Schweitzer Fachinformationen
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Victoria, Australien, Februar 1901
Sie folgten der Straße nach Ballarat wie dem Weg auf einer Schatzkarte zu einem unbekannten Ziel. Sie wand sich durch ein Wäldchen aus uralten Eukalyptusbäumen, in das kürzlich ein Buschbrand eine verheerende Schneise gerissen hatte. Links und rechts der Straße breitete sich offenes verkohltes Buschland aus, auf dem wie durch ein Wunder bereits wieder frisches Grün zwischen den verkohlten Resten der Stämme hervorlugte wie die Auferstehung des sprichwörtlichen Phönix aus der Asche.
Clytie hielt dies für ein gutes Zeichen. Vielleicht würde die kleine Zirkustruppe doch überleben.
Sie waren die Einzigen, die auf dieser einsamen Straße unterwegs waren, hinein ins Herz des Gold Triangle, des Goldenen Dreiecks. Die knallbunten Wagen des Zirkus Wildebrand boten in dieser Einöde einen kuriosen Anblick. Als wollten sie sagen: Seht her, die Straße gehört uns! Wir kommen zu euch, nach Ballarat, Bendigo - und wo auch immer wir auftreten, wir werden euch verzaubern!
Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und Clytie schwitzte in ihrem dünnen Knabenhemd und der einfachen Latzhose, die sie immer trug, wenn sie mit dem Zirkuszug unterwegs waren. Sie saß neben ihrer Mutter auf dem Kutschbock.
Der heiße Wind zerrte an ihrer Schottenmütze, unter der sie ihr fülliges Haar verbarg. Er fuhr auch in die Ziehharmonikafalten der Landkarte, die sie auf dem Schoß hielt und deren eines Ende sie unter einen Fuß geklemmt hatte, während sie mit der anderen Hand kutschierte.
Ihre Mutter Dolores hatte sich in Seidentücher eingemummt, wie in eine Art Sari, denn sie hatte eine sehr helle, empfindliche Haut und bekam leicht Sommersprossen. Rote Staubwolken wallten unter den Rädern der Waggons auf und reizten zusätzlich.
»Mama, ein paar Sommersprossen bringen dich schon nicht um«, neckte Clytie ihre Mutter.
»Du hast leicht reden.«
Clytie war froh, dass sie mit einem etwas dunkleren, olivbraunen Teint geboren worden war und nicht mit der milchweißen Haut ihrer Mutter. Sommersprossen bekam sie nie.
»War mein Vater auch eher ein dunkler Typ?«, wollte Clytie wissen. Sie kannte ihren Vater nicht, und ihre Mutter hatte sich bis jetzt geweigert, seine Identität preiszugeben.
Die Ältere schüttelte den Kopf. »Du gibst wohl nie auf, was, Mädel? Und pass auf, wo du hinfährst. Leg doch die Karte weg! Wozu brauchst du 'ne Karte? Wir befinden uns in einem Konvoi.«
Dolores' Stimme war sanft und begütigend. Sie verlor fast nie die Beherrschung, aber wenn es geschah, wusste selbst Clytie, dass man besser in Deckung ging. Immerhin berief sich ihre Mutter auf »heißblütige spanische Vorfahren«.
»Ich weiß eben gern, wo ich hinfahre, Mama. Ich folge nicht blindlings einem Führer.«
»Pass bloß auf, dass Vlad das nicht hört.«
In der Zirkustruppe galt Vlad als Clyties Stiefvater, aber es ging ihr gehörig gegen den Strich, als Tochter des Messerwerfers bezeichnet zu werden. Immer wenn Dolores bei Vlad im Wagen übernachtete und nicht in ihrem und Clyties, musste sich Clytie die Ohren zuhalten, weil sie das Weinen und die Schreie ihrer Mutter nicht ertrug. Sie vermutete seit Langem, dass ihre Mutter blaue Flecken und Blutergüsse vor ihr verbarg.
»Ich hab keine Angst vor Vlad, Mama. Aber ich kann verstehen, dass es nicht leicht ist, sich mit einem Mann anzulegen, der erst zuschlägt und dann fragt.«
»Das reicht, Clytie! Ich werde schon allein mit ihm fertig, klar? Und vergiss eins nicht: Wir sind von ihm abhängig.«
Clytie widmete sich wieder ihrer Landkarte. Geelong lag nun weit hinter ihnen, das hübsche grüne Städtchen, in dem sie zuletzt aufgetreten waren. Die Abschlussvorstellung war leider vom zunehmenden Konflikt der Artisten mit ihrem neuen Direktor überschattet worden, der sich nicht gern in die Karten schauen ließ und die Truppe auch nicht über die Zukunft des Zirkus Wildebrand aufklären wollte.
Die nächsten Städte, in denen das große Zirkuszelt errichtet werden würde, waren Ballarat und Bendigo und wohin auch immer Direktor Gourlay sonst angeblich seine Fühler ausgestreckt hatte.
Clytie liebte all die faszinierenden, fantasievollen Namen auf der Karte. Balla'arat zum Beispiel kam aus dem Aborigine und bedeutete »angewinkelter Ellbogen« oder »Ruhestätte«. Und Bendigo war nach einem Schafhirten benannt, der sich für einen großartigen Boxer hielt und seinen Spitznamen dem englischen Box-Champion William Abendigo verdankte.
Clyties Puls beschleunigte sich beim Anblick all der malerischen Namen der kleinen Ortschaften, die das Gold Triangle hervorgebracht hatte. »Warst du je in Deadman's Gully, Mama? Oder in Shamrock Reef oder in Mizpah?«
»Gute Güte, nein. Das sind doch Kuhkäffer. Viel zu klein für einen Zirkus von unserem Format.«
»Pedro hat erzählt, dass das alles Boomtowns sind, die während des Goldrauschs der Achtzehnhundertfünfziger entstanden. Der Staat Victoria hat seine Bedeutung dem Goldrausch zu verdanken, wusstest du das, Mama? Goldsucher aus allen Teilen der Welt sind damals hierhergekommen, um ihr Glück zu suchen, auch alte Forty-Niners von den überlaufenen Goldfeldern in Kalifornien.«
»Es freut mich zu hören, dass Pedro euch immerhin was Nützliches beibringt«, bemerkte Dolores zerstreut.
Clytie liebte Pedros Geschichten. Der Clown war früher Lehrer gewesen, und nun unterrichtete er nebenher die Zirkuskinder und seinen zwölfjährigen Ziehsohn Tiche, einen Zwerg, den er adoptiert hatte und zu seinem Nachfolger ausbildete.
»Pedro hat erzählt, dass in Ballarat die legendäre Eureka Stockade stattfand, ein Aufstand der Goldschürfer. Sie haben sich gegen die unfaire Minensteuer gewehrt. Wusstest du, dass das der einzige bewaffnete Konflikt in der Geschichte der sechs australischen Kolonien war? Aber als die rebellischen Goldsucher dann vor Gericht kamen, wurden sie von der Jury freigesprochen!«
»Typisch Australien. Die würden am liebsten auch noch diesen Banditen kanonisieren, diesen Bushranger, der gehängt wurde.«
»Der heilige Ned Kelly!«, kicherte Clytie.
»Geschichte ist ja schön und gut. Und ich bin froh, dass du eine bessere Schulbildung bekommst, als ich sie je hatte. Aber das ganze Zeug hilft dir nicht dabei, eine gute Kunstreiterin zu werden! Du musst noch viel lernen, ehe du's mit mir aufnehmen kannst!«, verkündete Dolores nicht ohne einen Anflug von Stolz.
Morgen, in Ballarat, hieß es erneut, den Kampf gegen den drohenden Untergang des Zirkus Wildebrand aufzunehmen. Die offenen Goldvorkommen in den Flüssen waren mittlerweile versiegt, aber es gab im Staat Victoria dennoch viele ergiebige Goldminen, die geschäftige Städte hervorgebracht hatten. Dort würden sie hoffentlich ein zahlendes Publikum in ausreichender Größe finden.
»Warum waren wir bis jetzt noch nie im Gold Triangle, Mama?«
»Das waren wir. Du warst nur zu klein, um dich dran zu erinnern, noch ein Küken, das gerade erst gelernt hatte, sattellos zu reiten. In den alten Tagen des Goldrauschs ist meine Familie oft dort aufgetreten. Wir waren die Attraktion in allen großen Zirkussen auf der ganzen Welt!«
Clytie wurde es nie müde, alte Familiengeschichten zu hören. Sie hoffte immer, irgendwann einen Hinweis auf ihren richtigen Vater zu bekommen.
»Und du bist die vierte Generation, die Letzte der Flying Harts«, ermunterte Clytie ihre Mutter weiterzuerzählen. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das große aufgemalte Plakat an der Seite des Wagens, auf dem eine etwas jüngere, aber nicht weniger glamouröse Dolores zu sehen war, die auf einem Pferd stand und eine kleine Clytie im Feenkostüm auf den Schultern trug - Little Clytie im Alter von fünf Jahren.
Dolores zögerte nicht, ihre Tochter sogleich zu korrigieren: »Die Vorletzte! Es ist an dir, für eine neue Hart-Generation zu sorgen und die Legende einer großen Kunstreiterfamilie am Leben zu erhalten.«
Obwohl Clytie die Antwort im Voraus wusste, sagte sie: »Aber du bist doch noch jung genug, um mehr Kinder zu bekommen, Mama. Und ich stünde dir als kostenlose Babysitterin zur Verfügung.«
Dolores' Haltung verkrampfte sich. Clytie folgte dem Blick ihrer Mutter zu dem Wagen, der vor ihnen fuhr und auf dessen Seite ein dramatisches Bild von Vlad, dem Messerwerfer, prangte.
Mit gepresster Stimme sagte sie: »Darauf würde ich an deiner Stelle lieber nicht warten, Liebes. Es gibt Männer, von denen man besser keine Kinder bekommt. Vlad würde der Schlag treffen, wenn ich schwanger werden würde. Oder kannst du dir vorstellen, wie ich mit einem dicken Babybauch auf dem Pferderücken Saltos mache?«
Clytie musste schmunzeln, als sie sich das bildlich vorstellte. Dies schien die perfekte Gelegenheit zu sein, um nach ihrem richtigen Vater zu fragen. Aber im gleichen Moment kam etwas dazwischen.
Der Zug geriet vor einer Abzweigung ins Stocken. Vlad hüpfte vom Kutschbock und war mit wenigen Schritten bei ihnen, eine hochgewachsene, muskulöse, sonnengebräunte Gestalt, die Verkörperung männlicher Arroganz. Er richtete seine stechenden schwarzen Augen auf Dolores, ohne Clytie auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Ich möchte sofort nach der Ankunft anfangen, meinen Auftritt zu proben. Du wirst mir als Assistentin zur Verfügung stehen, klar?! Ich hoffe sehr für dich, dass du alles noch gut im Kopf hast und keine Fehler machst. Glaubst du, du kriegst das...
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