Schweitzer Fachinformationen
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Die Positionslampen der vorüberziehenden Schiffe glitzerten fahl im Mondlicht.
Herr Watanabe fröstelte, als ein kühler Windstoß über das Plateau hinwegfegte.
Der Tag war sehr sonnig gewesen, doch zum Abend hin hatte es merklich angezogen. Herr Watanabe ließ seinen Blick über das Tal gleiten. Trotz der Dunkelheit waren zahlreiche Schiffe auf dem Rhein unterwegs. Ein Tanker lag fast gleichauf mit einem der Frachtschiffe, die sich mit ihren hingeduckten Kabinenaufbauten selbst klein zu machen schienen. Unwillkürlich musste Herr Watanabe an seine japanische Heimat denken. Vor einiger Zeit hatte er am Hafen in Yokohama gestanden und die riesigen Überseecontainerschiffe beobachtet, die in stetem Rhythmus ein- und ausliefen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, mit welcher Präzision und Geschwindigkeit die großen Container abgeladen wurden. In letzter Zeit kamen die Schiffe immer öfter aus China, dem verhassten Wettbewerber um die Vorherrschaft in Asien.
Herr Watanabe schüttelte den Kopf. Mit Exporten moderner Technik in das rückständige Land hatte Japan das chinesische Wirtschaftswunder überhaupt erst möglich gemacht. Doch statt ihnen dankbar zu sein, setzten die Chinesen alles daran, sie zu überrunden. Bald würden sie die europäischen Märkte mit Hightech-Produkten überschwemmen. Zum Glück war davon bisher nicht viel zu spüren, dachte Herr Watanabe. Er hatte genug Sorgen. Die Konkurrenz aus Osteuropa machte den Japanern zu schaffen. Allein in den vergangenen drei Monaten war der Absatz seiner Firma um mehr als einen Prozentpunkt zurückgegangen. Die Zentrale in Tokio begann bereits unruhig zu werden. Herr Watanabe seufzte. Europa war seine Bewährungsprobe. Nur wenn er es schaffte, die europäische Tochter zum Erfolg zu führen, würde er eine Chance erhalten, in die Leitungsebene des Konzerns aufzusteigen.
Das Schlagen einer Autotür riss Herrn Watanabe aus seinen Gedanken. Unwillig sah er sich um. Niemand war zu sehen. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit. Weiter oben raschelte es im Gebüsch. Sonst blieb es ruhig. Wahrscheinlich war der späte Besucher in das weiter oben gelegene Gasthaus gegangen, dachte er und entspannte sich. Er kam gern hierher. Sein Vater hatte als junger Mann einige Jahre in Deutschland verbracht und oft davon erzählt. Schon als Kind hatte Herr Watanabe die Erzählungen über die Loreley geliebt. Mit Staunen und Begeisterung hatte er sich die Bilder der vielen Burgen und der steilen Weinberge des Mittelrheintals angesehen. Auch wenn Herr Watanabe es nie zugegeben hätte, schlummerte hinter der Fassade des nüchternen Geschäftsmanns eine romantische Seele. Wenn er hinunter auf den Rhein blickte, konnte er für einen Moment seine geschäftlichen Sorgen vergessen. Er stellte sich vor, wie das Rheintal im Mittelalter ausgesehen haben mochte. Ursprünglicher und wilder. Mit einem mächtigen Fluss, dessen Stromschnellen um die schroffen Felsen tosten. Ein knackendes Geräusch schreckte Herrn Watanabe aus seinen Träumereien auf. Er fuhr herum und starrte auf die dunklen Büsche, die fast bis an seine Sitzbank heranreichten. Zwischen den Bäumen weiter oben nahm er eine Bewegung war.
»Ist da jemand?«, rief er mit unsicherer Stimme. Doch es waren nur ein paar Blätter, die im Wind hin- und herschwankten. Erleichtert drehte er sich um. Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Er stellte sich vor, wie er sich mit einer Gruppe Samurai in einem kleinen Boot durch die tückischen Wasser kämpfte. In den Gesichtern der Männer stand Furcht, als die Gischt hochspritzte und eine Stromschnelle ihr schmales Gefährt durchschüttelte. Nur er selbst, Hayato Watanabe, stand aufrecht am Ruder ihres Bootes und steuerte es mit sicherer Hand durch alle Gefahren. Gemeinsam waren sie ausgezogen, um eine japanische Prinzessin zu befreien, die von den blassen Langnasen in einer düsteren Burg in der Nähe gefangen gehalten wurde. Das war eine seiner Lieblingsfantasien. Herr Watanabe war so darin versunken, dass er den Mann hinter sich erst bemerkte, als es zu spät war. Wie glühender Stahl fuhr der Schmerz durch seine Eingeweide. Er schrie auf und versuchte sich umzudrehen. Doch jemand hielt ihn mit eiserner Hand fest. Eine Stimme, ganz nah bei seinem Ohr, flüsterte ihm heiser Fragen zu. Herr Watanabe flehte sie an, aufzuhören. Aber die Stimme blieb unerbittlich. Immer drängender wurden die Fragen. Herr Watanabe versuchte sich ihnen zu widersetzen, aber da waren diese Schmerzen, diese unerträglichen Schmerzen . Tränen rannen über sein Gesicht. Er schmeckte Blut im Mund. Stockend begann er zu reden. Erst langsam, dann schneller. Er hoffte, dass er so die Stimme besänftigen könnte. Aber sie war böse und ohne Gnade. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Da wurde ihm bewusst, dass er sterben würde .
Eleonore von Hohenstein hielt den Blick stur geradeaus gerichtet und versuchte den Lärm hinter sich zu überhören. Sie ignorierte sogar ein Papierkügelchen, das dicht an ihrem Kopf vorbeisauste. Endlich griff einer der Lehrer ein und ermahnte die Gruppe, leiser zu sein. Eleonore schüttelte den Kopf. Schon längst bereiteten ihr die Führungen keine Freude mehr. Vor allem, wenn sie es mit Schulklassen zu tun hatte. Die Kinder von heute waren schrecklich. Keine fünf Minuten konnten sie sich konzentrieren. Immer liefen sie kreuz und quer herum, schwätzten oder stellten freche Fragen. Eleonore beneidete ihre jüngeren Kolleginnen, welche die japanischen Besuchergruppen führen durften. Japaner lärmten nicht, sie kamen nie zu spät und stellten keine Fragen. Diszipliniert und aufmerksam verfolgten sie den Vortrag des Fremdenführers, applaudierten zum Schluss und bedankten sich höflich. Wieder einmal spielte sie mit dem Gedanken, einen Englischkurs zu belegen, damit sie ausländische Besuchergruppen führen konnte.
Der Bus bog auf den Parkplatz oberhalb des Loreleyfelsens ein. Von dort waren es nur wenige Meter bis zur Spitze des Felsens, von wo aus man einen herrlichen Blick auf den Rhein und das idyllisch gelegene Restaurant auf der anderen Flussseite hatte. Eleonore von Hohenstein kletterte behände aus dem Bus. Das Kinn energisch nach vorn gerichtet, ihren Schirm wie die Lanze des Heiligen Georg nach oben gestreckt, marschierte sie strammen Schrittes voran, ohne sich nach ihrer Schülergruppe umzusehen. Sollten sich doch die Lehrer darum kümmern, den undisziplinierten Haufen zu führen. Eleonore war so in Fahrt, dass sie den Mann, der auf der Sitzbank saß, erst bemerkte, als sie schon an ihm vorbeigerauscht war.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass etwas nicht stimmte.
Sie drehte sich um und musterte ihn. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, was sie vor sich hatte. Der Schrei, den sie ausstieß, war so schrill, dass dem 16-Jährigen, der in einer breiten Rapper-Hose hinter ihr hergeschlurft kam, fast das Smartphone aus der Hand geglitten wäre. Dann fiel Eleonore von Hohenstein in Ohnmacht.
Jo Weidinger sog die frische Frühlingsluft mit vollen Zügen ein. Der Duft des herannahenden Sommers vermischte sich mit dem der frisch aufgebrühten Kaffeebohnen, der aus seiner Tasse nach oben strömte. Für einen Moment fühlte er sich wie auf einer südamerikanischen Kaffeeplantage. Er konnte sich keinen besseren Start in den Tag vorstellen, als auf seiner Terrasse zu sitzen und die einzigartige Aussicht zu genießen.
Gegenüber, auf der Loreley, ging es für die Tageszeit ungewöhnlich hektisch zu. Heerscharen von Menschen schienen sich dort zu tummeln. Weiter oben meinte er sogar das Blinken von Blaulichtern zu sehen. Er stellte seine Tasse ab und ging ins Haus. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Fernglas zurück. Gespannt spähte er zur anderen Seite hinüber. Zu seiner Enttäuschung konnte er nicht viel erkennen. Einige Uniformierte waren zu sehen, Notarzt und Polizei, aber dort, wo sich die meiste Aufmerksamkeit zu konzentrieren schien, hatte jemand weiße Stellwände aufgebaut.
Vielleicht war jemand abgestürzt, dachte er. Oder sie drehten einen Film?
Jo beschloss, sich auf sein Mountainbike zu schwingen und zur Loreley hinüber zu radeln. Nicht, dass er neugierig war. Er hatte ohnehin geplant, nach dem Frühstück eine Runde Fahrrad zu fahren. Das konnte er gut mit einem Abstecher auf die andere Rheinseite verbinden. Als er eine halbe Stunde später an der Anlegestelle in Sankt Goar ankam, war die Fähre gerade abgefahren. Er vertrieb sich die Zeit mit der Beobachtung der Schiffe, die mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Nachdem er übergesetzt hatte, machte er sich an den Anstieg. Er musste gehörig in die Pedale treten, aber das war der Spaß dabei. Oben auf dem Plateau angekommen, atmete er tief durch. Langsam rollte er in Richtung Loreley. Als er näher kam, sah er mehrere Streifenwagen, die mit blinkendem Blaulicht am Straßenrand parkten. Jo wunderte sich, dass die Polizei in so großer Mannschaftsstärke vertreten war. Vor einer Absperrung, die von Polizisten bewacht wurde, hatten sich Schaulustige versammelt. Jo versuchte einen Blick über die Menge hinweg zu erhaschen, konnte aber nichts erkennen.
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte er einen älteren Mann, der ebenfalls neugierig nach vorn spähte. Der Angesprochene zuckte wortlos mit den Schultern.
»Da ist einer hops gegangen«, meinte ein Jugendlicher mit einer auffallend roten Baseballmütze und grinste. Der ältere Mann warf dem Jugendlichen einen missbilligenden Blick zu.
»Ist jemand abgestürzt?«, hakte Jo nach.
»Weiß nicht«, antwortete der Teenager mit der Baseballmütze und grinste wieder. Vielleicht wollte er sich auch nur wichtig machen. Jo trat auf einen der uniformierten Polizeibeamten zu, der hinter der Absperrung...
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