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Pero una vez que hube recorrido por entero el círculo, me di cuenta …1
Johann Wolfgang von Goethe,
Los años de aprendizaje de Wilhelm Meister
BUENAVENTURA, schreibt er, ist ein dreck nest – wobei: ein dreck nest mit drei hundert tausend einwohnern, jenseits von allem was ich mir vorgestellt hatte – aber hier, also, bin ich auf die welt gekommen.
»???????????!«, sagt der kleine russische matrose, der rum anbietet, weil es keinen vodka mehr gibt, und der jeden umarmt:
— Where do you come from?
— I’m from here —sage ich — I was born here.
Er ist der erste dem ich das sage, ohne weitere erklärung, die er auch gar nicht verlangt. Stattdessen hängt er mir seinen arm über die schultern und eine alkoholfahne vors gesicht, während er wieder Luci anstiert, ihr Rasta-haar und ihre dunkle haut, die im violetten licht dieser bar-terrasse einen metallischen glanz hat, darin das perlmutter-weiss ihrer augen, das leuchtet wie jetzt der monitor meines notebooks in der nacht, in dieser fetten nacht die vom meer her durchs offene fenster dringt, während ich sehe wie er ihre hände mustert, ihre geschmeidigen hände, die wieder und wieder in der erinnerung jetzt über meine knie, meine schenkel huschen, schlank und flink wie die kleinen echsen auf dem Rio Cacarica, die in gestrecktem lauf übers wasser flitzten, Jesus-Christus echsen, basiliske, und wenn ich seine blicke sehe, die blicke des kleinen matrosen, dessen namen ich überhört habe, ahne ich schon was er mit »???????????« meint, lange bevor ich unter www.friends-partners.org/oldfriends/language/russian-alphabet.html eine tafel mit cyrillischen lettern samt aussprache finde, mit deren hilfe ich das wort zu buchstabieren versuche, um es anschliessend in einem online dictionary zu übersetzen.
Luci, schreibt er weiter, die den Russen anscheinend kennt oder jedenfalls nicht zum ersten mal sieht, schickt ihn fort, schiebt ihn beiseite, sanft aber entschieden, bis er endlich zum nächsten tisch wankt. Später sehe ich wie zwei andere ihn packen und über das niedrige geländer werfen, das die terrasse von der strasse trennt, während Luci mich immer noch zum tanzen überreden will:
— ¡Venga! —bettelt sie— ¡Vamos a bailar!
—No —sage ich— No quiero.
Aber was sonst? Ich verstehe dass sie das wissen möchte, während sie jetzt meine hand nimmt und küsst und meine finger zwischen ihre lippen schiebt, einzeln, um sie dann durch den mund zu ziehen, als wollte sie wie mit dem granit ihrer zähne einen unsichtbaren film von meiner haut kratzen, eine kruste oder hülle, unter der mein finger mir vorkommt wie ein verpupptes insekt – jedenfalls überkommt mich plötzlich ein gefühl von nacktheit und schutzlosigkeit, das mir durch mark und bein geht:
— ¡Vamos a dar una vuelta! — sage ich, bloss um aus dieser VENUS BAR weg zu kommen.
Draussen, obwohl noch früh am abend, ist es schon wieder fast so dunkel wie heute morgen um vier oder halb fünf, als die beiden matrosen mich durch die mondlose nacht hier an land gebracht haben – oscuro (das Spanische trifft’s genauer, finde ich). Nur da und dort hängt eine glühbirne unter einem vordach, fällt etwas licht aus einem fahl beleuchteten schaufenster oder einer offenen tür. Aber auch im finstern ist viel volk auf der strasse, dazu gibt es musik aus allen winkeln und löchern wie den ganzen tag über auch schon, Merengue, Salsa, Cumbia – doch Luci weigert sich trotzdem mit mir durch eine dieser gassen in die nacht hinaus zu schlendern:
— Es peligroso —behauptet sie — Hay muchos ladrones, y sin más ni más te van a matar.
Gefährlich? Ich lache. Nicht weil ich ihr nicht glaube dass es da draussen gauner gibt die auch vor einem mord nicht zurück schrecken! Aber bei allem respekt: ich brauche ja nur zu fragen wo sie selber denn wohnt, und logisch, zeigt sie irgendwo in diese oscuridad hinaus: in irgend einer der hütten da draussen haust sie, irgendwo unter diesem meer von dächern aus wellblech, in einer der finsteren strassen, vor deren bewohnern sie mich warnt. Aber das sei etwas anderes, meint sie:
— Es que yo soy de aquí.
— ¡Yo también! — sage ich — También soy de aqui.
Aber der trotzige ton macht meine behauptung nicht plausibler.
— ¡Ay, hombre! —lacht sie— ¿Qué me dices?
Natürlich hat sie recht, wäre ich wirklich von hier, müsste sie mich schon einmal gesehen haben, so viele Weisse gibt es in Buenaventura nicht. Und da ich bestätige dass ich zum ersten mal nach Buenaventura gekommen aber trotzdem hier geboren bin (auch wenn ich das selber erst seit acht tagen weiss), präzisiert sie dass sie ihrerseits aus Calí komme. Ihre eltern, sagt sie, leben immer noch dort, zusammen mit ihrer dreijährigen tochter, wie übrigens auch der vater des kindes, der sich, aber, noch nie um das mädchen gekümmert hat. Und da ich darauf nichts zu erwidern weiss, schweigen wir eine weile, bis wir am ende der strasse, respektive am ende der beleuchtung, umkehren und zurück gehen zu jener disco in die sie mich vorhin schon schleppen wollte. Aber ich bleibe dabei dass ich nicht tanzen will.
— ¡Qué aburrido! —sagt sie, nicht länger gewillt mit einem langweiler wie mir ihre zeit zu vertun. Sie lässt mich stehen und verschwindet, ohne sich nochmals umzudrehen, in der tür des lokals. Ihr graziler gang und die quirlige fülle ihrer straffen zöpfe, dazu ihr hintern, der in den glitzernden scherben ihres kleides lustvoll eine lemniskate tanzt. Und ich, in der schwüle der nacht plötzlich mit mir allein, weiss nicht ob ich meine standhaftigkeit bereue oder was ich eigentlich hier will: es gibt nicht viel zu wollen in Buenaventura, schreibt er.
Den ganzen tag über bin ich durch das wirre netz dieser calles und carreras gelaufen, die alle namenlos durchnummeriert sind – wie fast überall auf dem amerikanischen kontinent (was ich vor dieser reise auch nicht gewusst habe). Im gegensatz zu den städten im norden allerdings verlaufen hier kaum zwei strassen rechtwinklig oder parallel zu einander, kaum eine ist asphaltiert, und so weit man gehen kann, wenn es einmal nicht regnet, gibt es nichts als hütten im schlamm, mauern aus adobe mit verschlägen aus fauligem holz, baracken auf einem fundament aus bröckelndem beton. Da und dort steht ein haus aus rohem backstein, ein bisschen wohlstand hinter vergitterten fenstern, aber sonst: nichts als gassen voller bedürftigkeit, voll von nackten kindern, die sich an die wände drücken, wenn ein fremder, noch dazu ein Weisser, vorüber geht. In einigen strassen wimmelt es von menschen zwischen lottrigen unterständen, unter denen sich früchte und hemden stapeln, spielzeug und werkzeug, schuhe und armbanduhren. Video recorder und CD player liegen zwischen magischen kräutern und rostigen nägeln, rollen von draht und fallen aller art für mäuse und ratten. Daneben, aber, regt sich wenig in der hitze des mittags, obwohl die luft überläuft vom gedröhn aus unzähligen ghetto blastern, radios, fernsehern, alles auf voller lautstärke, eine irre rhapsodie von rhythmen und klängen und stimmen aus allen offenen fenstern und türen: composition by competition (so hat Al, unser project manager, das prinzip Komplexer Adaptiver Systeme einmal beschrieben) – als wären hier alle nur damit beschäftigt sich gegenseitig im erzeugen einer festlichen stimmung zu überbieten. Aber dazu stehen sie gelangweilt vor ihren häusern, lehnen im schatten der offenen türen, vor allem die männer, fast ausnahmslos Schwarze, und sie sehen mir nach, misstrauisch oder faul, neugierig oder erstaunt: vermutlich verirren sich wenig Weisse ins labyrinth dieser abfall-gesäumten strassen, die sich unten am strand in einem gewirr schmaler stege zwischen pfahl-bauten aufs wasser hinaus verlieren. Bizarre einblicke in einen alltag der unvorstellbar bleibt! »Was heisst realisieren?« Guidos frage fällt mir jetzt immer wieder ein. Jedenfalls bilde ich mir nicht ein dass ich in diesen vierteln willkommen wäre. Trotzdem bin ich stunden lang da draussen herum gegangen, je nach gegend eher zögerlich oder straight – bis einmal, bei einer verfallenen mole, wo sieben, acht junge typen im schatten hockten, einer von ihnen aufgestanden und ein paar schritte auf mich zu gekommen ist, ein bursche in blauer zerschlissener plastik hose und mit nacktem oberkörper, der in der sonne blinkte wie blanker stahl. Und während er den kopf leicht in den nacken legte, im sinn der frage was ich suche, hob ich kurz meine hand zum gruss, so lässig es ging, und sah mich einen augenblick um, als hätte ich mich wohl in der adresse geirrt. Vielleicht wäre er sogar bereit gewesen mir mit einer auskunft weiter zu helfen. Aber da ich nicht einmal...
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