Schweitzer Fachinformationen
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Zweihundertfünfundneunzig Leben befanden sich in der Hand eines Piloten, der in knapp elftausend Metern Höhe einen tödlichen Herzinfarkt erlitt.
Ihm blieb keine Zeit, um seinen Co-Piloten aufzufordern, von der Toilette zurückzukommen und die Maschine zu fliegen. Keine Zeit, um der Flugbegleiterin, die hinter ihm im Cockpit stand, die Bedienung des Funkgeräts zu erklären. Keine Zeit, um der Flugsicherung einen Notfall zu melden. Keine Zeit, um die Passagiere und die Crew zu warnen, dass sie sich anschnallen sollten. Ihm blieb keine Zeit, um irgendetwas zu tun, da ihm gar nicht bewusst war, was geschah. Er spürte nur eine plötzliche Enge in seiner Brust, einen Sekundenbruchteil später sackte er tot nach vorn auf den Steuerknüppel, und das Flugzeug ging in den unkontrollierten Sturzflug.
In der Kabine bewegte sich sofort alles nach vorn. Getränke und Tüten mit Snacks rutschten von Klapptabletts. Mobiltelefone fielen aus Händen. Die Passagiere, die an der Toilette anstanden, stürzten aufeinander. Und alle, die nicht angeschnallt waren, mussten feststellen, dass sie sich nicht mehr auf ihren Sitzen befanden.
In der hinteren Bordküche flogen alle Türen der Trolleys und Fächer gleichzeitig auf. Gestapelte Becher, Zuckerpäckchen, in Plastik eingeschweißte Kekse, Kannen mit heißem Kaffee, schwere Getränkepaletten - alles fiel heraus, landete auf dem Boden und verteilte sich im Flugzeug.
Die Flugbegleiterin in der Mitte der Kabine hechtete dem voll beladenen Getränke-Trolley hinterher, der jedoch freie Bahn hatte, als er im Gang nach vorn raste. Acht Sitzreihen weiter rollte der fast zweihundert Kilo schwere Trolley einem Mann über den Fuß und brach ihm die Knochen, bevor er sich zwischen zwei Sitzreihen verkeilte.
Im Flugzeug war jeder Platz besetzt, doch im ersten Moment, beim ersten Absacken, herrschte in der Kabine völlige Stille. Niemand schrie. Niemand gab auch nur einen Laut von sich. Keiner hatte Angst, alle waren einfach nur überrascht. Denn genau wie der Pilot - dem nicht bewusst gewesen war, was der Schmerz in seiner Brust bedeutete - hatten sich auch die anderen zweihundertvierundneunzig Seelen an Bord des Coastal-Airways-Flugs 235 noch keinen Reim darauf gemacht, was vor sich ging.
Als sie einen Moment später realisierten, dass sie sterben würden, fingen sie an zu schreien.
Drück den Steuerknüppel nach vorn, und das Flugzeug fliegt nach unten. Zieh den Steuerknüppel zu dir her, und das Flugzeug fliegt nach oben.
Das war alles, was die Flugbegleiterin, die sich den Sicherheitsvorschriften gemäß während der Toilettenpause des Co-Piloten im Cockpit aufhielt, über die Bedienelemente wusste. Und dass der tote Kapitän sie geradewegs Richtung Boden fliegen würde, wenn sie ihn nicht vom Steuerknüppel wegzerrte.
Ihre Voraussetzungen hätten kaum schlechter sein können: Sie war einen Meter fünfundfünfzig groß und wog gerade einmal fünfundvierzig Kilo, der Pilot war mindestens eins fünfundachtzig und an die hundertdreißig Kilo schwer. Und sie hatte keinen Hebel, da sie ihn auf seinem Sitz nur in einem ungünstigen Winkel seitlich von hinten packen konnte.
Sie stellte sich breitbeinig zwischen Sitz und Mittelkonsole, packte ihn unter den Achseln und zog ihn ächzend nach hinten.
Sein Körper bewegte sich so gut wie nicht. Der Steuerknüppel blieb bis zum Anschlag nach vorn gedrückt.
Die Flugbegleiterin in der vorderen Bordküche kroch zur Toilette und zerquetschte dabei mit den Händen auf dem Boden verteiltes Frühstück. Ihre Knie bluteten von den Scherben des Porzellangeschirrs aus der First Class. Als sie bei der Toilette ankam, schlug sie gegen die Tür.
»Greg!«, rief sie, doch ihre Stimme wurde von den Schreien der Passagiere übertönt. Sie hielt inne und lauschte, ob der Co-Pilot hinter der Tür antwortete, doch er reagierte nicht.
Als das Flugzeug in den Sturzflug gegangen war, hatte sie aus der Toilette ein lautes Krachen gehört, gefolgt vom Geräusch von splitterndem Glas. Seitdem nichts mehr. Die Flugbegleiterin hatte keine Ahnung, was im Cockpit vor sich ging, ihr war jedoch bewusst, dass der Co-Pilot, der außer dem Kapitän als Einziger in der Lage war, die Maschine zu steuern, unbedingt aus der Toilette kommen und übernehmen musste.
»Greg, bitte! Hilfe!«, flehte sie, während sie mit beiden Fäusten gegen die Tür schlug.
Keine Reaktion.
Der Flugbegleiterin im Cockpit zitterten die Arme. Ihr Griff um den toten Piloten lockerte sich. Nach wie vor drückte fast sein gesamtes Gewicht den Steuerknüppel nach vorn.
Das Flugzeug befand sich auf dem direkten Weg nach unten.
»Guten Morgen, Minneapolis Center. Delta zwei-zwei-vier, im Anflug auf tausend Meter.«
Die Flugbegleiterin erschrak, als das routinemäßige Krächzen eines anderen Piloten im Gespräch mit der Flugsicherung aus dem Cockpit-Lautsprecher ertönte, doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:
Die Flugsicherung .
Die Flugsicherung!
»Guten Morgen, Delta zwei-zwei-vier. Bleiben Sie auf tausend.«
Wenn es ihr gelang, mit der Flugsicherung Kontakt aufzunehmen, konnte sie sich Anweisungen geben lassen, welche Knöpfe sie drücken musste, um die Bedienelemente auf der Seite des Co-Piloten zu aktivieren. Dann konnte sie den Steuerknüppel auf dieser Seite, der rechten Seite, zu sich herziehen und das Flugzeug aus dem Sturzflug holen. Die Flugsicherung konnte ihr Schritt für Schritt erklären, was zu tun war.
Durch die Belastungen, die im unkontrollierten freien Fall auf den Flugzeugrumpf wirkten, wurde die Kabine heftig durchgerüttelt. Passagiere holten ihre Handys heraus, um zu filmen oder ihren Angehörigen eine Nachricht zu schicken. Die Purserin ignorierte die weinenden Babys und die lauten Gebete, als sie die Hand nach oben ausstreckte und das silberfarbene Schild mit der Aufschrift »Toilette« anhob, worauf der verdeckte Schließmechanismus der Tür sichtbar wurde. Sie schob einen Hebel nach rechts, und die Tür wurde entriegelt.
»Greg?«, rief sie und drückte gegen die Tür, die allerdings kaum nachgab, da sie irgendetwas von innen blockierte. »Greg!«, rief sie abermals und drückte noch fester.
Sie neigte den Kopf zur Seite, stemmte sich gegen die Tür und spähte mit einem Auge durch den Spalt in die Toilette.
Der Co-Pilot lag verdreht auf dem Fußboden. Er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Aus einer Schnittwunde an der Stirn lief ihm hellrotes Blut übers Gesicht. Sein Körper war mit Scherben des zersplitterten Spiegels übersät.
Sie war sich nicht sicher, ob er noch lebte.
Wenn nicht, waren sie erledigt.
»Greg!«, schrie sie, den Mund gegen den Türspalt gepresst. »Greg, steh auf!«
Die Flugbegleiterin im Cockpit griff um den Sitz des Kapitäns herum und tastete nach dem Funkgerät. Panik stieg in ihr auf, als sie es zunächst nicht fand, bis ihre Finger ein kunststoffummanteltes Spiralkabel ertasteten.
Mit pochendem Herzen schnappte sie sich das Kabel und zog es zu sich her, bis sie das Handmikrofon zu greifen bekam, das sie Piloten unzählige Male hatte benutzen sehen. Sie holte tief Luft und drückte den Sprechknopf.
»Hier ist Coastal . Wir . Bitte helfen Sie uns«, stammelte sie übereilt, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. »Er ist tot. Der Kapitän ist tot. Ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt. Der Co-Pilot ist auf der Toilette. Er ist nicht hier. Er ist . Wir haben keinen Piloten mehr! Wir stürzen ab! Bitte helfen Sie uns!«
Ihre Stimme war laut und bebte. Sie unterdrückte ein Schluchzen, und erst jetzt überwältigte sie ihre Angst . als sie ihre Stimme durch die Kabine schallen hörte.
Sie sprach gar nicht ins Funkgerät.
Sie machte eine Durchsage über die Lautsprecheranlage.
Die Purserin starrte die verriegelte Cockpittür an, während die stockende Atmung ihrer Kollegin noch über die Lautsprecher im Flugzeug zu hören war.
Das war es also. Der Kapitän war tot. Sie stürzten ab.
Sie trat gegen die Toilettentür, und ihr tränenersticktes Schluchzen mischte sich unter das der Passagiere.
»Steh auf! Steh auf!«
Im Inneren der Toilette öffnete Greg mit flatternden Lidern die Augen und nahm undeutlich seine Umgebung wahr. Wo befand er sich?
Ihm tat alles weh. Er wusste nicht, was geschehen war. Alles war verschwommen, bis er den zersplitterten Spiegel sah.
Er rappelte sich benommen auf, dann hörte er jemanden seinen Namen rufen. Als er die Tür aufmachte, sah er die Purserin vor sich auf dem Boden kauern. Sie war voller Blut und Essensreste.
»Er ist tot«, schluchzte sie. »Der Kapitän ist tot. Mach irgendwas.«
Er war vor Schock wie gelähmt. Während er die Flugbegleiterin mit zusammengekniffenen Augen ansah, wurde ein Geräusch in der Kabine immer lauter und kam immer näher, bis ein Trolley die Flugbegleiterin rammte und gegen die Cockpittür presste, was ihn schlagartig in die Realität zurückholte.
Wenn er nicht ins Cockpit zurückkehrte, würden sie alle sterben.
Greg kletterte auf den Trolley, der die Türöffnung der Toilette verbarrikadierte, wobei Tassen, Servietten und Rührstäbchen in die Toilette fielen, und hämmerte gegen die Cockpittür.
»Tim!«, rief er den Kapitän. »Mach auf! Tim, mach auf!«
Die Flugbegleiterin, die zwischen dem Trolley und der Cockpittür eingeklemmt war, stöhnte vor Schmerz auf. Die Schnittwunden in...
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