11. Szene
Pauli stieg gemächlich die Treppe hinab. Er war wie immer spät dran, aber Edith nahm es mit der Pünktlichkeit nicht so genau. Sie kellnerte lange genug im Pub, um über die Gewohnheiten ihres Chefs Bescheid zu wissen. Edith machte die erste Schicht, die offiziell von zehn bis sechzehn Uhr lief. Sobald Pauli ins Pub kam, konnte sie Feierabend machen. Bis zur Sperrstunde um zwei Uhr morgens arbeitete Pauli selbst im Pub. Harry, sein neuer Mitarbeiter, begann um sechs Uhr. Edith konnte meistens erst um fünf Uhr nachmittags Feierabend machen. Auch diesmal ging es schon auf halb fünf zu, als Pauli seine Wohnung im ersten Stock direkt über dem Lokal verließ. Durch die Hintertür trat er in den kleinen, muffigen Lagerraum. Bierkisten, volle und leere Getränkeflaschen, Reservegläser in Pappkartons und Putzbesen stapelten sich darin in heillosem Wirrwarr. Ordnung war nicht gerade Paulis Stärke. Aber das hatte schon seine Richtigkeit.
Vom Lagerraum kam er in das Hinterzimmer. Die anwesenden Gäste drehten die Köpfe, einige nickten Pauli grüßend zu. Er stapfte einfach an ihnen vorbei. Volles Haus wieder mal. Sein Pub war häufig gut besucht und Pauli ein durchaus wohlhabender Mann geworden. Aber er scherte sich nicht viel um Geld. Geld kam und ging, und das Finanzamt schnitt sowieso immer gehörig mit. In jungen Jahren, als er noch mit seiner Motorradgang umhergezogen war, hatte Pauli anders darüber gedacht und ein paar krumme Dinge gedreht. Aber in den drei Jahren, die er wegen Einbruches abgesessen hatte, hatte sich seine Meinung über Geld geändert. Und wenn mal ein Stammgast die Zeche aufschreiben ließ, konnte es leicht passieren, dass Pauli auf die Schuldentilgung einfach verzichtete. Seine jungen Gäste waren ja irgendwie seine Familie und er der alte und respektierte Patron.
Edith zapfte eben Bier, als er neben sie trat. Sie nickten einander zur Begrüßung zu.
»Gibt's was Neues?«
»Nichts Neues. Nur er ist wieder pleite.«
Edith deutete mit einem Kopfnicken zu Moses, der an der Bar lehnte und völlig versunken auf ein leeres Blatt starrte. Pauli kannte seinen treuesten Gast seit unzähligen Jahren. Moses besaß eine kleine Eigentumswohnung in der Nähe des Westbahnhofes, bloß benutzte er diese nur, um zu schlafen. Ansonsten hielt er sich fast rund um die Uhr im Pub auf. Alleine das, was Moses in den letzten Jahren auf Pump bei Pauli getrunken hatte, hätte für die Renovierung des abgelebten Mobiliars ausgereicht.
»Eh klar. Was hat er getrunken?«
»Zweimal das Übliche.«
»Das geht.«
Um halb fünf zwei Flaschen Bier. Moses war heute ja richtig auf Askese. Wahrscheinlich weil er wieder mal vergeblich versuchte, einen bedeutenden Satz auf das leere Blatt Papier zu kritzeln. So lebten heutzutage Kaffeehausliteraten in Wien, wie Moses sich selbst gerne bezeichnete. Ständig auf Pump besoffen und bekifft.
Pauli bereitete sich eine Melange zu. Damit begann üblicherweise sein Arbeitstag. Genüsslich schlürfte er den Kaffee. Die Tür ging auf und zu. Laufend kamen junge Leute herein, sahen sich verstohlen um, konsumierten meist nur ein Getränk, spielten ein Runde Tischfussball und warteten.
»Wird ja richtig voll heute.«
»Freitag. Wie immer«, antwortete Edith, ohne sich vom Zählen des Geldes abhalten zu lassen. Mit flotten Griffen schloss sie ihre Arbeit ab und übergab die Kassa an Pauli. Am Freitag machte Pauli stets den meisten Umsatz. Da kamen die Jugendlichen, um sich für das Wochenende etwas Haschisch zu besorgen. Edith verabschiedete sich und ging. Sie öffnete eben die Tür, als Hannes auftauchte. Die beiden begrüßten einander im Vorbeigehen. Hannes ließ den Blick kreisen, steuerte schließlich die Theke an, schnappte sich einen Barhocker und setzte sich. Er lächelte. Auch Pauli lächelte.
»Hallo Pauli.«
»Das Übliche?«
»Sowieso.«
Moses tauchte aus seiner Versenkung hoch. Er kraulte seinen struppigen Bart, gestikulierte und trat auf Hannes zu.
»Servus, lieber Hannes, bist auch wieder einmal in der Heimat der wurmstichigen Nachtfalter und deren unheilträchtigen Geblüts.«
Moses umarmte Hannes, dieser klopfte Moses auf den Rücken.
»Geh, Pauli, stell dem Moses eines raus.«
»Das ist wahre Freundschaft, von keiner Missgunst und Kleinlichkeit getrübt.«
Pauli runzelte die Stirn, servierte aber Hannes eine Flasche Cola und Moses eine Flasche Bier.
»Dichtest wieder?«, fragte Hannes leutselig.
»Geh, der tut ja nur so, als ob er schreiben könnte.«
Moses setzte die Flasche an und machte einen kräftigen Schluck. Prustend stellte er die Flasche ab.
»Kennt ihr Peter Altenberg?«
Hannes schaute Pauli fragend an, dieser zuckte mit den Schultern.
»Wer soll das sein?«
»Ein kluger Mann der Literatur!«, rief Moses in großem Ton.
Pauli machte ein verächtliches Gesicht und eine wegwerfende Handbewegung.
»Bitte, Moses, verschon uns.«
Moses vollführte eine pathetische Geste.
»Peter Altenberg hat gesagt, der Frühling ist da, wenn im Kaffeehaus die Tür offen steht!«
Wenn Moses einen seiner berüchtigten Lachanfälle bekam, musste man einfach mitlachen, das ging gar nicht anders. Und der Lachanfall jetzt war echt nicht ohne, sogar Pauli konnte sich ein Schmunzeln nicht verbeißen, obwohl er sonst für Moses' Witze nicht viel übrig hatte.
»Du hättest dein Studium abschließen sollen, du Koffer«, beendete Pauli das Gelächter und widmete sich seiner Arbeit.
»Na, Hannes, was hältst du von einer Partie Schach?«
Hannes schätzte die Lage ein. Jede Menge Kundschaft, in einer Stunde würde er so viel verkauft haben, wie sonst an ganzen Tagen. Zum Glück hatte er genug vom Marokkaner mitgenommen. Und bald würden im Hinterzimmer des Pubs Rauchschwaden aufsteigen.
»Vielleicht später. Muss noch arbeiten.«
Moses war in jungen Jahren Vizestaatsmeister in Schach gewesen. Seine größte Heldentat, die er gerne und ausführlich erzählte. Siebzehn Jahre war er alt gewesen, als er den seit Jahren unangefochten besten Schachspieler Österreichs gehörig ins Schwitzen gebracht hatte. Der Mann hatte Moses eine große Zukunft als Schachspieler prophezeit. Niemand wusste, warum es nicht so gekommen war. Hannes hingegen hatte im Gefängnis mit dem Schachspiel begonnen. Also mit echtem Schachspiel. Die Grundlagen kannte er schon aus der Jugend, aber im Knast hatte er von einem alten Profi gelernt. Dieser Mann hatte jahrelange vom Schachspiel in dunklen Lokalen gelebt. Wenn man zusammen ein Jahr lang in einer Zelle hockte, konnte man viele Partien spielen. Hannes hatte nie besonderen Ehrgeiz entwickelt, aber er hatte sich viele Züge des alten Fuchses gemerkt. Moses und Hannes spielten drei bis vier Partien pro Woche. Pauli, selbst ein guter Spieler, schaute ihnen immer wieder ein Weilchen zu, ließ sich aber nur ganz selten zu einer Partie überreden. Moses liebte es mit Hannes zu spielen, er war der einzige im Pub, der ihn immer wieder schlagen konnte. Fünf von zehn Partien gewann Moses, drei Hannes, zwei endeten Remis. Das war der Durchschnitt.
Moses schaute plötzlich an Hannes vorbei zur Eingangstür.
»Da schau her, die Polizei, dein Freund und Helfer.«
Für eine Sekunde herrschte Totenstille im Lokal. Obwohl Moses leise gesprochen hatte, war er überall gehört worden. Für manche Worte hatten die Gäste in Paulis Pub ein sehr feines Gehör.
Wolfgang Hoffmann öffnete die Tür zu Paulis Pub und blickte dutzenden Augen entgegen. Das kannte er schon. So wurde er hier immer begrüßt. Mit ausdruckslosem Gesicht hielt er einige Sekunden den Blicken stand, dann ging er langsam auf die Theke zu. Bereitwillig wurde ihm Platz gemacht.
»Einen kleinen Braunen, bitte.«,
»Kommt sofort, kommt sogleich.«
Pauli ließ die drei Jugendlichen, die eben Getränke bestellt hatten, warten und bereitete den kleinen Braunen zu. Hoffmann zündete sich eine Zigarette an. Pauli würde sein Pub dichtmachen müssen, sollte jemals wie in anderen Ländern strenge Nichtrauchergesetze erlassen werden. Moses, neben dem Hoffmann sich auf einen Barhocker gesetzt hatte, trollte sich. Hoffmann saß somit durch einen leeren Barhocker getrennt neben Hannes.
»Bitte sehr, Herr Inspektor. Der kleine Braune.«
Hoffmann legte die Zigarette auf den Aschenbecher und nippte an der Tasse. Pauli bediente nun die drei Jugendlichen, lehnte sich danach an die Theke und musterte Hoffmann.
Hannes trank gemächlich aus der Colaflasche. Er trug zwar eine größere Menge Haschisch bei sich, aber er blieb dennoch ruhig. Er hatte mit Hoffmann noch nie zu tun gehabt, kannte ihn aber wie alle in der Szene. Das war ein unangenehmer Polizist, einer, der nie die Nerven verlor, der nicht zu Gewalt oder offenen Drohungen neigte, aber einer, den man nicht abschütteln konnte. Ein zäher Mann. Und wenn Hoffmann jetzt hinter ihm her war, hatte er ohnedies keine Chance mehr, egal, ob er jetzt nervös wurde oder nicht.
»Du schenkst doch keinen Alkohol an Jugendliche aus, Pauli? Nicht wahr?«
»Ich verlange keinen Ausweis, Herr Inspektor, aber Milchgesichter kriegen nur Milch. Ist ja klar.«
»Das ist fein.«
Aus den Augenwinkeln sah Hannes, wie der Reihe nach Leute das Lokal verließen. Das Geschäft für heute war damit schon mal versaut. Hoffmann paffte eine Weile sinnierend.
»Und hast du vielleicht den Flip gesehen?«
Pauli zuckte mit den Achseln.
»Schon ein paar Monate nicht. Die Leute kommen und gehen.«
»So ist das nun mal in der...