, seine Gitarre auszupacken, und sah, wie im Raum gegenüber Dave gerade die beiden Schülerinnen verabschiedete. Die Blicke von Dave und Otto trafen sich, und nach einem kurzen Begrüßungsnicken seufzten sie beide simultan. Dann rief Dave den nächsten Schüler herein, und Otto schloss die Tür.
Er zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich hin. Bin gespannt, welche Ausrede er diese Woche hat, warum er nicht üben konnte, dachte Otto und fragte: »Und? Bist du mit dem Stück weitergekommen?«
»Ich hatte keine Zeit zu üben«, sagte Matteo.
Otto nickte wissend.
»Wir hatten ganz viele Hausaufgaben. Und am Freitag hatten wir eine Klassenarbeit. Außerdem musste ich für gestern noch einen Vortrag vorbereiten.«
»Hm-mh«, sagte Otto.
Matteo schaute ihn an. »Wirklich!«
»Ja, okay. Schon gut«, sagte Otto und versuchte, dabei ehrlich zu wirken, aber innerlich tat es ihm jedes Mal ein wenig weh, wenn einer seiner Schüler ihn anlog.
Von nebenan ertönte ein quietschender Saxophon-Sound, und sowohl Matteo als auch Otto zuckten kurz zusammen.
»Kann man denn die Räume nicht mal dämmen?«, fragte der Junge, als er sich hinsetzte. »Die Leute von nebenan zu hören ist schlimm genug, aber die spielen ja auch noch falsch. Wie soll man sich da konzentrieren?«
Otto musste schmunzeln, denn Matteo war ja auch kein Virtuose auf seinem Instrument. »Ja, man würde sich wünschen, dass die Schüler mehr üben, dann würden sie nicht so oft falsch spielen.«
Matteo nickte. Offenbar ging der kleine Hinweis völlig an ihm vorbei.
»Nimm mal deine Gitarre in die Hand«, sagte Otto. »Wenn du erstmal spielst, dann fällt das gar nicht mehr so auf.«
Natürlich kam aus dem Nachbarraum genau in diesem Moment das Geräusch des Saxophonsolos von »Careless Whisper«, als würde es durch den ausgestopften Körper eines röhrenden Hirschs gespielt, der ein Kazoo verschluckt hatte.
Bis sie mit dem eigentlichen Unterricht beginnen konnten, vergingen noch ein paar Minuten. Die Gitarre war natürlich noch nicht gestimmt, obwohl das so abgesprochen war. Und jedes Mal, wenn ein Saxophon quietschte, zog das das Stimmen noch mehr in die Länge.
Seit ein paar Wochen spielte Matteo ein Stück von Ed Sheeran. Otto war das sehr recht, denn dessen Stücke waren in der Regel recht einfach gestrickt. Simple Akkorde, die gut für Anfänger geeignet waren. Matteo gelang es trotzdem immer wieder, daneben zu greifen. Geduldig erklärte Otto ihm, wie er sich mit einem Barré-Griff die Sache viel leichter machen konnte. Er hatte dasselbe schon in der Woche zuvor erklärt, aber offenbar hatte Matteo das Ganze über das Nicht-Üben wieder vergessen.
»Ich kriege das nicht hin«, sagte Matteo.
»Deswegen ist es so wichtig, dass du übst«, erwiderte Otto, aber Matteo wirkte plötzlich eingeschnappt.
»Ich will ja üben, aber ich komme nicht dazu!«
Diese Diskussion führten sie alle paar Wochen wieder. Otto lehnte sich zurück und seufzte. »Sicher, du hast an keinem Tag der Woche mal fünfzehn Minuten Zeit, um ein wenig zu üben.«
»Wirklich!«
Okay, dachte Otto, dann eben noch einmal. »Am Wochenende?«
»Da muss ich zum Fußball. Oder wir besuchen Oma.«
»Und nach der Schule in der Woche? Immer irgendwelche Vorträge vorbereiten, für Klassenarbeiten lernen und Hausarbeiten, richtig? Weil du jede Woche irgendwelche Vorträge und Klassenarbeiten hast, ja?«
Matteo schaute verärgert.
»Ich weiß, ihr habt alle in der Schule viel zu tun«, sagte Otto, »aber sei doch mal ehrlich: Wenn du...
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