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Also, wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, warum ich euch von Arthur Cravan erzähle, statt einfach zu sagen, wer ich bin, also wer ich wirklich bin. Für gewöhnlich beginnt man da bei der frühen Kindheit, den ersten Erinnerungen, sprich dort, wo es anfängt, spannend zu werden, weil sich der Charakter zu formen beginnt . Bei den ersten Stunden auf dem Spielplatz, dem ersten Gewitter und der Furcht vor Blitz und Donner . Beim ersten Nachmittag, den man bei einem Kindergartenfreund verbringt, und bei der Hoffnung, dass die Eltern einen vergessen, weil gerade alles so schön ist. Leider geht das bei mir nicht. Meine frühe Kindheit besteht selbst für mich nur aus Erzählungen, und ich habe keine Ahnung, was davon tatsächlich wahr ist. Ich will nicht behaupten, dass meine Erinnerungen mit Arthur beginnen, aber sehr viel Vorlauf gab es nicht. Drei Jahre vielleicht.
Als ich fünf war, lag ich für mehrere Wochen mit Grippe und fragilem Bewusstsein im Bett. Ich kann mich nicht daran erinnern und seltsamerweise an kaum etwas zuvor; die Ärzte konnten es sich nicht erklären . Ein Grund, warum ich mit Arthur beginne, ist also, dass für mich mit Arthur (fast) alles begonnen hat und dass ich zu Wenigem einen intuitiveren Zugang besitze als zu einer stark erhöhten Körpertemperatur. Ich - also ich, wie ich jetzt vor euch sitze und spreche, ich, wie ich mich selbst begreife -, ich wurde aus dem Feuer meines eigenen Körpers geboren, und auch meine Verbindung zu Arthur entstammt (neben anderen Unglaublichkeiten) direkt dem Abwehrmechanismus unserer Immunsysteme: Fieber. Ihr werdet sehen, was ich meine, denn Arthur hatte Fieber.
Wie die anderen, mit denen er ein Zimmer teilte, deren Namen heute aber kein Mensch mehr kennt, hatte er sich eine schwere Erkältung eingefangen, die seit einigen Wochen im Internat grassierte. Bei einem schwächlichen Deutschen sollte sie sich sogar zu einer Lungenentzündung auswachsen, an der er später auch starb, Arthur hingegen war schon immer zäh gewesen, bereits als kleiner Junge, deswegen hatte es bei ihm länger gedauert. Letztendlich erwischte es aber auch ihn - kein Wunder, bei diesem pausenlosen Geschniefe und Gehuste. Von all dem ausgespuckten grüngelblichen Schleim der Kinder sah die Schneefläche vor dem Institut auf dem Rosenberg aus, als würde sie schimmeln. 1899, Arthur ist zwölf. 1899, das letzte Jahr des 19. Jahrhunderts, wir befinden uns in einer Zeit, in der Hygiene in weiten Teilen der Bevölkerung denselben Ruf genießt wie Homöopathie heute in Medizinerkreisen, spätestens die Spanische Grippe sollte das ändern, aber als die sich zur Pandemie auswuchs, war Cravan möglicherweise bereits in Chile, möglicherweise bereits auf dem Grund des Pazifiks.
Arthur war also krank, er fühlte sich aber nicht krank genug, um nicht aus einem Fenster im zweiten Stock zu klettern und den Hügel hinab durch schneebepuderte Gassen zur Post zu stapfen. Er wollte die beiden Briefe aufgeben, die er am Vormittag beendet hatte, bis Heiligabend waren es nur noch wenige Tage. Dass er Ärger bekommen würde, war ihm egal. Gerade begann es wieder zu schneien, große feuchte Flocken segelten lotrecht vom Himmel und schmolzen auf Arthurs erhitzter Stirn. Die Briefe durften keinesfalls nass werden, deshalb steckte er sie rasch unter seinen Pelzmantel, sie durften aber auch nicht verknittern, darum ging er die rutschigen Straßen mit steifem Oberkörper entlang. Hoffentlich wirken meine glatte Brust und der Dampf des Fiebers wie ein Bügeleisen, dachte Arthur, das wäre perfekt für die Briefe. Sloppiness, wie sein Vater, ein Anwalt aus Oxford mit Faible für altgriechische Literatur, es nannte, war Arthurs Handschrift vorbehalten, da war sie notwendig, da war sie Kalkül.
Bisher hatte Arthur nur zwei Leser, eben seinen Vater und seine Mutter. Er schrieb ihnen wöchentlich und behielt von jedem Brief eine Kopie in makelloser Schrift, die er in einer Box aus japanischem Zedernholz aufbewahrte. Das war das Gute daran, dass seine Eltern getrennt lebten: Er konnte immer zwei Briefe schreiben, zwei Versionen erfinden, die im Orbit einer Wahrheit kreisten. Für Arthur war alles wahrhaftig, was er schrieb, da gibt es keinen Zweifel. Nur seine Eltern bezichtigten sich in den seltenen Gelegenheiten, in denen sie korrespondierten, gegenseitig der Lügen, weil sie Unterschiedliches von ihrem jüngeren Sohn gehört hatten.
Letztens hat er beispielsweise, je nachdem, welchem Brief man Glauben schenkte, Hausarrest bekommen, weil er einem anderen Jungen (eineinhalb Jahre älter) eine Ohrfeige verpasst hatte, beziehungsweise haben drei Jungen Hausarrest bekommen, weil sie ihn, Arthur, verprügelt hatten, und er lief seitdem mit einem geschwollenen Auge umher, dem rechten, weil einer der Jungen Linkshänder gewesen war.
Wahr war, dass alles stimmte.
Arthur hatte sich dazu genötigt gefühlt, gegen den Jungen vorzugehen, einen hochnäsigen Franzosen (angeblich ein Nachfahre Voltaires), nachdem der sich über ihn, den barbarischen Briten aus einer Kolonie in Lausanne, lustig gemacht hatte, genauer: über seinen englischen Akzent. Daraufhin hatten die Freunde des Franzosen Satisfaktion verlangt, aber nicht so, wie Arthur es später noch öfters erleben sollte, nicht so, wie es unter Gentlemen der Upperclass üblich war, mit einer inbrünstig vorgetragenen Aufforderung und Sekundanten und einem Treffen auf einer Lichtung irgendwo im Wald, im stumpfen Licht des Morgengrauens. Nach der Abendandacht hatten sie Arthur in einem der dunklen Korridore aufgelauert und sich gerächt. Auch wenn er vor Kurzem zu boxen begonnen hatte und Talent erkennen ließ, mit dreien auf einmal war er nicht fertiggeworden. Insbesondere dieser Linkshänder hatte ihm zu schaffen gemacht. Wenn Arthur jetzt vor dem Spiegel stand und merkte, dass das Blau zu verblassen drohte, drückte er in der Hoffnung, dass es noch etwas länger sichtbar wäre, an den Rändern seines rechten Auges herum. Zu sagen, dass er den Schmerz genossen hätte, wäre zu viel, ausschließlich schlecht fand er ihn aber nicht.
Arthur durfte das Institut gerade also nicht nur nicht verlassen, weil Nachmittagsruhe herrschte, sondern auch, weil er Hausarrest hatte, und so grinste er diebisch, als er in die Zwinglistrasse einbog, die in diesem Abschnitt reichlich steil war. Für Arthur gab es keine größere Freiheit, als sich über Regeln und Verbote hinwegzusetzen, oh, er hoffte beinahe, erwischt zu werden. Während er ging, schaute er über die Schulter zurück zur hellgelben Jugendstilvilla, einem Bau, der, wie das Institut, vor wenigen Monaten zehn Jahre alt geworden war, eine erstaunlich pompöse Feier war das gewesen, bei der Arthur zum ersten Mal Champagner getrunken hatte (anders wären diese hirntoten Reden auch nicht auszuhalten gewesen), er erinnerte sich gerne an diesen ersten perlenden Rausch, der ihm den Tag versüßt hatte, er schaute also in Gedanken zurück zu den herbstlich entflammten Ahornen im Park des Instituts, deren Blätter sich im Wind ineinander wanden wie die Ornamente der bunten Bleiglasfensterscheiben der Villa, und auch in Wirklichkeit schaute er zurück, über die linke Schulter, mit dem rechten Auge sah er schließlich noch schlecht, vielleicht lief ihm ja jemand im Schnee hinterher. Und tatsächlich, huschte da nicht etwas im abnehmenden Licht des späten Nachmittags die Straße entlang?
Hoppla!
Das wäre fast schiefgegangen. Schwer, nicht zu stürzen, wenn es derart glatt ist und man den Oberkörper pedantisch starr halten muss, der Briefe wegen. Wahrscheinlich besser, ich nehme Anlauf und gleite den Hang hinunter, wer gleitet, der rutscht nicht, dachte Arthur, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht Cravan hieß, sondern so, wie es trotz Trennung auf beiden Couverts stand, nämlich Lloyd. Eigentlich hieß Arthur damals auch noch nicht Arthur, sondern Fabian. Fabian Avenarius Lloyd. Wir nennen ihn aber weiter Arthur, denn das ist, wer er war.
Punkt 16 Uhr gingen die Straßenlaternen an, eidgenössisch pedantisch, und augenblicklich war der Schnee nicht mehr gräulich-weiß und bieder, sondern gelb, wild und diabolisch wirkte er, man kann den Schwefel fast riechen. Ein guter Schwefelgeruch war das, thermal, das Erdinnere in sich tragend; riecht ihr ihn auch?
Arthur nahm das als Zeichen.
Mit drei, vier Schritten beschleunigte er, Schneeflocken stoben an ihm vorbei, er überholte mehrere schimpfende Passanten und sogar ein eben anrollendes Automobil (das einzige in St. Gallen), was ihn ganz besonders entzückte, hatte er nicht gerade die Zukunft überholt?, schneller und schneller wollte er werden, wie die neue Zeit, dieses neue, vielversprechende Jahrhundert, das in wenigen Tagen beginnen würde, und so schoss er, in Gedanken Aeronaut, im Scheinwerferkegel des Daimlers den vereisten Hügel hinab.
Cravan war niemand, der ans Bremsen dachte oder daran, dass ein Weg jemals enden könnte - oder eine Straße. Wie beispielsweise die Zwinglistrasse am Blumenbergplatz. An einem Nachmittag so kurz vor Weihnachten war der natürlich voller Menschen. Halb St. Gallen flanierte zwischen den Verkaufsständen und trank wohlig dampfenden Glühwein, während man sich zunehmend erregt in dieser merkwürdig kehligen Sprache unterhielt, die Arthur verabscheute, weil sie klang, als würde jede Silbe die Ketten der Vergangenheit hinter sich herschleifen. Englisch und Französisch, das strebte nach vorne!, es war also nicht schlimm, dass er immer den Akzent einer dieser beiden Sprachen übers Deutsche legte, war sogar notwendig, Voltaire hin oder her, und selbst wenn Arthur irgendwann doch realisierte, auf was er da...
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